Lesung und Ansprache – Christoph Fleischer – zum Einschulungsgottesdienst der Conrad-von-Ense Schule am 17.08.2009

Lesung Jesus Sirach, Kapitel 6 (Gute Nachricht Bibel)

5 Durch freundliche Worte gewinnst du viele Freunde

und einleuchtende Rede verschafft dir ihre Zustimmung.

6 Menschen, die dich grüßen, solltest du viele haben;

aber als Ratgeber nimm nur einen unter tausend!

7 Wenn du jemand zu deinem Freund machen willst,

dann vertrau dich ihm nicht zu schnell an;

finde zuerst heraus, ob er es verdient.

8 Mancher ist dein Freund, solange es für ihn nützlich ist;

aber sobald du in Schwierigkeiten gerätst, ist er nicht mehr da.

9 Es gibt Freunde, die fangen Streit mit dir an und hängen es gleich an die große Glocke;

dann kommst du ins Gerede.

10-11 Es gibt Freunde, die mit an deinem Tisch sitzen,

solange bei dir alles zum Besten steht.

Sie folgen dir wie dein Schatten und befehlen deinen Dienern, als wären es ihre eigenen.

Aber sobald du in Schwierigkeiten gerätst, verschwinden sie.

12 Wenn es dir schlecht geht,

wollen sie nichts von dir wissen und lassen sich nicht mehr sehen.

13 Halte dich fern von deinen Feinden und

nimm dich in Acht vor deinen Freunden!

14 Ein zuverlässiger Freund ist wie ein sicherer Zufluchtsort.

Wer einen solchen Freund gefunden hat, der hat einen wahren Schatz gefunden.

15 Er ist nicht zu bezahlen und mit nichts aufzuwiegen.

16 Ein zuverlässiger Freund ist ein echtes Heilmittel;

wer dem Herrn gehorcht, findet einen solchen Freund.

17 Ein Mensch, der sich an den Herrn hält,

kann auch rechte Freundschaft halten;

denn der Freund, den er wählt, passt zu ihm.

Monatsspruch August 2009: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Numeri 6,24-26

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern und Verwandten, liebe Lehrerinnen und Lehrer,

Der Segens-Spruch den ich vorgelesen haben, passt ganz gut zum vorgesehen Thema: Lächeln. Irgendjemand sagte einmal, Das Lächeln ist die netteste Art, jemandem die Zähne zu zeigen! Wir begegnen anderen Menschen, und egal ob es neue Freunde sind oder jetzt völlig fremde Gesichter, wir lesen in ihren Gesichtern unheimlich viele Botschaften, und umgekehrt, sie in unserem Gesicht. Es geht dabei um pure Menschlichkeit. Das nimmt jeder Angst und jeder Sorge den Wind aus den Segeln, denn die anderen zeigen uns: Wir sind Menschen, wie Du auch. Das gilt im Übrigen auch für Eure Lehrerinnen und Lehrer. Wir begegnen einander menschlich in unseren Gesichtern. Das menschliche Gesicht ist ein Phänomen. Es zeigt allgemeine Züge, es zeigt weibliche und männliche Züge und es ist auch ganz individuell. So gehen wir immer wieder aufeinander zu und wecken damit instinktiv aneinander auch die Neugier! Was macht der oder die andere so, denkt sie oder er vielleicht sogar ganz genauso wie ich? Vielleicht entdecken wir schon auf dem ersten Blick den Freund oder die Freundin! …

Wir begegnen also einander in Gesichtern, im Angesicht, früher sagte man im Antlitz. Und besonders sympathisch ist es uns, wenn diese Gesichter lächeln. In dem Segenswort, das wir gehört haben, wird genau dies von Gott gesagt, wenn er und Gutes wünscht und segnet. Gott kommt uns entgegen und begegnet uns im Lächeln seines Gesichts, ganz unsichtbar, versteht sich.

