Zu: Wilhelm Morgner und die Anfänge der abstrakten Kunst, Herausgegeben von Klaus Kösters, mit einer Kurzbiographie Wilhelm Morgners von Walter Weihs, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2016, ISBN: 9783775740975, 191 Seiten, 204 Abbildungen, Preis: 39,80 Euro
„Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neugeboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein und der Schmerz der Gebärerin.“ Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Unter den zahlreichen Abbildungen im zu besprechenden Buch über Wilhelm Morgner sind ca. 35 Bilder, die die Biographie illustrieren, die der langjährige Betreuer des Soester Morgner Archiv Walter Weihs diesem Band hinzugefügt hat. Die meisten dieser biografischen Bilder und Informationen sind auch schon in anderen Publikationen enthalten und auch im Internet greifbar (Homepage: wilhelm-morgner-preis.de). Hinzugefügt wurden noch einige Bilder des Kriegsschauplatzes in Belgien, wo er am 16. August 1917 den Tod fand. Wilhelm Morgner war im Jahr 1891 geboren und starb nach nur 26 Lebensjahren im Ersten Weltkrieg. Da er schon 1913 zur Wehrmacht kam, um dann 1914 zum Kriegseinsatz zu bleiben, waren ihm eigentlich nur vier künstlerisch aktive Schaffensjahre gegeben.
Die Bilder aus dem Jahr 1909 sind die ersten Morgners in diesem Bildband. Die Abbildungen des Buches stammen nicht nur von Wilhelm Morgner selbst, sondern auch von zeitgenössischen Künstlern wie: Vincent van Gogh, Ernst Ludwig Kirchner, Jean Francois Millet, Paul Signac, Christian Rohlfs und anderen. Die Beispiele des französischen Pointillismus etwa zeigen dessen Einfluss auf seine expressionistische Malweise, die überwiegend durch die Soester Landschaft und die bäuerliche Kultur inspiriert war.
In diesem ausführlich kommentierten Bildband werden über die künstlerischen Einflüsse hinaus auch die kulturellen und weltanschaulichen genannt, wozu auch Friedrich Nietzsche zählt (1844 – 1900). Wenn dessen Alter-Ego Zarathustra mahnt, der Erde treu zu bleiben und den Menschen aus sich selbst heraus zu erklären, lassen sich die Malweisen des Expressionismus auf einmal als völlig selbstverständlich und naheliegend interpretieren. Hier werden immer wieder Texte aus dem Briefwechsel Morgners mit seinem Lehrer und Tutor Georg Tappert zitiert, die solche Einflüsse illustrieren. Dazu schreibt Klaus Kösters: „Das eigene schöpferische Ich äußert sich im Medium der Kunst.“ (S. 42)
Der hier besprochene Band macht es ersichtlich, dass Wilhelm Morgner nicht bei der puren Abbildung der Soester Bördelandschaft bleibt und so zum modernen Heimatmaler wird, sondern dass er von der Landschaft den Weg zur abstrakten Kunst findet. Dabei ist die Abstrahierung schon in der bisherigen Darstellung angelegt. Es ist also kein Wunder, dass Bilder von Wilhelm Morgner bei der Ausstellung der „Neuen Sezession“ 1911 in Berlin gezeigt werden.
Dass Wilhelm Morgner dabei auch auf die religiöse Kunst zurückgeht, ist schon länger bekannt und wird hier mit weiteren Beispielen aus der Soester Hohnekirche belegt, die sich im modernen Bild „Mann im Frack“ wiederfindet. Zuletzt werden hier Bezüge auf Jesus Christus deutlich, die sich ebenfalls im Briefwechsel mit Georg Tappert wiederfinden. Unklar ist, ob sich der umgedeutete Christusbezug auch auf Nietzsche zurückführen lässt.
Ob hingegen Morgner über den Einfluss Wassily Kandinskys zu Recht auch mit Rudolf Steiner parallel gesehen werden kann, geht trotz einige Gedanken mystischer oder religiöser Prägung aus den Zitaten Morgners nicht hervor. Während der Einfluss Nietzsches evident ist, wird Inspiration durch Werke Rudolf Steiners nicht belegt. Klaus Kösters formuliert zu Recht: „Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob Morgner die programmatischen Werke der. Theosophie und Anthroposophie selbst gelesen hat.“ (S. 99)
Klar wird durch die Schilderung des Bildbandes aber auch auf jeden Fall, dass die Entwicklung Wilhelm Morgners zur modernen Kunst nicht nur den Einflüssen und Inspirationen anderer Kunstvorbilder verdankt, sondern auch einer geistigen Reflexion, die nicht nur in der Luft lag, sondern auch öffentlich verbreitet war.
Es ist sicherlich ein Verdienst des Buches am Beispiel der Theosophie den Weg zu einem Kunstverständnis aus der Weltanschauung heraus zu konstatieren, die offen ist für die Aufnahme religiöser Motive, die aber individuell und kreativ umgebildet werden.
Schon im Jahr 1913 wurde der junge Maler zur Wehrmacht einberufen. Darauf folgte der Kriegseinsatz an unterschiedlichen Regionen Europas, wo Wilhelm Morgner zwar auch als Illustrator tätig war, aber nicht mehr so wie zuvor ergiebig künstlerisch wirken konnte. Die Kreuzigungsdarstellungen finden sich auch in der Kriegszeit. Interessant vor dem Hintergrund des Krieges ist ein Bild über den Kampf, der hier symbolisch als sinnloses Hauen und Stechen gezeigt wird.
Das Leben und Wirken einer Wegbereiters der modernen Kunst endete abrupt im Massenkriegsschauplatz in Flandern vor 100 Jahren. Klaus Kösters resümiert: „Die Bilder enthüllen eine verborgene Welt, in der komplementäre und nicht komplementäre Farbkontraste, warme und kalte Fragen, schwebende und aufsteigende Formen von einem Universum künden, dass getreu den okkulten Lehren in der Vielfalt gegensätzlicher Kräfte seine Einheit findet.“ (S. 111)