„Selig sind die Frieden stiften,…“, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt Buß- und Bettag 2025

 

 „… denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Mt 5,9

 Ihr Lieben,

Ihr habt wie alle Jahre wieder mit den Kindern und Eltern des Familienzentrums St. Martin gefeiert. Ein Fest, das immer noch sehr beliebt ist. Die Geschichte des Heiligen Martin berührt Kinder und Erwachsene. Mit Lichtern wird durch die Straßen gezogen, St. Martins-Lieder werden gesungen, Weckmänner werden an die Kinder verteilt. Die Geschichte, wie der Offizier St. Martin seinen Mantelumhang teilt und die Hälfte des Mantels einem frierenden Bettler vor den Stadttoren gibt, wird erzählt und vielerorts auch gespielt.

Erinnerung an St.Martin

Weniger bekannt aus dem Leben St. Martins ist, dass er als 15jähriger von seinem Vater gezwungen wurde in das römische Heer einzutreten und dort ungefähr mit vierzig Jahren, nachdem er getauft wurde, den Militärdienst quittierte. Der Erzählung nach soll Martin vor Kaiser Julian getreten sein mit den Worten „Bis heute habe ich dir gedient, gestatte mir, dass ich jetzt Gott diene. Ich bin Soldat Christi. Es ist mir nicht erlaubt, zu kämpfen!“

In den ersten Jahrhunderten nach Christi war es weit verbreitet, dass Männer, wenn sie Christen wurden, sich weigerten die Waffe in die Hand zu nehmen. Für sie und für viele christliche Gemeinden war klar, es gilt Gottes Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Und auch Jesus war ihr Vorbild. Seine Gewaltlosigkeit und sein Aufruf zur Feindesliebe waren für die ersten Christen nicht naive Spinnerei, sondern der Weg in ein neues Leben, dass die Herrschaft der Mächtigen auf den Kopf stellte. Oft genug wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihre Kriegsdienstverweigerung nicht nur verlacht und verspottet, mussten Repressalien hinnehmen, sondern sie wurden von den Herrschern getötet. Sie starben als Märtyrer, weil sie Soldaten Christi waren. Dass sie ihren Überzeugungen treu waren, brachte ihnen bei den Mitmenschen viel Respekt ein. Leben und Glauben vielen nicht auseinander, sondern der gelebte Glaube war eine Kraft, die nicht zu töten war. Nachfolge Christ war gelebte Kreuzesnachfolge. Hatte Jesus nicht gesagt: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seiner Seele? Wer sein Leben aber um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen. Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“(Mk 8,34ff)

„Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15)

Mit diesen Worten Jesu möchte ich uns und vor allem meine Evangelische Kirche zur Buße rufen. Kehrt um! Verlasst die Wege der propagierten Kriegstüchigkeit! Widersprecht doch endlich den Abermilliarden Investitionen in Waffensysteme, die zu einer endlosen Rüstungsspirale führen. Aber meine Kirche schweigt. Sie ist erstarrt. Oder schlimmer: Sie glaubt nicht mehr dem Evangelium. Wenn die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Annette Kurschuss zu Beginn des Ukrainekriegs sagt: „Waffenhilfe ist Nächstenliebe!“ verkehrt sie das Evangelium ins Gegenteil. Wenn die EKD ihre neueste Friedensdenkschrift (2025) herausbringt und darin den Besitz von Atomwaffen unter der Hand still legitimiert und nicht ächtet, nimmt sie die Zerstörung allen Lebens auf dem Globus in Kauf, und opfert Jesus und ihren eigenen Glauben auf dem Altar der Abschreckung. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel!

Aber zurück zu unseren Kindern. Was sollen sie lernen? Was sollen wir sie lehren? Wie reagieren wir auf die Bundeswehrwerbung, die jungen Männern wie Frauen mit Kameradschaft und sinnvollen Einsätzen für Demokratie anwirbt? Wie reagieren wir als Christen darauf, dass die Bundeswehr in die Schulen geht, um junge Frauen und Männer anzuwerben? Wie reagieren wir als Christen darauf, dass Sönke Neitzel, Carlo Masala, Rodrich Kiesewetter und andere sogenannte Militärexperten behaupten, ein Krieg mit Russland stehe kurz bevor? Das war der letzte Friedenssommer, sagen sie und schüren Angst ohne Ende. Wie stoppen wir die mentale Umerziehung zur Kriegstüchtigkeit unserer Kinder und der ganzen Gesellschaft? Wie begegnen wir der unverhohlenen Kriegstreiberei in vielen Medien?

Wenn die sich klein- und gesundschrumpfenden Kirchen überhaupt noch eine Botschaft für ein zukünftiges Europa haben, dann kann es doch nur die Botschaft: „Kehrt um!“ sein. Kehrt um von eurem einseitigen Setzen auf Waffensysteme und einer Aufrüstung ohne Ende, sucht endlich wieder Diplomatie und Versöhnung, baut Brücken der Verständigung, stoßt einen europäischen Friedensprozess an, sonst endet das Friedensprojekt Europa in ein Kriegsprojekt. Das ist Selbstzerstörung pur. Dazu kommt: Deutschland soll wieder größte Militärmacht Europas werden.  Das haben unsere Väter und Mütter nicht gewollt!