Das heißt zum einen: Gott begegnet uns freundlich. Gott will, dass es uns gut geht. Er begegnet uns, wie wir einem freundlichen Gesicht begegnen. Man kann auch sagen, dass Gott in Jesus unser guter Freund geworden ist. Gott sagt: „Ich segne dich und behüte dich.“

Das zweite ist: Gott begegnet uns in jedem menschlichen Gesicht. Jedes menschliche Gesicht ist das uns Fremde, das ganz andere. Wir Menschen können uns nahe kommen, und werden uns doch einander immer auf eine bestimmte Art respektieren müssen, weil wir anders sind, und verschieden. Gott sagt: „Ich lasse dein Angesicht leuchten über dir und bin dir gnädig.“

Im dritten Satz wird dies mit anderen Worten noch einmal betont: Gott kommt uns nah. Sein Wort ist seine Gegenwart. Das Lächeln Gottes wird damit zu einem guten Wort, zum Wort Segen. Gott sagt: „Ich hebe mein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“

Und so kommt in diesem Wort des Segen doch beides zusammen, die Nähe Gottes und sein Lächeln und die Nähe der Menschen und ihr Lächeln. Gott ist Mensch geworden in Jesus, zu Weihnachten im Kind in der Krippe. (Daher ist auf manchen Krippendarstellungen das Jesuskind mit einem Lächeln gemalt worden.) Gottes Zeichen unter uns Menschen ist seitdem das menschliche Lächeln.

Um daran zu erinnern bekommt jetzt jeder Schüler und jede Schülerin, die heute neu anfangen einen Smile-Aufkleber, der dann bitte auf das Lerntagebuch geklebt werden soll, das Bild eines Lächelns.

Das Betheler Bekenntnis. Kurze Einführung und Zusammenfassung von Christoph Fleischer, Werl 2008

Das Betheler Bekenntnis wurde im August 1933 unter der Mitarbeit von Dietrich Bonhoeffer und der Verantwortung von Friedrich von Bodelschwingh als das geplante Bekenntnis der „Deutschen Evangelischen Kirche“ verfasst. „Das Betheler Bekenntnis. Kurze Einführung und Zusammenfassung von Christoph Fleischer, Werl 2008“ weiterlesen

Beobachtungen zur Biografie Dietrich Bonhoeffers. Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2010

Zu Dietrich Bonhoeffer Jahrbuch 3, Dietrich Bonhoeffer Yearbook 3, 2007/2008, Hrsg. Von Victoria J. Barnett u.a. ISBN 978-3-579-01893-5, 49,95 Euro.

Die zu einer Rezension doch recht flüchtige Lektüre eines Buches kann dennoch dazu führen, sich einige Fragen zu stellen, Fragen nicht an das Buch, auch keine Fragen die das Buch hinterfragt, sondern Fragen, die den Leser motivieren, sich mit der Sache intensiver zu befassen. Im Falle des vorliegenden Buches, aber sicherlich nicht nur hierbei, könnten dies auch Fragen sein, die eine bestimmte öffentliche Meinung über eine Sache oder Person in Frage stellen, da von den hier dokumentierten Quellen und Diskussionsbeiträgen neue Fragen entstehen.
Da sich dies alles auf die Person und den Menschen Dietrich Bonhoeffer bezieht, so muss ich schon allein dadurch feststellen, dass sich auch hierbei wieder zeigt, dass sich Dietrich Bonhoeffer noch über 60 Jahre nach seinem Tod nicht endgültig erschließen oder festlegen lässt – oder ist dies auch nur ein Beispiel dafür, dass dies letztlich für jeden von uns gilt? „Beobachtungen zur Biografie Dietrich Bonhoeffers. Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2010“ weiterlesen

Vom ‚Vorhof der Heiden‘ Notiz von Christoph Fleischer, Werl 2010

Trotz allem, was die katholische Kirche im Moment erschüttert, dass sie nämlich offen vor die Konsequenzen ihrer jahrelangen Vertuschungspolitik gestellt wird, lese ist gerade im Rundschreiben das Vatikans eine interessante Notiz:

Vatikan: eine Stiftung für den Dialog zwischen der Kirche und den Nichtgläubigen:

http://www.zenit.org/article-19921?l=german

In diesem Abschnitt wird der Dialog des Vatikans mit Organisationen von Nicht-Gläubigen und Atheisten in Aussicht gestellt. Dies halte ich für eine großartige Geste. Als Gründungsort dieser Stiftung wird Paris in Aussicht gestellt. Es geht darum, wahrzunehmen, dass die Positionen der Gottsucher und Atheisten auch von einer bestimmten für sie eignen Spiritualität geprägt sind. Erzbischof Gianfranco Ravasi, der Präsident des päpstlichen Rates für die Kultur, stellte diese Idee mit folgenden Worten vor: Absicht des Vatikans sei es, „den Raum der Spiritualität der Gottlosen zu studieren und die Thematiken der Beziehung zwischen Religion Gesellschaft, Frieden und Natur zu entwickeln. … Mit dieser Initiative möchten wir allen helfen, aus einer verkümmerten Konzeption des Glaubens herauszukommen und zum Verständnis zu kommen, dass die Theologie von wissenschaftlicher Würde mit einem epistemologischen Status ist.“

