38. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Nürnberg 7.-11. Juni 2023, Bericht von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Mein Kirchentag

Eröffnungs- und Abschlussgottesdienst

Der Hauptmarkt ist voller Menschen. Alle strömen auf den Platz, um den Eröffnungsgottesdienst zu feiern. Die Pfadfindergruppen haben große Mühe, Fluchtwege freizuhalten und die Besuchermassen einigermaßen zu lenken. Aus den Lautsprechern tönt das Vorprogramm. Endlich beginnt der Gottesdienst. Nach gelungenem Posaunenauftakt wird geklatscht. Immer wieder brandet spontan Applaus auf. Der bayerische Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm hält eine solide Predigt.

Seine Worte tun keinem weh, ganz anders die leidenschaftliche Predigt von Quinton Caesar aus dem ostfriesischen Wiesmoor im Abschlussgottesdienst. Quinton Caeser will aufrütteln, konfrontiert die evangelische Mittelklasse mit ihrer strukturellen Ausgrenzung und Ausblendung von Minderheiten in Kirche und Gesellschaft. Wenn ihr schon zu Jesus gehören wollt, dann klebt an der Liebe Jesu und behandelt eure Schwestern und Brüder so, wie Jesus sie auch behandelt hätte. Dass er den Predigttext aus Kohelet 3,1: „Alles hat seine Zeit“ als negative Folie benutzt, um auf das Motto des Kirchentags umzuschwenken: „Jetzt ist die Zeit“ ist unglücklich, da das Alte Testament hier einmal mehr von einer neutestamentlichen Aussage überboten wird.

Mit der Parteinahme für die Diskriminierten hält er der versammelten Gemeinde am Hauptmarkt und an den Bildschirmen einen Spiegel vor. Kein Wunder, dass der Applaus nur vereinzelt aufbrandet und er den Nerv der Mehrheit nicht trifft. Dazu trägt sein aphoristischer Predigtstil und erst recht seine steilen Aussagen zu wie: „Ich belüge euch nicht.“ „Wir sind die letzte Generation.“ „Gott ist queer.“ Diese Sätze kommen für mich eher als Kotau vor dem Zeitgeist daher als eine evangelische Zeitansage.

Auffallend positiv für den Eröffnungsgottesdienst und den Abschlussgottesdienst auf dem Hauptmarkt waren für mich die liturgische und die musikalische Gestaltung, auch wenn der Windsbacher Knabenchor im Abschlussgottesdienst mit seiner steifen Kleiderordnung nicht meine Kragenweite ist. Nicht mehr der Sacro-Pop der 70er Jahre oder das Neue Geistliche Lied dominierten, sondern Teile der Messe in d (2016) des Komponisten und engagierten Dirigenten auf der Bühne Andreas Mücksch aus Halle/Saale. Die Sinfonische Rockmesse in d würde ich eher als moderne Klassik mit Crossover-Elementen beschreiben. So viel lateinische liturgische Gesänge ist ein Novum für den Evangelischen Kirchentag und sicherlich für die zentralen evangelischen Gottesdienste gewagt. „Bin ich hier in eine katholische Messe geraten oder was?“ Ich selbst als Klassikliebhaber war besonders von der Eröffnungsliturgie beeindruckt.

Foto: Joachim Leberecht

Zwei Bibelarbeiten

Schon seit einigen Kirchentagen besuche ich vorwiegend Bibelarbeiten auf dem Weg. Dabei sitzen die Teilnehmenden nicht auf Kirchentagshockern oder in Kirchenbänken, sondern sie gehen Stationen ab, wo die biblische Geschichte inszeniert wird. Hier kommt es besonders auf die Darstellung der biblischen Erzählung an. Die erste Bibelarbeit fand rund um St. Michael in Fürth statt und wurde von der Ortspfarrerin Dr. Stefanie Schadien (Sprecherin des Worts zum Sonntag) und ihrem Mann, Theologieprofessor Dr. Peter Dabrock (ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats), sowie einem Team junger Menschen vorbereitet. Sie war theologisch, sprachlich und darstellerisch gut durchdacht und erweckte die alte Geschichte von der Hochzeit zu Kana überraschend neu zum Leben.

Der Clou war, dass die Geschichte von ihrem Ende – dem rauschenden Hochzeitsfest – her erzählt wurde. Das Wunder bekam niemand mit – außer den Dienerinnen, die das Wasser schöpften. Folgerichtig trat Jesus auch nicht auf. Die Erzählweise und die theologische Pointe boten eine Menge Bezüge zur Gegenwart und zum Kirchentagsmotto: Jetzt ist die Zeit – ohne dass es aufgesetzt wirkte. Ganz anders die zweite Bibelarbeit auf dem Weg. Sie war zwar von Lehrenden und Studierenden der Religionspädagogik vorbereitet, aber in Durchführung und Konzeption unterkomplex. Ein roter Faden war nicht zu erkennen, eine theologische Zuspitzung oder eine spirituelle Botschaft auch nicht. Schade!