Hat dieser Stellvertreterkrieg denn nicht schon genug Menschenleben gekostet und Schaden angerichtet? Beide Seiten beharren auf ihre Maximalforderungen. Der Klügere gibt nach. Warum widersprechen so wenige?

Kehrt um!

Aber vielleicht hört uns schon längst niemand mehr. Wir Christen sind einfach – je höher es in der Institution Kirche geht, je mehr – zu angepasst. Wir wollen angesehen sein und merken nicht, dass wir schon längst nicht mehr systemrelevant sind. Das Geld ist es. Die Rüstungsindustrie soll die Retterin aus der wirtschaftlichen Krise sein. Ja, spinnt denn unsere Regierung?

Militärdienstverweigerung ein Zeugnis des Glaubens

Aber ich brauche gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen: Umkehr beginnt bei uns selbst. Wollen wir Jesus in seiner Gewaltlosigkeit nachfolgen? Wollen wir Soldaten Christi werden – ohne Waffengebrauch? Wollen wir unsere Kinder friedens- oder kriegstüchtig machen?

Ich wünsche mir eine Kirche und ein neues Lernen in der Kirche, wie Gewaltlosigkeit in den Konflikten unserer Zeit geht. Ich wünsche mir eine Kirche, die sich wieder an ihre erste Zeit erinnert, wo Militärdienstverweigerung ein Zeugnis des Glaubens war.

Ausgerechnet ein Philosoph, nämlich Olav Müller von der Humboldt-Universität Berlin, brachte kürzlich in einen Radiointerview folgende Idee für ein verpflichtendes Jahr für junge Frauen und Männer zur Sprache. Die jungen Frauen und Männer sollten die Möglichkeit haben zu wählen, ob sie ihre Dienstzeit für die Gesellschaft in der Bundeswehr oder mit einem  intensiven Lernen von Verteidigung durch gewaltfreie Aktionen und Maßnahmen verbringen. Denn auch Friedenstüchtigkeit will gelernt sein.

Lasst uns umkehren, dazu ist es nie zu spät, und unseren Glauben an das Evangelium festigen mit Jesu Seligpreisung: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

 

 

Feindesliebe: verrückt, unsinnig, unmöglich!?, Dr. Vera Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 

 9. November 2025, Evangelische Lydia-Gemeinde Herzogenrath, Lukas-Gemeindezentrum, Herzogenrath-Kohlscheid

 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

(Amen)

Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 6. Kapitel. Da spricht Jesus:

27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!

32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Was für ein Text. Was für ein Anspruch! Und: Was für eine zutiefst in uns lebende Sehnsucht berührt Jesus da.

Viele von uns haben in den letzten Wochen mitgefiebert, mitgebangt, gebetet und gehofft beim Blick auf den fragilen Prozess zurück in ein friedliches Miteinander in Gaza. Beim Hören und Lesen der Nachrichten scheint es fast täglich, dass das eine Aufgabe ist, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Fast möchte man darüber verzweifeln. Aber Glauben geht anders. Da ist die Tür immer mindestens einen Spaltbreit offen für die Hoffnung.

Diese Hoffnung entgegen allen äußeren Anzeichen halten schon die alttestamentlichen Propheten immer wieder hoch, wie Micha in dem starken Stück, das wir gerade gehört haben [der alttestamentlichen Lesung aus Micha 4,1-5]. Gott wird hier als der Handelnde, als der Friedens-Initiator beschrieben. In dieser Tradition stehen wir! Das ist eine der Kraftquellen, zu der uns unser jüdisch-christlicher Glaube immer wieder einlädt. Damit wir das augenscheinlich so hoffnungslose tägliche Leben ertragen und hoffnungsfroh gestalten können.

An dieser Quelle hat auch Jesus immer wieder aufgetankt. Auf diesem Fundament stand er. Bei Gott hat er immer wieder Kraft gefunden. Vor diesem Hintergrund, auf diesem festen Boden stehend, so erfahrungsgesättigt stellt nun Jesus seinen Anspruch auf Feindesliebe. Und der klingt doch echt verrückt, eine unsinnige Zumutung, utopisch. Hören wir also noch einmal genauer hin, was Jesus uns hier als Zuspruch und Anspruch sagt.

  1. „Liebet eure Feinde“: verrückt? Auf jeden Fall! Wir Christinnen und Christen sind im wahrsten Sinne ver-rückt. Nicht von dieser Welt. Wir stehen als Gemeinde Gottes in einem anderen Referenzrahmen. So spricht Gott schon zur Zeit des AT mehrfach zu Mose: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3Mo 11,44.45; 19,2). Und „heilig“ bedeutet hier weniger das, was wir heute vielleicht eher hören, etwa ethisch oder moralisch hochstehend und besonders brav. Nein, es heißt, abgesondert für Gott, zum exklusiven Tempelbereich gehörend. Es heißt Thomas Merton folgend, dass wir bei aller äußeren Aktion dadurch definiert sind, dass unsere Wurzeln tiefer reichen als die sichtbare Welt um uns herum. Dass wir in unserem Inneren bei Gott zur Ruhe kommen können und dass daraus unsere Kraft kommt für beherztes Handeln. Unsere Perspektive ist tiefer. Und weiter. Sie reicht über diese Welt hinaus. Das ist eine echte Verschiebung unserer Ausrichtung, da werden wir tatsächlich ver-rückt. Das gibt uns im besten Fall Um-Orientierung im Leben und lässt uns unsere Prioritäten neu ordnen.