Diese Ankündigung bezieht sich auf eine Rede des Papstes am 21.12.2009, in der aus der Konsequenz seines Besuches in Paris 2008 sich auf die Frage des Gottsuchens bezog:

„Als ersten Schritt von Evangelisierung müssen wir versuchen, diese Suche wachzuhalten; uns darum mühen, dass der Mensch die Gottesfrage als wesentliche Frage seiner Existenz nicht beiseite schiebt. Dass er die Frage und die Sehnsucht annimmt, die darin sich verbirgt. Hier fällt mir das Wort ein, das Jesus aus dem Propheten Jesaja zitiert hat: dass der Tempel von Jerusalem ein Gebetshaus für alle Völker sein solle (Jes 56,7; Mk 11,17). Er dachte dabei an den sogenannten Vorhof der Heiden, den er von äußeren Geschäftigkeiten räumte, damit der Freiraum da sei für die Völker, die hier zu dem einen Gott beten wollen, auch wenn sie dem Geheimnis nicht zugehören konnten, dem das Innere des Tempels diente. Gebetsraum für alle Völker – dabei war an Menschen gedacht, die Gott sozusagen nur von ferne kennen; die mit ihren Göttern, Riten und Mythen unzufrieden sind; die das Reine und Große ersehnen, auch wenn Gott für sie der »unbekannte Gott« bleibt (Apg 17,23). Sie sollten zum unbekannten Gott beten können und damit doch mit dem wirklichen Gott in Verbindung sein, wenn auch in vielerlei Dunkelheit. Ich denke, so eine Art »Vorhof der Heiden« müsse die Kirche auch heute auftun, wo Menschen irgendwie sich an Gott anhängen können, ohne ihn zu kennen und ehe sie den Zugang zum Geheimnis gefunden haben, dem das innere Leben der Kirche dient. Zum Dialog der Religionen muß heute vor allem auch das Gespräch mit denen hinzutreten, denen die Religionen fremd sind, denen Gott unbekannt ist und die doch nicht einfach ohne Gott bleiben, ihn wenigstens als Unbekannten dennoch anrühren möchten.“

Quelle:http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2009/december/documents/hf_ben-xvi_spe_20091221_curia-auguri_ge.html

Die Interpretation der symbolischen Tempelreinigung Jesu bezieht sich darauf, dass der damalige Vorhof der Heiden, der zu einem Marktplatz geworden war, wieder zu seiner ursprünglich gedachten Funktion würde, einem Versammlungs – und Gebetsplatz der Angehörigen aller Völker, die hier zusammenkamen um zu beten, ohne dass sie den inneren Bereich des Tempel hätten betreten dürfen. Die Verbindung dieser Aktion mit der Tempelreinigung Jesu als ein Akt der Befreiung von den Gesetzen des Marktes halte ich für sehr gut und weiterführend. Der Papst allerdings hält hier an der Analogie Kirche und Tempel fest, die das Bild seiner Rhetorik hier bestimmt. Die Interpretation der Tempelreinigung Jesu müsste aber dann auch bedeuten, dass Jesus gerade diesen Vorhof des Tempel zur Begegnungsstätte des neuen Gottesvolkes gemacht hat, ein Volk aus allen Völkern, ein Volk derjenigen, die vor den Anhänger der alten Religion als Ungläubige dastehen! Es ist daher gut, dass der Erzbischof Ravasi im Gegensatz zum Papst den Dialog mit Agnostikern und Atheisten nicht in einen Zusammenhang mit Evangelisierung oder Mission stellen will, sondern in den Zusammenhang mit Dialog.

Der Vorhof der Heiden wird zur Versammlungsstätte der Kirche Jesu. Das hatte Jesus beabsichtigt und das ist Pfingsten Wirklichkeit geworden. Die Kirche, nicht nur die katholische, wird sich fragen lassen müssen, ob sie dieser Öffnung auch zustimmt, oder ob sie weiterhin meint, sie wäre im exklusiven Besitz der Wahrheit. Die Initiative, den Vorhof der Heiden in der Nachfolge Jesu wiederzuentdecken, ist eine gute Anregung!

Abschied von der Utopie. Christoph Fleischer, Werl 2010

Zitate aus einem Interview mit dem englischen Philosophen John Gray theologisch gelesen.

