Predigt am 5.Sonntag nach Trinitatis 2017 in der Markuskirche Herzogenrath
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„Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin.“ (1.Kor15,10a; Basis Bibel)
Liebe Gemeinde,
Auf einer Fahrt von Maastricht nach Wetzlar bei Gießen fing meine BMW C1, ein überdachter Motorroller, an zu stottern. Mir schwante nichts Gutes. Nach einem Überholvorgang auf der Autobahn – noch in den Niederlanden – setzte der Motor vom einen zum anderen Moment aus. Ich konnte nur noch auf der Standspur ausrollen. Der Roller sprang nicht mehr an, er tat keinen Mucks mehr. Ich ahnte, dass es etwas mit dem Motoröl zu tun hatte, war mir aber nicht sicher. Zur nächsten Ausfahrt waren es 1500m, jedoch war keine Tankstelle oder Ähnliches in Sicht. Ich schob den Roller und merkte schnell, dass er zu schwer war, um ihn mehrere Kilometer zu schieben. Was sollte ich tun?
Wider besseres Wissen streckte ich meinen Daumen raus, um ein Auto anzuhalten – vielleicht könnte das Auto mich ja zur nächsten Tankstelle fahren, um Öl zu besorgen. Nach einer Viertelstunde blinkte ein LKW und hielt auf dem Standstreifen. Ich rannte dem aussteigenden Fahrer, der mir zurief: „Was ist los?“, entgegen und erzählte ihm die Lage. Wegen des Öls winkte er ab, bot mir aber an, den „Bock“ aufzuladen. Er müsste nach Siegen, bis dahin könnte ich mitkommen. Ich war perplex und gemeinsam hievten wir die 185 kg schwere Maschine über eine Bohle in den leeren LKW.
Jedes Mal ist es ein Gefühlt wie reine Gnade, beim Trampen mitgenommen zu werden. Diese Erfahrung kannte ich schon als leidenschaftlicher Tramper in der Studienzeit, jetzt aber verschlug es mir die Sprache. Ich hatte nie und nimmer damit gerechnet, dass mich ein LKW samt meinem Roller mitnehmen würde.
„Sie sind ein Engel!“ sagte ich zu dem kräftigen Mann um die fünfzig. „Ich bin kein Engel“ entgegnete er, „ich mach nur, was mein Vater uns Jungs beigebracht hat. Der war auch LKW-Fahrer wie seine sieben Jungs und er hat immer gesagt: Wenn jemand deine Hilfe braucht, halt an, frag nach und schau, ob du helfen kannst. Das mache ich und ich bin damit nicht schlecht gefahren.“ „Aber sie stehen doch gewaltig unter Druck, dass sie rechtzeitig von A nach B kommen?!“ „Es gibt Wichtigeres im Leben als sich für den Chef krumm zu machen. Wenn er mich deshalb feuert, soll er machen. Dann suche ich mir ´ne andere Arbeit.“
Diesen rauen, leicht übertriebenen Ton, dieses „Ich – gegen die ganze Welt“, diese Sprache kannte ich. Sie war nicht meine und dennoch imponierte mir die Kraft, die darin war. Mein „Retter“ war einer aus dem Ruhrgebiet, wie ich auch. Zwischendurch funkte seine Frau ihn an, mit ihr sprach er im selben Ton und die beiden verstanden sich, dachte ich bei mir, gerade weil es laut und derb hin- und herging.
Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich jetzt mit meinem Roller Richtung Heimat unterwegs war. Das ist gelebte Nächstenliebe, ohne dick aufzutragen. Das ist Gnade. Mir wird geholfen. Ich bin auf Hilfe angewiesen und jemand Wildfremdes hilft mir. Ich, der ich gerade dabei bin meine Frau zu verlassen und meine Geliebte in Maastricht besucht habe, ich Trottel, der ich kein Öl nachgegossen hatte, mir wird geholfen.
Liebe Gemeinde,
ich war glücklich und beschämt zugleich. Es war ein schönes Gefühl, dass mir Hilfe widerfuhr und dass ich einem Menschen begegnet war, dem ich sonst nie begegnet wäre.
Als er hörte, was ich von Beruf bin, schwieg er lange, bis er auf ein Bild zeigte. Es war mir schon vorher aufgefallen. Es zeigte einen jungen Mann um die zwanzig Jahre. „Das ist mein Sohn“, sagte er „dieser Idiot musste in der Kurve überholen und ich habe immer gesagt, rase nicht so schnell, selbst schuld, jetzt ist er tot…“ In seinen Worten steckte noch der Schmerz über den Verlust seines Sohnes. Das war seine Grenze, seine Ohnmacht, ihn nicht abgehalten zu haben, ihn nicht mehr retten zu können. Aus vorbei. Tod. Leere. Ein schreckliches Widerfahrnis.