Diese Ausrichtung auf Gott ist dem Evangelisten Lukas besonders wichtig. Er ist der Evangelist, der das mehr als seine „Kollegen“ Matthäus, Markus und Johannes in seiner Jesus-Biographie in den Mittelpunkt stellt: Es geht um Gott! Es geht um Jesu ganz besondere Beziehung zu ihm (Er spricht Gott von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater an) — und dann auch um unsere.

Was heißt das denn nun konkret für uns? Was erwarten wir denn tatsächlich (noch) von Gott? In unserem eigenen Leben, in der Gemeinde, gar für das, was derzeit bei uns gesellschaftlich passiert? Was ist möglich, wenn wir die Bibel lesen als ein Wort „wie Feuer,… und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“ (Jer 23,29)? Wer, wenn nicht wir, kann denn so manchem gesellschaftlichen Diskurs eine weitere Perspektive vielleicht nicht entgegen-halten, aber sie wenigstens offen-halten? Was könnten wir mit Gottes Hilfe sowohl als Individuen als auch als Kirche bewegen, wenn wir uns etwas mehr von Gott ver-rückt machen ließen?!

Da geht doch noch was! Wir glauben an einen mächtigen Gott! Da ist doch noch so viel mehr „drin“ als ein lascher Gott, in dessen Wort wir uns nur noch bei dem bedienen, was sich wohltuend und gefühlsstreichelnd für im besten Fall lieb gewordene, aber nicht wirklich aufrüttelnde Zeremonien am Sonntagmorgen oder Heiligabend eignet. Ein GOTT, dessen manchmal unbequeme Ansprüche wir lieber unter den Tisch fallen lassen, weil er in unseren aufgeklärten und verteidigungspragmatischen Zeiten doch sowieso als überholt angesehen wird.

Wie soll so ein zur Bedeutungslosigkeit eingehegtes Überbleibsel christlicher Tradition denn noch jemandem, der ganz verschluckt wird von der Dauerbelustigung am Handy oder der allgegenwärtigen Drohnenangst, in den Gottesdienst locken? — Und was erwarte ich persönlich denn tatsächlich (noch) von Gott? Vielleicht können wir ja versuchen, etwas weniger angepasst und etwas mehr ver-rückt zu sein?!

  1. Denn ja, es ist verrückt: Liebet eure Feinde! Außerdem ist es auch noch unsinnig, eine Zumutung. Es ist keine sinnlose (!) Challenge, die Jesus hier seinen Zuhörer_innen aufgibt. Wohl ist es eine Zu-Mut-ung im besten Sinn.

Jemandem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten? Jemandem, der mir meinen Mantel nimmt, auch noch den Pulli geben? Genau darin besteht die Zumutung. Dass Jesus uns herausfordert: Überdenkt die Norm. Dreht das Normale um. Dreht den Spieß um?! Im menschlichen System von Geben und Nehmen gilt „Wie du mir, so ich dir“. Du produzierst Waffen, also kurble ich meine Wirtschaft an und mache noch mehr. Dann bekommst du sicher ganz viel Angst und streckst mir die Hand zum Frieden entgegen. Oder?!

Diejenigen von uns, die Geschwister haben oder mit anderen Kindern irgendwann in unserem Leben mal Streitigkeiten hatten, wissen: Wenn dich der oder die andere haut, dann hau am besten zurück so fest du kannst. Dann hört das Gegenüber direkt auf. Oder?!

Seltsam eigentlich, dass sich etwas, das sich doch weder im Kleinen noch im Großen jemals wirklich bewährt hat, plötzlich wieder als sinnvoll, als zielführend gilt. Dass es sich in den letzten Monaten gar nicht heimlich, gar nicht still und leise seinen Weg zurück in unseren gesellschaftlichen Konsens gebahnt hat. Während Jesu Aufforderung als „unrealistisch“, als „naiv“ weggewischt wird.

Was passiert, wenn wir unser Verhalten verschieben von „Wie du mir, so ich dir“ nach „Wie Gott mir, so ich dir“? Vielleicht würden wir ja erleben, dass wir, wenn wir aus dem scheinbar unausweichlichen Spiel der sich hochschaukelnden Drohungen und Gegendrohungen aussteigen, gar nicht schwächer werden, sondern im Gegenteil freier und stärker?!

Gut, sagt ihr jetzt. Die Theorie klingt prima. Und ja, wir wollen alle versuchen, etwas netter zu sein, wenn wir heute beim Nachhausekommen der unmöglichen Nachbarin über den Weg laufen. Aber im großen Rahmen muss man doch auch vernünftig sein. Denn wie soll das funktionieren:

