Zu: Peter Dabrock, Renate Augstein, Cornelia Helfferich, Stefanie Schardien, Uwe Sielert: Unverschämt – schön, Sexualethik: evangelisch und lebensnah. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, ISBN: 978-3-579-08222-6, Preis: 14,99 Euro
Sexualethik ist in der kirchlichen Debatte, auch in der ökumenischen und im interreligiösen Dialog ein gemiedenes Thema, da es wenig Konsens verspricht. Was die Vorkommnisse sexuellen Missbrauchs betrifft, hat schließlich jeder vor seiner eignen Haustür zu kehren. Wo allerdings Positionen der Sexualethik überdeutlich zu Bekenntnispositionen stilisiert werden, antwortet diese Schrift, die trotz allem das kirchenleitende Konsensprinzip verlässt: „Dazu ist es notwendig, die Beurteilung und den Umgang mit Sexualität nicht zu einer Frage des Heils zu überhöhen.“ (S. 171) Der Fettdruck entspricht dem Druckbild des Buches, in dem immer mal einige Kernsätze fett markiert werden. Das dementsprechend die Erinnerung an die Liebe Gottes folgt, und die Sexualität als dessen Geschenk bezeichnet wird, ist da schlicht konsequent.
Der Aufbau des Buches besteht aus einer theologischen Besinnung, der Darstellung von Sexualität als Teil der Lebenswirklichkeit und Andeutung kirchlicher Handlungsmöglichkeiten in den Handlungsfeldern der Kirche. Die theologische Besinnung teilt sich wiederum in einen hermeneutisch-biblischen Teil und einen Teil, der dem Dialog mit den Humanwissenschaften gewidmet ist. Letztere Perspektive ist in der Tat für den Bereich der Handlungsfelder wichtig, da es gerade dort ständig auf Humanwissenschaften wie Pädagogik, Psychologie und Medizin ankommt, um nur einige herauszunehmen. Damit verortet sich die evangelische Ethik in der Welt und nicht daneben. Das wird auch im Umgang mit den Bibeltexten deutlich, die nach den Stichworten „Sperriges“, „Erstaunliches“ und „Perspektivreiches“ unterschieden und so differenziert gewichtet werden. Der Umgang mit dem Bibeltext steht damit exemplarisch für die Lektüre der Bibel allgemein: „Die irritierend wirkende Pluralität ihrer Bilder und Aussagen zu Lebensformen und Sexualität kann dazu verleiten, nur einzelne isoliert herauszugreifen und kontextlos als gültig zu erklären.“ (S. 20). Das hießt anders gesagt: Eine Lektüre der Bibel ohne Berücksichtigung des Kontextes ist nicht möglich, da sie in Gefahr steht, die eigenen Wünsche und Vorurteile dort hinein zu projizieren. Dies wird schnell daran deutlich, dass dann gern bestimmte Aussagen als unumstößlich gelten, während andere als irrelevant ausgeblendet werden.
Die Fragen der Sexualität lassen sich anders als unter dem Gesichtspunkt der „Reproduktion von Familien- und Stammeszugehörigkeiten“ betrachten, und zwar dann, wenn sie unter der Bindung von „Sexualität und emotionaler Liebe“ gesehen werden (vgl. S. 27). Von daher wäre dann auch ein anderer Blick auf Homosexualität möglich als der, der dem Wortlaut der Bibeltexte zu entnehmen wäre. Man muss dabei auch immer wahrnehmen, dass die Bibel überdies Sexualpraktiken schildert, die heute aus selbstverständlichen Gründe als inakzeptabel gelten. Da Homosexualität der Fortpflanzung nicht diente, galt sie per se als Tabu. Das kann aber unter dem Primat von Liebe und Beziehung ganz anders gesehen werden. Ein leibfeindliches Verständnis von Sexualität sei ohnehin nicht biblisch, sondern habe sich unter dem Einfluss des Neuplatonismus entwickelt, heißt es: „Dessen kritische Sicht des Körpers als Gefängnis der Seele hat zur Trennung zwischen Körper und Seele mit der Unterordnung der leiblichen Dimension des Lebens und die von Geist und Spiritualität geführt. Diese Vorstellung hat in der Kirchengeschichte über lange Zeit das Thema Sexualität einseitig negativ geprägt.“ (S. 34). Immerhin hat es die Kirche geschafft, dass selbst im vulgären Sprachgebrauch Sexualität mit Sünde gleichgesetzt wird („Kann denn Liebe Sünde sein“, d. Rez.). Durch den positiven Blick auf die Sexualität als Lebenswirklichkeit wird die Tradition der doppelten Moral weniger angesprochen als die in der letzten Zeit immer häufigere Offenlegung von sexuellem Missbauch unter dem Deckmantel kirchlicher Lebenspraxis. Dass die „sexualisierte Gewalt“ im Bereich kirchlichen Lebens aufzudecken war, spricht schon ganz allgemein dafür, dass die Stellung der Kirche zur Sexualität zu überdenken ist und war.
Ergänzend zu dieser kurzen Rezension wären allerdings noch Gesichtspunkte der Entstehung und der Würdigung dieses Themas hinzuzufügen. Es heißt, dass der vorliegende Text ursprünglich als Denkschrift gedacht war, hierzu aber nicht mehrheitsfähig war. (Siehe u. a. http://www.deutschlandfunk.de/evangelische-sexualethik-warum-aus-einer-ekd-denkschrift.886.de.html?dram:article_id=328924). Während es hier heißt, die Diskussion brauche (noch) Zeit, wäre andererseits zu fragen, wie lange denn noch und auf wen oder was denn da noch gewartet werden soll. Liest man hingegen eine Rezension zur letzten Denkschrift zur Sexualethik aus dem Jahr 1971 wird man unschwer feststellen, dass sich seit den letzten Jahrzehnten doch einiges bewegt hat, auch wenn die EKD jetzt nicht dazu in der Lage war, den vorliegenden Text mit dem Prädikat „Denkschrift“ herauszugeben (http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/43144316).