Was sagte ich darauf? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass es gut war, dass er es ausgesprochen hatte. Jetzt war der Sohn unter uns, ich teilte seine Unruhe mit ihm und wir waren uns nah, näher als wir uns je im normalen Leben gekommen wären.
Ist das nicht auch Gnade, sich nahe kommen, für einen Moment gemeinsam Schweres teilen und tragen, manches unausgesprochen zu lassen und dennoch zu spüren: Gott ist jetzt da?
Jetzt hatte ich mich vergessen und war ganz bei ihm und seiner Geschichte. Von sich selbst abzusehen kann auch Gnade sein, weil gerade dadurch Erlebnisse geteilt werden und die Zuwendung zum Anderen den anderen bestärkt, sein Erlebtes zu deuten, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben oder zumindest dem eigenen Erleben eine Sprache zu geben.
Von der Gnade, aufgelesen zu werden, von der Gnade, zur Sprache zu kommen mit dem, was mich bewegt und ausmacht, davon habe ich erzählt.
Zeigt dieses kleine, wundersame Erlebnis nicht, dass wir aufeinander angewiesen sind, dass es keinen und keine gibt, der oder die aus sich selbst heraus das Leben allein meistert?
Ist es nicht gerade unser Abgeschlossensein, unser Selbstverständnis, uns in jeder Notlage selbst helfen zu müssen, dass solche Erfahrungen, wie sich etwas unverdient fügt, gar nicht erst einstellen? Wir brauchen mehr Mut uns den anderen zuzumuten mit unseren Gefühlen, Fragen und Sehnsüchten. Und wenn wir uns in der einen oder anderen Situation öffnen, werden wir beschenkt werden, und auch die anderen werden uns ihre Bedürftigkeit zeigen. Sich zu öffnen ist auch Gnade, ebenso, wenn eine echte Begegnung geschenkt wird: ein Geben und Nehmen.
All das ist mir in den Sinn gekommen, als ich das Predigtwort des Apostels Paulus für heute las. Wenn ich mich in Paulus hineinversetze, sehe ich, wie sehr er seine Lebenswirklichkeit, seine Berufung zum Apostel, seine Mühen, ja selbst sein Scheitern und seine Schwächen, seine ganzen Identitätsfragen zu Gott hin öffnet (Gott anheim stellt) und ihm als Widerhall selbst Gnade widerfährt. Für Paulus scheint es selbstverständlich: Ich bin auf Gott angewiesen. Aber es war für ihn ein langer Weg bis zu dieser Erkenntnis. Hatte er nicht früher selbstgerecht die ersten Christinnen und Christen verfolgt? Verfolgung und Diskriminierung anderer geht oft mit einem hermetisch abgeschlossenen Welt- und Gottesbild einher. Dann aber widerfuhr ihm ein Erlebnis – eine Christusbegegnung –, das ihn veränderte, das ihn öffnete für eine neue Wahrnehmung Gottes und seines Lebens. Deshalb schreibt er den Korinthern und uns heute: „Ich bin das, was ich bin, durch die Gnade Gottes“; selbst das, was ich mache oder was ich erleide, geschieht durch Gottes Gnade. Paulus macht seine Identität an Gott fest, genauer gesagt, an Gottes Liebe. Sie widerfährt ihm in allem.
Auch ich habe es erfahren: Selbst dort, wo ich schuldig wurde, wie in der Trennungsgeschichte mit meiner Frau und dem Auseinanderbrechen der Familie, überlässt mich Gott nicht mir selbst, sondern begegnet mir gnädig im menschlichen Du und in der konkreten Hilfe.
„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Wenn wir uns für diese Sichtweise öffnen, werden wir Gottes Gnade erfahren und gnädig sein: zu uns selbst, zu anderen und zu allem, was uns begegnet in dieser Welt. Diese Gnade ist nicht beliebig und hat auch nichts mit Laisser-faire zu tun; sie ist eine streitbare Gnade für die Menschen und für die gesamte Schöpfung, sie ist voller Energie, weil sie von der Liebe Gottes gespeist wird.
Wir sind auf Gott angewiesen und verweisen auf ihn. Lasst uns so in die neue Woche gehen.
Amen