  1. „Liebet eure Feinde!“ Letztlich bleibt das doch utopisch. —Oder vielleicht nicht?! Liebet eure Feinde, ist das wirklich so weltfremd? Jesus selbst kann man diesen Vorwurf jedenfalls nicht machen. Ihm geht es hier um viel mehr als eine schöne fromme Idee. Es geht ihm um die direkte praktische Umsetzung. Unser Bibeltext ist eingebettet in die sog. Feldrede (quasi Lukas’ Version der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium). Und direkt im Anschluss an diese Rede schildert Lukas, wie Jesus in Kapernaum den Knecht eines Hauptmanns der römischen Besatzungsmacht heilt. Moment mal: Die Römer, das waren doch die Feinde Israels? Und was macht Jesus? Er heilt einen von ihnen. Und zeigt uns so, ganz ohne Worte: Es lohnt sich, immer wieder mal zu hinterfragen: Wer ist denn überhaupt mein Feind? Und wer ist mein Mitmensch, der mein Verständnis, meine Hilfe, meine Zuwendung braucht? Populistische Parteien schüren ja oft Ängste, indem sie Feindbilder an die Wand malen, Stereotype über „uns“ und „die anderen“ heraufbeschwören. Sobald wir jedoch jemanden von „denen da“ persönlich kennen lernen, wird oft unsere Wahrnehmung viel differenzierter. Selbst will ich schließlich auch nicht auf meine Nationalität oder Hautfarbe reduziert werden — ich bin doch viel mehr als das.

Okay, sagen wir vielleicht, aber Jesus war ja auch Gottes Sohn. Und das ist ja alles sehr lange her. Wie soll das denn funktionieren, so ein radikales Aussteigen aus der Logik von „Wie du mir, so ich dir“? Heute, in unserer Gesellschaft? Nun ja, ein Blick in die Geschichte zeigt: Er ist nicht der Einzige geblieben!

  • In Pennsylvania hat der Quäker Benjamin Lay als einzelner Privatmann (!) jegliche durch Sklavenarbeit entstandene Waren boykottiert und Gastgeber, die Sklav_innen hatten, gemieden. Ein Vierteljahrhundert individuellen Boykotts und Agitation haben dann 1758 dazu geführt, dass die Quäker in Philadelphia die Sklavenhaltung geächtet haben. Die Quäker und auch andere christliche Gruppen haben durch ihr anhaltendes gewaltfreies Handeln entscheidend dazu beigetragen, dass Sklavenhandel und Sklaverei in immer mehr Ländern gesetzlich verboten wurden.
  • Im Jahr 1955/56 fand in Montgomery, der Hauptstadt von Alabama, der berühmt gewordene Busboykott statt, ausgelöst von Rosa Parks und mit organisiert von Martin Luther King jr.: Ganz ohne Gewalt war das ein entscheidender Protest gegen die Politik der Rassentrennung in den USA.
  • In Deutschland wurde nach dem 2. Weltkrieg das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht im Grundgesetz verankert.
  • Seit 1983 gibt es das Kirchenasyl, mit dem Schutzsuchende vor einer Abschiebung bewahrt werden können.
  • Die Montagsdemonstrationen in der DDR haben 1989/90 zur Friedlichen Revolution, zur Wende, geführt. Genau heute vor 36 Jahren fiel die innerdeutsche Mauer, lasst uns daran denken: Was für ein — ganz reales — Wunder!

Bei all diesen friedlichen, gewaltfreien Aktionen haben Christinnen und Christen eine entscheidende Rolle gespielt. Sie waren ver-rückt genug, um über bestehende Rahmen hinaus zu denken und zu handeln. Sie haben sich von Gott herausfordern lassen, haben sich etwas zumuten lassen und anderen etwas zugemutet. Haben genug von Gott erwartet, der unseren Verstand übersteigt, um etwas zu wagen.

So wünsche ich mir auch für uns Glauben und Leben als Kirche Jesu in dieser Welt. Glauben, der tiefer verwurzelt ist als auf der Oberfläche unseres Alltags. Eine Kirche von Menschen, die mehr erwarten als das, was wir logisch fassen können. Und die darum auch mutig handeln.

Die sich nicht gemütlich einrichten, sondern als lebendige Fische gegen den Strom schwimmen. Die hoffen, wo nach menschlichem Ermessen kein Grund zur Hoffnung mehr ist. Darum: „Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Predigt zum 17. So nach Trinitatis, „Die traut sich was?!“, Vera Leberecht, Herzogenrath 2025

Gottesdienst zum 17. So nach Trinitatis am 19. Oktober 2025 in der Ev. Markuskirche Herzogenrath

(eigentlich: 18. So nach Trinitatis)

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! (Amen.)

[Szenen- bzw. Rollenwechsel]

Guten Morgen!

Das fällt mir jetzt ganz schön schwer, hier zu stehen. Ich bin sonst nämlich eher für die Eins-zu-eins-Kommunikation. Aber euer Pfarrer meinte, es wäre okay, wenn ich heute mal hier rede. Denn meine Geschichte könnte euch was zu sagen haben. Aber das überlasse ich euch selbst.

Also…

Man sieht es mir nicht mehr wirklich an, aber ich war mal richtig hübsch. Manche nannten mich sogar schön. Ich war ein echter Feger. In meiner Kindheit hat es das Leben nicht gut gemeint mit mir… und irgendwann bin ich dann in dem gelandet, was ihr so verschämt „das älteste Gewerbe der Welt” nennt. Ja, ich war eine Prostituierte. Und ich war gut in meinem Job. Das fanden jedenfalls eine ganze Menge Männer da in Jericho, wo ich wohnte, wo ja auch meine Familie herkam.

