Rezension zu: Tomás Halík „Berühre die Wunden – Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung“ Verlag Herder, Freiburg im Breisgau; 2. Auflage 2014 ISBN 978-3-451-30739-3 19,99€
Zwei Gründe waren für mich ausschlaggebend, dieses Buch zu kaufen, zu lesen, mich auf die Gedanken des Autors einzulassen. Der eine war, dass ich dem Autor bereits in einem anderen, auch sehr tiefsinnigen und weitblickenden Buch begegnet bin, und fasziniert bin von seinen intensiven, vielschichtigen Gedanken, mit denen er sich sehr gefühlvoll eines gewählten Themas annimmt. Dabei gelingt es ihm auf eine sehr angenehme Weise, den Leser einzubinden in die von ihm dargestellten Argumentationen und Gedanken, allerdings auch in der Offenheit, dass jeder Leser sich selbst wiederfinden kann, zustimmen, aber auch ablehnen kann. Niemand wird die Meinung des Autors einfach ex cathedra übergestülpt. Bei der Art, wie Tomás Halík schreibt, hat jeder die Freiheit, sich seiner eigenen Position (neu) bewusst zu werden, sie anzunehmen, sie gegebenenfalls aber auch zu verändern. Diese Einladung zur Offenheit, mit der Aufforderung zu dem Mut, sie sich selbst zu stellen, hat der Autor in dem vorliegenden Buch zunächst im Hinblick auf sein religiöses Verständnis so ausgedrückt: „Seit Jahren bemühe ich mich darum, die unterschiedlichsten religiösen Wege mit Wertschätzung und mit Offenheit zu studieren. Ich durchschritt ein Stück der Welt und das, was ich sehen und kennenlernen konnte, erlaubt mir nicht in der einfachen Logik des „Entweder – Oder“ zu verharren…. Mir ist bewusst, dass wenn jemand etwas anderes als ich sagt und denkt, dies schlicht daran liegen kann, dass er von einem anderen Standpunkt, einer anderen Perspektive, einer anderen Tradition, oder einer anderen Erfahrung her schaut.“ (S.13)
Aus dieser Sichtweise leitet T. Halík den Gedanken ab, dass es eine universelle, allgemeingültige Wahrheit nicht geben kann, sondern, dass Wahrheit sich erst aus der Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven entwickelt. Diese den Leser mit Wertschätzung einladende Art des Schreibens war also der eine Grund, der mich nach diesem Buch greifen ließ.
Der zweite, sicher auch mit Ausschlag gebende Grund war natürlich der Titel, konkret der Untertitel: „Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung“. Dieser Untertitel spricht mich in meiner unmittelbaren, aber auch in meiner mittelbaren Betroffenheit, als jemand, der Leid erfahren und sicher auch Leid verursacht hat, direkt an. Ich suche nicht nur Trost, sondern vielleicht auch Antworten, wie ich mit erfahrenem und verursachtem Leid umgehen kann, vor allem vielleicht auch vor dem Hintergrund einer möglichen Schuldfrage.
Kann dieses Buch auf diese Herausforderung antworten? Immerhin schreibt hier einer, der dieses angesprochene Problemfeld sicher in all seinen vielen Facetten kennt. Tomás Halík ist von Hause aus Psychotherapeut, der sich 1978 in Tschechien im Untergrund aber hat zum Priester weihen lassen und inzwischen als Pastor an der akademischen Gemeinde und als Professor an der Universität in Prag tätig ist. Und es zeigt sich sehr schnell: auf der Basis seiner umfassenden Ausbildung, seines Könnens, vor allem aber auf der Basis seiner Lebenserfahrungen nimmt er in der Tat sehr umfassend und einfühlsam, ohne zu urteilen Stellung zu einem Thema, das uns auf die ein oder andere Art und Weise doch alle angeht.
In den 14 Kapiteln des Buches, die sich zwar immer wieder aufeinander beziehen, die insgesamt aber auch für sich betrachtet werden können und eher den Charakter einer Essaysammlung tragen, erarbeitet er das vielschichtige Thema von erfahrenem und verursachtem Leid sehr sensibel aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Perspektive, die ihren eigentlichen Ausgangs– und Bezugspunkt in den Leiderfahrungen der haben, die Jesus auf seinem letzten irdischen Lebens – und Leidensweg begleitet haben, die unter dem Kreuz gestanden haben und im Schatten des Kreuzes neu aufbrechen mussten in eine Zukunft hinein, die am Ende dann aber doch nicht dunkle geblieben ist.
