Zu: Folker Siegert: LUTHER und das Recht, mit einem Beitrag von Frieder Lötzsch, Studienreihe Luther 3, Hrsg. von Dieter Beese, Günter Brakelmann, Arno Lohmann, Luther Verlag Bielefeld 2014, ISBN: 978-3-7858-0651-7, 202 Seiten, Preis: 12,95 Euro
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass dieses Buch eine Sammlung unterschiedlicher Beiträge ist. Liest man es vom Ende her, so findet man zuletzt auf zwei Seiten eine „Erklärung der Evangelischen Lutherischen Kirche in Amerika gegenüber der jüdischen Gemeinschaft“, die in dem Satz gipfelt: „Im Einverständnis mit dem Lutherischen Weltbund missbilligen wir insbesondere die Aneignung der Worte Luthers seitens moderner Antisemiten zur Verbreitung des Hasses gegenüber dem Judentum bzw. jüdischer Menschen von heute.“ (S. 200)
Von hier aus gesehen wird deutlich, dass das Anliegen beider Autoren auch als (ehemalige) Mitarbeiter des Institutum Judaicum an der Uni in Münster darin besteht, einen angemessenen Umgang mit den Schmähschriften Luthers gegen die Juden (seiner Zeit?) zu finden. Der bekannte Weg mit „Luther gegen Luther“ wird hier empfohlen. Allerdings nicht dadurch, dass die judenfreundlichen Frühschriften Luthers in die Waagschale gegen die späten Schmähschriften geworfen werden, sondern dem Titel „Luther und das Recht“ entsprechend, indem Beispiele aus der Rechtsgeschichte Luthers und des Luthertums allgemein als Gegengewicht gegen zeitbedingte Aussagen gesehen werden. Folglich behandelt der Artikel von Folker Siegert, dem man den Vortragsstil noch deutlich anmerkt, Fragen des Rechts ausgehend vom römischen Recht, über das Naturrecht im lutherischen Sinn, bis hin zum Verständnis der Tora (S. 7 – 71). Nicht zufällig in der Mitte des Bandes findet sich die Quellensammlung mit dem ursprünglichen Titel „Luther und das Recht“ von Wolfgang Beyer aus dem Jahr 1935, sprachlich überarbeitet und mit Anmerkungen versehen (S. 75 – 158). Während der Artikel von Folker Siegert erst am Ende zum Thema der Behandlung antijudaistischer Texte überleitet, ist der abschließende Text von Frieder Lötzsch diesem Thema gänzlich gewidmet: „Luthers späte Judenschriften: ein Politikum mit Fehlern“ (S. 159 – 198).
Folker Siegert erklärt Luthers Rechtsverständnis von der Zwei-Reiche-Lehre her, die aber so verstanden wird, dass eben Gottes Wirken in beiden Bereichen Glaube und Welt geschieht. Gottes Wirken wird dabei nicht als Herrschaft verstanden, sondern im schöpfungstheologischen und naturrechtlichen Sinn als Ermöglichung von Freiheit. Dabei wird schon bei Luther der Begriff Toleranz aus dem Lateinischen aufgegriffen. In der Welt als Christ oder Christin zu leben, heißt: „Freiheit, Initiative und Selbstbestimmung“ (S. 24) zu praktizieren. Verurteilt wird hingegen der „Barthianismus“, für den alle Theologie letztlich zur Metapher wird (vgl. S. 28). Dass sich auch mit der lutherischen Ethik Widerstand begründen lässt, zeigt er später am norwegischen Beispiel.
Das Zitat aus Luthers „de fide“ (1535) wird aufgegriffen und aktualisiert: „Wir werden neue Dekaloge machen.“ Die Naturrechtslehre Luthers lässt sich gegen eine übertriebene negative Anthropologie, z. B. im Pietismus verwenden um, wie der ChristianWolff aus Halle, zum Vernunftgebrauch im sinn der Aufklärung aufzurufen (vgl. S. 46). Da gerade im Luthertum der Begriff der Menschenwürde aufkam, z. B. bei Samuel Pufendorf (dignita hominis), muss dieser bezüglich der Frage einer Theologie nach Auschwitz durchgehalten werden (vgl. S. 54).