Und irgendwie war das halt so. Irgendwie war ich geduldet. Vielleicht sogar anerkannt. Aber dass die meisten mit mir nicht allzu nahen Kontakt haben wollten, ist auch klar. Jedenfalls nicht im Licht der Öffentlichkeit. Aber egal. Ich hab schon immer gut allein sein können. Und meine Ruhe hat mir auch gefallen.

Bis eines Tages zwei Männer vor meiner Tür standen. Die waren anders. Auf der Durchreise, dachte ich erst, mit einer Karawane oder so. Aber irgendwas war da faul, das spürt eine Frau wie ich ziemlich schnell. Ja, und prompt kamen an demselben Tag Leute von der Sicherheitspolizei und sagten, dass in meinem Haus zwei israelische Spione untergetaucht seien. Oh — das war mal was in meinem an Ereignissen nicht armen Leben! Da hatte ich die beiden allerdings schon aus so einer Ahnung heraus versteckt, und den Beamten des Königs habe ich gesagt, ich hätte keine Ahnung, wer die zwei Fremden gewesen seien und die hätten die Stadt längst wieder verlassen. Und — genau wie ich erwartet hatte — : Die Sicherheitsleute sind denen direkt nachgeprescht.

Mir war klar, hier ist etwas Großes im Gange. Denn über die Israeliten hatten wir schon viel gehört. Echte Schreckensmeldungen. Davon, wie sie vor dem ägyptischen Pharao durchs trockene Schilfmeer entkommen sind, in dem er dann mit seinem ganzen Heer ersoffen ist. Und dass sie unser Land eingenommen haben. Und dabei mit schrecklicher Gewalt gegen die Stadtstaaten vorgegangen sind, die auf ihrem Weg lagen. Wir alle hatten Angst: Wir wussten, es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses Heer vor den Toren von Jericho steht. Es hat uns die Luft abgeschnürt wenn einer bloß vom Volk Israel gesprochen hat…

Und als ich da noch so an meiner Haustür stand, wusste ich es plötzlich: Die beiden hat mir Gott geschickt! Was, ihr wundert euch, dass ich von Gott spreche? Na klar, das ist ja wohl das Vernünftigste, was ein Mensch in einer solchen Situation tun kann. Da machen Nachrichten von einem Volk die Runde, einem Volk, das von dem Einen, Wahren Gott auserwählt sein soll. Und alles, was sie machen, gelingt ihnen? Das ist ein Gott, zu dem will ich gehören. Dem will ich mich ausliefern. Das ist auf jeden Fall besser, als sich auf Menschen verlassen, die schnell sind mit ihrem Urteil und dich im Zweifelsfall ihren eigenen Prinzipien opfern. (Brave Familienväter, die dich in der Öffentlichkeit mit dem Hintern nicht angucken, nachdem sie vorher… aber egal.) Oder irgendwelchen Göttern, die Gehorsam und Opfer verlangen, aber denen unser Leben offensichtlich egal ist — oder die gar nicht die Macht haben, darauf einzuwirken?!

Wir in Jericho wussten es alle längst: der Herr, der Gott Israels, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. Und das habe ich den beiden Fremden ins Gesicht zugesagt. Und dann, ich weiß es noch wie gestern, habe ich gesagt: Ich helfe euch zu entkommen. Unter einer Bedingung: Schwört mir bei dem Herrn, dem Gott Israels, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet.

Und die beiden? Die haben mir versprochen: Wenn du uns rettest, wenn du uns nicht verrätst, dann stehen wir auch zu unserem Wort. Dann sind wir auch zu dir barmherzig und treu, wenn uns GOTT das Land hier gibt. Wenn wir mit unserer Kriegsmacht wiederkommen und Jericho erobern, dann werden wir dich und deine gesamte Familie verschonen. Machen wir das nicht, sollen wir auf der Stelle tot umfallen.

Und dann haben wir folgendes ausgemacht: Ich wohnte damals in einem Haus direkt an der Stadtmauer. Sie konnten also aus meinem Haus rausklettern aus der Stadt, ohne durchs Stadttor zu müssen. Ich hab ihnen eingeschärft: Flieht nicht über die Ebene Richtung Jordan; genau da fahnden ja die  Leute von der Sicherheitspolizei nach euch. Sondern: Geht in Richtung Gebirge und versteckt euch da, bis etwas Ruhe einkehrt. Bis die anderen ihre Suche aufgegeben haben und in die Stadt zurückgekehrt sind. Mindestens drei Tage. Danach könnt ihr in Sicherheit zu eurem Volk zurückkehren. Das leuchtete ihnen ein. Und sie sagten: Und du, hänge ein rotes Seil aus dem Fenster, das weithin sichtbar ist. Wenn wir dann kommen und die Stadt einnehmen, so werden alle, die sich in deinem so markierten Haus aufhalten, verschont bleiben. Nur: Geht auf keinen Fall raus, da können wir für niemandes Sicherheit garantieren! Aber solange ihr drinnen bleibt, seid ihr sicher. Das schwören wir in Gottes Namen.

Und genauso ist es passiert. Ich habe ihnen das Leben gerettet. Und sie haben auch Wort gehalten und haben mich verschont. Mich, eine Fremde. Eine Feindin. Die alles andere als einen guten Ruf hatte. Das war ihnen egal.