Auf sehr sensible und auch persönliche Weise, fast möchte ich schon sagen „therapeutische Weise“ gelingt dem Autor dabei immer wieder der Brückenschlag zwischen dem Überlieferten und den Leiderfahrungen der heutigen Zeit.
So beginnt er sein Buch mit einem ganz persönlichen Erlebnis, in dem sich mittelbar und unmittelbare Leiderfahrungen nicht mehr unbedingt trennen lassen, sondern zum Ausgangspunkt dieser tiefen Überlegungen dieses Buches führen. Bei einem Besuch in der Kathedrale von Madras in Indien liest er während einer Messe das Evangelium Johannes 20, 24 – 29 – die Geschichte vom „ungläubigen“ Thomas. Und dort, am Grab dieses Heiligen, beginnt diese ihm schon lange bekannte Erzählung ganz neu zu ihm zu reden. Im Schmelztiegel der Völker und Kulturen nimmt er neu die Wunden dieser Welt, auch die Wunden der Kirche (hier würde ich durchaus auch die nicht – katholischen Kirchen mit einschließen) wahr, die er als die heute noch sichtbaren Wunden Gottes in Jesus Christus versteht. Zu ihnen gesellen sich all jene Verwundungen, die dem einzelnen Individuum zugefügt werden, die jeder Einzelne sich selbst zufügt, in denen er aber immer wieder die Wunden Gottes selbst erkennt.
Nicht voreilige, allgemeingültige oder gar billige Lösungen im Angesicht dieser Wunden und Verwundungen anzubieten ist das Anliegen dieses Buches. Das vorrangige Ziel dieses sehr lesenswerten Buches wird auf der Rückseite des Buchumschlags mit diesen Worten zusammen gefasst:
„Zum christlichen Glauben gehört der Mut, die Wunden unserer Welt wahrzunehmen und sie mit dem Glauben zu berühren. Denn wir begegnen Gott überall dort, wo die Menschen leiden. Und auch wenn jemand Christus nicht im traditionellen kirchlichen Umfeld finden kann, ist für ihn noch immer die Möglichkeit gegeben, ihm in den offenen Wunden unserer Welt zu begegnen.“
Hingewiesen sei an dieser Stelle vor allem auch auf einen Abschnitt auf den Seiten 14 und 15 in dem Buch, die zu zitieren den Rahmen dieses Textes sprengen würden, in dem aber der Autor diesen Bezug zu den Wunden Christi, zu den Wunden Gottes sehr persönlich ausdrückt, auch, indem er den Abschnitt mit den Worten beschließt: „Mein Gott ist der verwundete Gott“. Doch Tomás Halík bleibt nicht in der Beschreibung des Verwundet – Seins stecken, sondern entwickelt durchaus neben dem Antrieb zum Handeln im Angesicht der Verwundungen Gottes, der Verwundungen der Welt, der Verwundungen eines jeden Einzelnen von uns, eine Perspektive, die über den Moment des Leids, der Schwachheit und des Zweifels hinaus weist. Jeder einzelne aber ist dabei gefordert, sich diese Perspektive auf dem Grund seiner Erfahrungen, aber im Eingebettetsein in die Gemeinschaft der Menschen insbesondere in die Gemeinschaft der Kirche zu suchen und für sich als wahr und tragend anzunehmen.
Tomás Halík hat dieses Buch ursprünglich 2008 in der Einsiedelei eines kontemplativen Klosters im Rheinland geschrieben und auf Reisen nach Jerusalem und Auschwitz beendet.
Wer sich auf diesen kleinen Hinweis am Beginn des Buches einlässt, kann gerade heute auch ahnen, wie wichtig Zeiten und Orte des Rückzugs sind, um zu dem zu finden, was wirklich wichtig ist, als wer wir gemeint sind. Activitas und Contemplatio kommen auf ganz andere Weise bei diesem Gedanken noch einmal zum Ausdruck. Und ich bin dankbar dafür, dass hier einer, der für mich zu den Großen, zu den Authentischen gehört, uns zeigt, dass diese Mischung auch heute noch einen Weg in eine neue Mystik eröffnet.