Im Zentrum dieses Denkens steht die Kritik des Humanismus:

John Gray: „ Mir geht es darum, die menschliche Beschränkung aufzuzeigen und anzuerkennen. Der Mensch hat keinen Anspruch auf eine gottähnliche Sonderstellung in der Natur. Deshalb plädiere ich für eine Abkehr von unserer Selbstüberhöhung, vom Anthropozentrismus, als könnten wir immer und überall die Herren unseres Schicksals sein. Wir Menschen können die Welt dien retten, doch das ist kein Grund, zu verzweifeln. Wenn sie so wollen, drehe ich die berühmte elfte These von Marx zu Feuerbach um: Es geht nicht darum, die Welt zu verändern, sondern darum, sie richtig zu sehen.“

Es ist klar, dass die Bibel beides verkündigt, einerseits ist sie eine der stärksten Quellen der zentralen Stellung des Menschen als „Bild Gottes“ und als „Verwalter der Erde“ im Auftrag des Schöpfers. Andererseits ist der Mensch allgemein und auch die konkreten Machthaber auch der eigenen Color stets auf den Grundwiderspruch hinzuweisen, der den unendlichen Unterschied zu Gott selbst betont. Der Mensch darf sich also nicht selbst vergöttlichen und wo er dies tut, verstößt er gegen das erste Gebot. Die hauptaussage des ersten Gebots ist heute nicht mehr die des unbedingten Gehorsams einem göttlichen Herrscher gegenüber, sondern, in Anerkenntnis seiner Barmherzigkeit, der Erkenntnis dessen, dass Humanismus, also die Vergöttlichung der menschlichen Gattung in die Irre führt. Der Fortschrittsglaube ist die Erfindung der menschlichen Hybris:

John Gray: „Das westliche Denken hat so etwas wie einen säkularen Monotheismus entwickelt. Die Idee des Fortschritts in der Geschichte ist der ins Säkulare gewendete Glaube an die Vorsehung. Im Judaismus, im Christentum hat die Menschheitsgeschichte einen Sinn, weil sie auf das Heil zustrebt. Aber dieser Sinn ist von Gott gegeben, wir können ihn nicht erkennen. Deshalb sollten wir demütig bleiben; es wäre geradezu gotteslästerlich, wollten wir den Anspruch erheben, Gottes Ziel in der Geschichte zu entschlüsseln und herbeizuführen. .. Ich behaupte, dass die Grundüberzeugung der Humanisen, die Geschichte der Menschheit sei eine Fortschrittsgeschichte, ein Aberglaube ist. Insofern ist der echte religiöse Glaube ein nützlicher Damm gegen die menschliche Hybris.“

Mit dem Begriff Humanismus ist also nicht die Idee der zwischenmenschlichen Barmherzigkeit gemeint, sondern die Vorstellung, dass die menschliche Rasse die Krone der Schöpfung sei. Im Fortschrittsglauben entdeckt John Gray daher eine Gestalt menschlicher Religion. Wer hier destruiert muss gleichzeitig vor der Wunderkraft der Moral resignieren und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse relativieren.

John Gray: „Ich glaube durchaus an universelle Werte, aber nicht an ihre Durchsetzung um jeden Preis. Wenn sie das Unmögliche zu erreichen versuchen, schaffen sie neues und oft genug noch schrecklicheres Böses. Deshalb widersetze ich mich ganz entschieden der Vorstellung, internationale Beziehungen zwischen Staaten als Bühne für die Verbreitung weitreichender Ideale zu benutzen – schon gar nicht als bewaffnete Mission.“

An praktischen Beispielen des sogenannten Fortschritts durch politische Aktionen und der Erfahrung, dass sie oft genug ins Gegenteil umschlagen, wird deutlich, wie wenig glaubwürdig der sogenannten Einsatz für das Gute ist. Die realistische Einschätzung der politischen Verhältnisse führt zur Aufhebung jedes Dogmatismus.

John Gray: „Was gewonnen wird, kann in einem Lidschlag der Geschichte wieder verloren gehen. In einem Lidschlag! Die irakischen Frauen waren unter dem Regime von Saddam Hussein freier, als sie es heute sind. Der Sowjetkommunismus war eine Art Industriesklavensystem, nicht nur im Gulag. Und wie leicht Folter wieder tragbar werden kann, haben wir in Guantanamo und in Abu Ghuraib gesehen. Ganz zu schweigen von den Menschenrechten in China, die von westlichen Gesprächspartnern mit Engelszungen angemahnt werden. Dabei ist China heute, verglichen mit dem Maoismus, eine aufgeklärte, ja wohlwollende Diktatur.“

Die Ursache für diese Verhaltensweisen und ihre Konsequenzen im geselschafltichen handeln der Menschen liegt im Wesen des Menschen selbst verborgen. Dazu führt John Gray als Zeuge den Psychoanalytiker Sigmund Freud heran.