Und vor allem: Gott war das alles egal. Dem Gott, der der Gott Israels war und auch meiner geworden ist. Er denkt nicht in unseren menschlichen Kategorien von Herkunft, Freundin und Feind, Beruf oder was jemand alles im Leben schon verpfuscht hat. Er steht darüber. Er schaut auf das Herz eines Menschen und sieht, wer ihm wirklich vertraut — und wer auch etwas von Ihm erwartet! Was hat es mir gebracht, dass ich wie ein Schaf mitgelaufen bin in meiner Jugend, dass ich mich den lokalen Glaubenstraditionen angepasst hatte, die längst ihre Kraft verloren hatten? Was hatte mir dieser blutleer gewordene Glaube noch zu geben?

Manchmal gibt es solche Wendepunkte im Leben, da weißt du: Jetzt musst du dich entscheiden. Jetzt geht es um Leben oder Tod. Übernimm Verantwortung für das, was du glaubst und tust. Manchmal auch im totalen Gegensatz zu dem, was deine Umgebung denkt, glaubt und tut. Manchmal sogar im Gegensatz zu dem, was das objektiv Richtige zu sein scheint. Und dann bricht das Leben sich Bahn. In meinem Fall ist das tatsächlich geschehen: Erst habe ich den beiden Israeliten das Leben gerettet, und später sie mir und meiner Familie. Das ist im wahrsten Sinne ein roter Faden in meinem Leben geworden: Gott, der HERR, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und jetzt schon viele Jahre auch mein Gott: er schenkt Leben. Er ist das Heil. Er ist die Rettung. Er ist meine Rettung geworden und sagt Ja zum Leben. Jeden Tag neu. Auch zu eurem. Traut ihr euch? Lasst ihr euch auf ihn ein? Dafür bete ich. Das wollte ich euch sagen.

[[Szenen- bzw. Rollenwechsel]]

Vorhin im Evangelium haben wir gehört, wie eine syro-phönizische Frau alles auf Jesus setzt. Sie lässt nicht locker, bis Jesus sie heilt. Damit wird deutlich: Das Heil Gottes gilt für jeden Menschen, unabhängig von einer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit. Und auch das Beispiel von Rahab, die gerade ihre Geschichte erzählt hat, zeigt: Wenn ein Mensch alles auf eine Karte setzt und sich dem lebendigen Gott zumutet, wird er errettet.

Die Geschichte ist übrigens aufgeschrieben im Buch Josua, im zweiten Kapitel. Wer möchte, kann sie sich am Ausgang zum Nachlesen mitnehmen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

(Vera Leberecht)

Joachim Leberecht: Predigt, Gottesbegegnung im Traum, Herzogenrath 2025

 

Predigt Genesis 28, 10-19                                   14. Sonntag nach Trinitatis, 2025

„Und ihm träumte, und siehe eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen darauf auf und nieder.“ (V.12)

Liebe Gemeinde,

haben Sie es auch gehört? Jakob träumt und sieht eine Leiter, die von der Erde bis zur Spitze des Himmels reicht. Es ist die Himmelsleiter. So weit haben viele von uns dieses eindrückliche Bild und die sprichwörtlich gewordene Himmelsleiter vor Augen. Auch das die Engel etwas mit der Leiter zu tun haben wissen wir noch irgendwo hinten in unserem Kopf. Doch in meinem Kopfkino kommen die Engel vom Himmel zur Erde, sagen Jakob die Botschaft Gottes weiter, und steigen wieder die Leiter hoch. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Luther übersetzt das Hebräische genau: „Und siehe, die Engel Gottes stiegen darauf auf- und nieder.“ Das ist bewusst formuliert. Zuerst der Aufstieg, dann der Abstieg. Die Engel sind hier nicht Boten Gottes, sondern Boten Jakobs. Sie steigen von der untersten Leitersprosse auf zu Gott – wie es auch unsere Gebete tun. Der Traum ist eine besondere Form der Wahrnehmung, Ausdruck unseres Unbewussten oder wie hier in dem alten hebräischen Denken eine besondere Bild- und Zeichensprache, die den Menschen mit Gott verbindet. Nicht irgendein Mensch. Es ist Jakob. Er ist der direkte Nachkomme von Isaak. Und Isaak ist der direkte Nachkomme von Abraham, dem Vater des Glaubens. Hier beginnt die Geschichte Gottes mit seinem Volk.

Ein Stein als Kopfkissen

In der Nacht kommen wir unseren Sehnsüchten und unseren Ängsten nah. Jakob ist allein. Ganz allein in der weiten Landschaft. Wir alle kennen Nächte, wo wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind. Es ist schon viel, wenn wir einschlafen und die sorgenvollen Gedanken fahren lassen können. Manchmal wälzen wir das Kopfkissen so lange hin und her, bis wir endlich einschlummern können. Jakob hat kein Kopfkissen, aber er sucht sich einen passenden Stein, wo er seinen Kopf leicht erhöht, ablegen kann. Sich hinlegen, sich ablegen, ruhig werden, still werden und in den Schlaf hineingleiten ist etwas Wunderschönes. Nicht einschlafen zu können ist eine Plage, macht nervös und unruhig.