Dieser kurze Überblick zeigt, dass die Referenzen keinesfalls nur aus Zitaten Martin Luthers selbst bestehen, sondern dass die gesamte Wirkungsgeschichte des Luthertums bis hin zur Gegenwart einbezogen wird. Martin Luther ist somit die Bezugsgestalt der lutherischen Kirche, die aber nicht isoliert, sondern im Kontext der Wirkungsgeschichte gesehen wird.
Dies gilt entsprechend auch für die Debatte um antisemitisch ausgenutzte Zitate Luthers. Im Verständnis des Begriffes Antisemitismus möchte Folker Siegert diesen als rassistischen Biologismus verstanden wissen, den Luther selbst trotz seiner antijüdischen Tendenzen noch nicht gekannt hat. Diese Begriffsklärung verschiebt allerdings die Frage der Aggression gegen die Anderen auf eine Begriffsdebatte und wirkt ein wenig, als würde man der Kernfrage nach Luthers Beteiligung am Antisemitismus ausweichen. Immerhin ist doch schon zu Beginn der Rezension auf den Schlussteil hingewiesen worden, in dem klar festgestellt wird, dass antijüdische Aussagen Luthers in den Antisemitismus übernommen und instrumentalisiert worden sind. Luther selbst ist antijüdisch gewesen, hat aber Formulierungen gebraucht, die zum Antisemitismus zu rechnen sind.
Diese konkreten Auswirkungen werden im Artikel von Frieder Lötzsch klar benannt. Als wären nur die Aufforderungen Luthers in die Tat umzusetzen, gibt es zu folgenden Handlungen der Nationalsozialisten passende Lutherzitate: Synagogen wurden angezündet, Jüdinnen und Juden enteignet und von ihren Wohnorten vertreiben. Schon im Luthertum des 19. Jahrhunderts tauchten demnach antisemitische Forderungen auf, mit dem Wunsch, jüdischen Menschen vom öffentlichen Leben zu separieren. Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners, griff solche lutherischen Gedanken gerne auf und formte sie zu der antisemitischen Ideologie, die dann mit den Nationalsozialisten in die Tat umgesetzt wurde.
Doch auch Bestrebungen, diesem Antisemitismus entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen, ließen sich aus dem Luthertum begründen, wie am Beispiel von Bischof Eivind Berggrav (Norwegen) gezeigt wird. Man kann sogar sagen, dass dem alten Wort „Heiligung“ als Antwort auf „Rechtfertigung“ nun das Wort Zivilcourage entspreche. Berggrav schrieb u. a.: „Es kann durchaus sein, dass Kampf vonnöten ist, dass es unsere ‚Pflicht [ist] ungehorsam zu sein’, sonst werden wir zu ‚Mördern unseres eigenen Rechts’ (S. 189f, Berggrav zitiert nach Frieder Lötzsch).
Frieder Lötzsch schließt seinen Artikel mit Erinnerungen an die „Deklaration der Menschenpflichten“ aus dem Jahr 1997 (u. a. Helmut Schmidt, Michail Gorbatschow, Shimon Perez). Respekt vor anderen ist schon nach Berggrav eine gottgegebene Pflicht. Luthers theologische Impulse führen also hin zu einer Theologie der Menschenwürde, der Toleranz und sogar des politischen Widerstands. Rechter Glaube setzt die Vernunft nicht außer Kraft, sondern ermöglicht den Vernunftgebrauch. Respekt vor Gott und Pflicht zur mitmenschlichen Begegnung gehen zusammen.
Das Buch „Luther und das Recht“ ist ein Aufruf zur Toleranz und zeigt, dass von dieser Mitte her die Worte Luthers zu beurteilen sind. Dass die Kritik an Luther auch Selbstkritik einschließt, wird deutlich gezeigt. Aus Rechtfertigung folgt Heiligung, die als Zivilcourage verstanden wird. Dass zu dieser Erkenntnis einige argumentative und editorische Umwege oder Nebenwege begangen werden, liegt wohl daran, dass die Vorgabe der Schriftenreihe darin besteht, immer auf Luther selbst Bezug nehmen zu sollen, was ja einem Luthergedenken auch angemessen ist. Es bleibt noch Zeit bis 2017 um manches noch klarer zu sagen, wie es (s.o.), in der Lutherischen Kirche in Amerika schon geschehen ist (vgl. S. 19f).