Foto Joachim Leberecht

Spirituelles Zentrum

Mitten in der Altstadt lag das Spirituelle Zentrum des Kirchentags, das von  Kommunitäten und vielen Workshopleiterinnen bespielt wurde. Der Komplex mit Kirche und einem weitläufigen Tagungsszentrum des Caritas-Pirckheimer-Haus, einschließlich einer attraktiven Cafeteria, bildeten eine Oase für Geist, Körper und Seele. Die Einführung ins Körpergebet nach Helge Burggrabe von Pfarrerin Simone Rasch aus Herford bot reichlich Gelegenheit zu Burggrabes Musik Gebetsgebärden auszuprobieren. In der Kirche St. Klarakonnten sich Menschen persönlich mit Handauflegung segnen lassen. Das Angebot Schweigend um die Stadtmauer wurde von einer erfahrenen Pilgerleiterin der Nürnberger Pilgerkirche St. Jakob durchgeführt.

Es war eine eindrückliche Erfahrung, sechs Kilometer Fußweg an der nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebauten Stadtmauer mit einer Gruppe von 37 Schweigenden entlangzugehen. Der Pilgerweg wurde mit kurzen Impulsen zur Stille gestaltet. Unterwegs sah ich ein kleines Auto mit der Aufschrift: Stadtmission Nürnberg und ich musste daran denken, dass das schweigende Umrunden der Stadtmauer auch eine Mission ist. Einmal nicht laut mit Posaunen wie um Jericho, sondern leise und hellwach für alles, was einem begegnet.

Kulturkirche

Die Kulturkirche hingegen war ein Flop. Fünfzig regionale Künstlerinnen und Künstler stellten ihre Bilder und Installationen in St. Egidien zum Thema: Jetzt ist die Zeit aus. Auf dem Altar platzierte ein Künstler – man mag es witzig finden – lauter Tic-Tac-Plastikdosen. Nicht nur einmal dachte ich: Ist das Kunst oder kann das weg? Die Werke waren zufällig, hatten für mich keine Ausdruckskraft. Hier hätte ich mir eine deutlichere künstlerische Handschrift des Kuratoriums gewünscht, mehr Klasse statt Masse. Das habe ich auf anderen Kirchentagen schon ganz anders erlebt. Schade – ein Ort der Auseinandersetzung und Begegnung in einer Barockkirche mit Kirche & Kunst wurde verschenkt. Da schaue ich mir lieber die Kunstinstallationen der Kunstkirche St. Peter in Köln an. Können die Katholischen besser Kunst als die verkopften Protestanten?

Foto: Joachim Leberecht

Kirchenmusik

Kirchenmusik hat in der evangelischen Kirche eine lange Tradition. Allein schon wegen des Bilderstreits in der Reformationszeit floss alle Gestaltungskraft in die Musik. Kirchenmusik kann der Kirchentag! Angefangen von den Gemeindeposaunenchören, die auf öffentlichen Plätzen aufspielten: mal mehr und mal weniger sauber, aber immer mit Herz! Einen Kirchentag ohne die immer noch zahlreichen Posaunenchöre kann ich mir schlechterdings nicht vorstellen. Ich bin ein heimlicher Fan der Posaunenchöre. Aber auch Kirchenmusik auf höchstem Niveau war zu erleben. Sei es das A-Capella-Konzert des Ensemble12 unter Leitung von Prof. Alfons Brandl (Hochschule für Musik in Nürnberg), das mit einem Programm aus fünf Jahrhunderten Kirchenmusik zu Psalmenliteratur in Unser lieben Frau in Fürth aufwartete. Die Sängerinnen und Sänger – alles Gesangprofis – bildeten einen homogenen Klangkörper und boten ein noch lang nachhallendes Konzert. Die angekündigte Aufführung von Haydns Schöpfung (1799) mit gleichzeitiger Präsentation des Experimentalfilms Koyaanisqatsi (life out of balance) von Regisseur Godfrey Reggio, der 1982 erstmals in die Kinos kam, lockte mich in die Meistersingerhalle. Hundertfünfzig Mitwirkende, gut besetzte Solistenstimmen, bildeten den Klangraum, der von dem Lorenzkantor Matthias Ank der Nürnberger evangelischen Hauptkirche St. Lorenz dirigiert wurden. Diese Aufführung war für mich kirchenmusikalischer Höhepunkt in Nürnberg.  Klassische Musik und moderner Film gleichzeitig für das Publikum. Der Film kontrastierte die romantische Schöpfungsmusik nach Textvorlage der Genesis und konfrontiert Text, Musik mit Bildsequenzen von der Beherrschung und Zerstörung der Natur durch den Menschen, aber der Film zeigte auch das Wunder der Natur, die Schönheit der Erde.