Jakob auf Wanderschaft

Jakob kann schlafen. Er ist auf Wanderschaft. Er ist aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Er hat seine Heimat und alle, die er lieb hat hinter sich gelassen. Es ist seine erste Nacht in der Fremde. Sein Traum ist besonders lebhaft. Es scheint, dass die verborgene Welt um ihn weiß. Die Engel begleiten ihn. Sie gehen die Leiter hoch und stellen die Verbindung zum Höchsten her. Jakob ist allein, aber von Gott nicht verlassen. Was für ein. tröstlicher Traum für den einsamen Wanderer Jakob, der nicht weiß, wie er leben soll – auch mit seiner Schuld. Die Engel verbinden ihn mit Gott. Hat er auch Vater und Mutter verlassen und seinen Bruder, vor dem er sich fürchtet, weil er ihn bestohlen hat, ist er doch von Mächten umgeben, die ihn schützen. Allein auf sich zurückgeworfen ist er auf Gott geworfen. Die Engel in seinem Traum sind seine Fürsprecher. Sie sorgen dafür, dass seine Verbindung zu Gott nicht abreißt. Sie nehmen ihn, der am Boden liegt, Stufe für Stufe mit, dass Jakob schlussendlich im Traum Gott zu sich reden hört: „Ich verlasse dich nicht. Du und deine Nachkommen sollen allen Geschlechtern auf Erden zum Segen werden.“

Das ist keine alltägliche Erfahrung. Jakob macht sie. Aber nicht, weil er es will. Sie wird ihm geschenkt. Sie widerfährt ihm. Sein Traum ist der Ort der Gottesbegegnung.

Der Glaube fällt nicht vom Himmel.

Wenn es ums Eingemachte in unserem Leben geht, können wir nichts machen. Wir können nur still sein und lauschen, welche Hinweise und Ahnungen unsere Seele uns vermittelt. Alles, was wir brauchen, ist in uns. Wir müssen nur vertrauen und manchmal richtiggehend lernen auf uns zu hören. Jakob sieht und hört. Es ist nichts Neues, was er hört. Denn er steht in einer Geschichte. Einer Geschichte der Verheißung Gottes für seinen Vaters Isaak und seiner Mutter Rebekka. Und zuerst für seinen Großvaters Abraham und seiner Großmutter Sarah. Der Glaube fällt nicht vom Himmel. Der Traum auch nicht. Sie sind angelegt. Sie haben Wurzeln, die tief ins Erdreich reichen und die sogar Luftwurzeln in Form einer Himmelsleiter bilden.

Wir Menschen sind Wesen zwischen Himmel und Erde. Wir sind irdisch und   zum Himmel hin aufgerichtet.

Die Geschichte Abrahams, Isaaks und Jakobs geht weiter – bis heute. Sie wird erzählt und damit wird ein Erfahrungsraum für den Himmel geöffnet. Es gibt eine Leiter zum Himmel, zu der verborgenen Wirklichkeit, die wir Gott nennen.

Jakob ist aufgebrochen in ein neues Leben. Sein Leben wird von Gott begleitet. Auch in unserem Leben gibt es Aufbrüche. Vielleicht mehr als wir denken – bis ins hohe Alter hinein. Wir sind unterwegs, selbst wenn sich äußerlich wenig ändert. Wir leben mit dem, was uns begegnet. Eine gute Nachricht. Eine schlechte Nachricht. Eine verrückte Welt voller Gewalt und Umbrüche. Eine wunderbare Welt voller Leben, Einsatz für den Frieden und Menschlichkeit. Zeichen der Fürsorge und Güte Gottes.

Jakob hat den Zuspruch Gottes gehört.

Jakob war auf der Flucht. Er fürchtete um sein Leben. Er war allein und doch nicht allein. Jakobs Engel haben ihn mit Gott verbunden. Jakob hat den Zuspruch Gottes gehört. Wir alle brauchen Zuspruch. Ermutigung auf unserem Weg. Und sei es, dass wir uns mit unseren kleineren und größeren Macken annehmen können, letztlich mit dem, wie wir geworden sind. Auch Schuld und Brüche gehören zu unserem Leben. Dennoch nimmt uns Gott an, kappt nicht die Verbindung. Zeigt uns den nächsten Schritt.

Hinweise für unseren Weg können Träume sein in denen Gott zu uns spricht. Du bist nicht allein. Du kannst dich mit Gott verbinden und gleichzeitig verbindet sich Gott mit dir durch Engel und Zeichen am Wegesrand. Und wir selbst können auch zu Engeln werden für andere, die wir trösten und ermutigen durch Worte und einfach, dass wir da sind. Es geht um Verbindung. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Jakob hat gesehen und gehört, dass er mit Gott verbunden ist. Das war eine überwältigende Erfahrung.

Hier ist mir Gott begegnet. Dafür hat er seinen Stein, auf dem er in der Nacht seinen Kopf abgelegt hat, aufgerichtet. Ein Gedenkstein. Ein heiliger Ort für ihn. Ein Stein, der seine Gotteserfahrung repräsentiert. Ein Stein aus dem später Beth-El wurde. Ein Haus des lebendigen Gottes. Bleiben wir unterwegs, ob unser Radius klein oder groß ist, das macht nichts, überall können wir uns zu Gott aufmachen und Gottes Botschaft hören, selbst im Schlaf.

Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025, Rezension zu Hartmut von Sass: Atheistisch Glauben. Ein theologischer Essay,

Matthes & Seitz, Berlin 2024. Vierte Auflage

Gott atheistisch gedacht

Gott hat nach dem Theologen und Religionsphilosophen Hartmut von Sass keine Geschichte, dennoch können Geschichten von ihm erzählt werden, wie etwa biblische Geschichten. In seinem Essay Atheistisch glauben entfaltet Hartmut von Sass keine Gotteslehre, sondern entwirft eine Architektur des Glaubens im 21. Jahrhundert. Im neuen Haus des Glaubens schreibt von Sass christliche Tradition fort und plädiert für einen existentiellen Glauben, der sich im Alltag und in der Welt bewährt.

Gott als Person hat ausgedient

Es ist von Sass wichtig zu zeigen, dass der Glaube auch dann nicht zu Ende ist, wenn es keine andere Welt neben dieser Welt, etwas ein Jenseits oder Gott als Subjekt (Person) gibt. Im Gegenteil: Glaube (ohne Netz) macht die Welt neu und Erfahrung des Glaubens schenkt eine neue Sicht auf die Welt. Hartmut von Sass unternimmt nichts Geringeres, als einen Glauben ohne Gott (Subjekt) zu skizzieren. Einen solchen Glauben bezeichnet er als atheistisch. Jegliche Metaphysik und jeglicher Theismus sind darin überwunden.

Der Glaube bereichert die Welt

Da der Glaube ein „menschlich Ding“ ist, ist er ein Weltaspekt, der neben anderen Weltaspekten und Zugängen, wie etwa ein naturwissenschaftlicher oder ein ökonomischer die Welt bereichert. Anhand der Ästhetik (Kunst) macht Hartmut von Saß deutlich, dass der Weltzugang immer mit dem Rezipienten zu tun hat. Darin ähneln sich Kunst- und Glaubenserfahrungen. Glauben wird als eigenständige religiöse Erfahrung in der Welt als gleichberechtigt gegenüber anderen Sicht- und Zugangsweisen zur Welt verortet. Dieser Glaube steht nicht in Widerspruch zu wissenschaftlichen Aussagen, auch kennt ein solcher Glaube keine Theodizee. Wo kein Gott ist, der rettend in die Welt eingreift, ist eine Theodizee überflüssig. Damit werden auf einem Schlag viele theologische Fragestellungen ad absurdum geführt. Nicht das Warum ist die entscheidende Frage, sondern das Wohin. Wie bewährt sich der angefochtene Glaube in Krisen und Leiden, ist eine weiterbringende Fragerichtung.

Glaube als Modus

Hartmut von Sass spricht von einem modalen Glauben. Im Modus des Glaubens leben und seine ganze Existenz darin verorten, qualifiziert das Leben als religiös. Wenn auch Hartmut von Sass die theologische Rede von einem handelnden Gott atheistisch verneint, so spricht er von Gott als Macht, die in menschlichem Leben wirklich wird. Gott ereignet sich. Diese Wirklichkeit Gottes ist und bleibt gebunden an der menschlichen Erfahrung. Außerhalb der menschlichen Erfahrung kann diese Wirklichkeit nicht qualifiziert werden. Wobei Hartmut von Sass festhält, dass Gottes Offenbarung nichts anderes sein kann als seine Liebe (1 Joh 4,16).

Eschatologie im Hier und Jetzt

Da Gott sich im Hier und Jetzt ereignet, entwickelt Hartmut von Sass im johanneischen Geist eine präsentische Eschatologie. Ein ewiges Leben bei Gott jenseits des Todes, etwa in „Gottes neuer Welt“, gehört bei ihm nicht zur Architektur eines modernen Glaubens. Hartmut von Sass bleibt sich treu, lediglich aus religiösen Erfahrungen über Gott zu reden. Da es keine Erfahrungen jenseits des Todes gibt, endet mit dem irdischen Leben das Leben selbst (Ganztodthese).

Ohne Gott an Gott glauben?

Der Mythos erzählt von Gott als handelndes Subjekt. Immer wieder wurden religiöse Erfahrungen von Menschen in einem komplexen Geflecht in Sprache, Glaubenssätze und später Dogmen überführt. Das sehen wir besonders in der Christologie, wie aus Jesus von Nazareth dem Menschensohn der Gottessohn wurde. Aus meiner Sicht nimmt Hartmut von Saß dem christlichen Glauben das Geheimnis, wenn seine Architektur des Glaubens nur religiöse Erfahrungen gelten lässt, nicht aber ein systematisch-theologisches Denken darüber, welche Macht hier erfahren wird. Wer oder was offenbart sich hier? Wer oder was entzieht sich hier? Wie kommt es zu einer religiösen Erfahrung oder gar Gewissheit? Ferner: Am Anfang steht der Mythos. Die Gotteserfahrung wird mit der Sprache des Mythos gedeutet. Daraus entstehen Glaubenssätze, die überliefert werden. Die Ähnlichkeit und Differenz zwischen Mythos, Erfahrung und Dogma (Vernunft) führt in eine produktive Spannung in der Ökumene, im Dialog der Religionen, im Gespräch mit modernen Wissenschaften und im Lebensvollzug (Ethik/Kultur).

Die Produktivität der Spannung zeigt und löst sich im theologischen Ansatz Hartmut von Sass auf: Ohne Gott an Gott zu glauben. Wie aber kann der Glaube ohne Gottes Handeln den Mythos bewahren? Und ist atheistisch Glauben nicht unter der Hand ein neues Dogma?

Joachim Leberecht