Foto Joachim Leberecht

Jetzt ist Zeit für Frieden

Mehr oder weniger zufällig – ein Flyer der Friedensdemonstration, der schon leicht zerknittert auf dem Boden lag, lud ein – bekam ich von der Kundgebung für den Frieden auf dem Rosa-Luxemburg-Platz mit. Nicht mit ins offizielle Kirchentagsprogramm aufgenommen (!) – der Vorgang ließ sich für mich trotz Nachfragens nicht eindeutig recherchieren – wurden Kundgebung und Demonstrationszug von kirchlichen und gesellschaftlichen Friedensgruppen organisiert. Als ich circa eine Stunde vor Beginn den Platz erreichte, sah ich nur ein paar alte Männer mit langen zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren die Kundgebung vorbereiten. Hoffentlich kommen noch ein paar mehr, dachte ich. Das kann ja eine traurige Veranstaltung werden. Die Zeiten ändern sich. Als Jugendlicher auf dem Kirchentag in Hannover 1983 war das Friedensthema mit der Forderung nach Abrüstung und lauten Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss in aller Munde. Der lila Schal mit dem damaligen Motto: Umkehr zum Leben war allgegenwärtig und prägte den Kirchentag. Zwar gab es auf dem Nürnberger Kirchentag ein Hauptpodium zum Thema Frieden. Es war aber nach der Absage von Margot Käßmann, die sich einen weiteren Shitstorm gegen ihre pazifistische Haltung in der Nachfolge Jesu nicht mehr antun wollte, sehr einseitig besetzt. Außer dem Friedenbeauftragten der EKD, Landesbischof aus Magdeburg Friedrich Kramer, der auch Hauptredner der Friedenkundgebung war, waren es Persönlichkeiten aus Bundeswehr, Parteien und der Kirche, die die Position Waffen für den Frieden vertraten. Ein Schelm, wer da an die Zusammensetzung bekannter Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens denkt. Friedrich Kramer stellte seiner Rede Sprüche 12,20b voran: „Die zum Frieden raten, haben Freude.“ Kramer forderte einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen für eine neue Friedensordnung in Europa, damit das Töten, Morden und Leiden der Unschuldigen aufhört. Er brachte das Konzept des Gerechten Friedens in Erinnerung, das zwar in vielen Kirchen diskutiert und auf Synoden verabschiedet wurde, aber mit einem Handstreich vom Tisch gefegt wurde als Russland die Ukraine überfiel. Der Ruf nach Aufrüstung und Militarisierung sei ein Rückschritt für ein friedliches Europa und für die Welt insgesamt. Kramer wünschte sich auch, dass sich die Friedensbewegung stärker mit der Klimabewegung vernetzt, da jeder Krieg massiv die Umwelt zerstört. Der Demonstrationszug mit ca. vierhundert Teilnehmenden durch die Altstadt erregte Aufmerksamkeit. Ich war froh, Gleichgesinnte gefunden zu haben.

Wie ich mit meiner Depression Kaffee trinken ging

Mit der Erzählung von Franz Essing „Wie ich mit meiner Depression Kaffee trinken ging“ und den Bildern zur Geschichte von Jannes Heidemann, erschienen im Ulli-Verlag, war ich als Herausgeber das erste Mal Mitwirkender auf dem Kirchentag. Es hat mich überrascht und gefreut, dass trotz zweitausend Veranstaltungen des Kirchentags, Hitze und Schwüle der Heilig-Geist-Saal in der Stadtmitte zweimal voll besetzt war. Die humorige Lesung mit Franz Essing, die Bildpräsentation und die Musik führten zu einem regen Austausch im Saal und zu Fragen aus dem Publikum, die zu einem vertieften Verständnis von Depressionen beitrugen und Anregungen für den Umgang bei Betroffenen und Angehörigen gaben.

Fazit

Alles in allem ein inspirierender Kirchentag in Nürnberg 2023 mit vielen Eindrücken und Begegnungen. Eine Gemeinschaftserfahrung, die ihresgleichen sucht. Der Kirchentag verändert sich, wie die Zeiten sich ändern. Das war mein elfter Kirchentag, vielleicht wird mein zwölfter 2025 in Hannover sein.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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