John Gray: „Für mich war der größte Denker der Aufklärung im 20. Jahrhundert Sigmund Freud. Er sah in der Zivilisation eine Art Schutzmaßnahme des Menschen gegen sich selbst. Denn der Mensch ist nicht nur Eros, sondern auch Thanatos – mit seiner Neigung zu Aggression, Grausamkeit und Zerstörung. Deshalb ist jeder Fortschritt zweischneidig. Die Mehrung des Wissens erhöht die Macht des Menschen, zum Guten wie zum Bösen, über die Natur wie über andere Menschen. Der Homo sapiens ist und bleibt immer auch ein Homo rapiens, ein Räuber mit ungeheurer destruktiver Kraft, der die Welt in den Untergang führen kann.“

Und dann bestätigt er ausdrücklich den Mythos vom Sündenfall, der nun nicht seinerseits zu einer negativen Anthropologie führen darf, sondern nur zu einer Verweigerung gegenüber jeder menschlichen Selbstverherrlichung auch der Religiösen. Der Mensch ist Kind Gottes, aber in Gemeinschaft aller Geschöpfe.

John Gray: „Wissen macht uns nicht frei. Ja, das ist eine unstatthafte, schwer erträgliche Wahrheit. Seit Sokrates beruht das westliche Denken auf der Annahme, dass die Erkenntnis des Wahren unweigerlich zum Guten führt. Die Genesis der Bibel, der Mythos vom Sündenfall, sagt etwas anderes. Die Unschuld ist verloren, sie lässt sich nicht wiedergewinnen. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber wir bleiben zu jeder Torheit und zu jeder Bosheit imstande. … Der Nihilismus… verliert seinen Schrecken, wenn wir uns von der Zwangsvorstellung lösen, das menschliche Leben müsse vor dem Sturz in den Abgrund der Sinnlosigkeit bewahrt werden. Ein gelungenes oder erfülltes Leben beruht nicht auf der Kapazität, einen Beitrag zur Weltverbesserung zu leisten. Die Gewissheit, dass es kein Heil gibt, ist selbst das Heil, so hat es der Schriftsteller E. M. Cioran formuliert. Das Leben hat keine Bedeutung, die über es selbst hinausweist. … Für die Moralphilosophen ist die Kontingenz, die Zufälligkeit der menschlichen Existenz ein permanenter Skandal. Aber im Grunde ahnen wir, dass uns nichts gegen Schicksal und Zufall verlässlich schützen kann. … Jedenfalls kann das Leben nicht im Versuch bestehen, irgendein Ideal zu verwirklichen. Wir müssen erkennen – und uns damit abfinden -, wie unfrei wir in Wirklichkeit sind. Da selbstbestimmte Leben ist ein moderner Fetisch. Wer die Welt durch Willenskraft verändern will, kommt dem Terrorismus im Namen der Vernunft oder des Guten gefährlich nahe, wie die Jakobiner während der Französischen Revolution oder die Bolschewiken und Lenin, Trotzki und Stalin gezeigt haben.“

Die Folge besteht nicht darin, auf den Gedanken des Sinns ganz zu verzichten, sondern darin, die Zufälligkeit aller Ereignisse einzubeziehen. Der freie Wille, den es nur im Hinblick auf die Gestaltung des Alltags gibt, ist keine Entscheidung zwischen Gut und Böse. Damit wird Luthers Entscheidung gegen den freien Willen faktisch bestätigt! Fall Religionen „Illusionen“ wie es die Humanisten sagen, dann sind sie vielleicht „notwendige Illusionen“. Sie dürfen aber nicht dazu dienen, die faktische Unfreiheit des Menschen, die Unfähigkeit eine Moral zu verwirklichen durch die Hintertür wieder einzuführen. Gott darf keine Chiffre der menschlichen Selbstrechtfertigung sein. Gott darf auch keine Chiffre der „Erlösung“ sein, obwohl das die Religion der Bibel ja zumeist verkündigt, weil aus die der Erlösung schnell eine Ideologie der menschlichen Selbsterlösung wird und Mission in Unterwerfung umschlägt. Gott ist uns nahe und bleibt uns immer fremd.

Quelle: Wochenzeitschrift Der Spiegel, Nr. 9/2010 vom 01.03.2010

Bücher von John Gray: „Von Menschen und anderen Tieren: Abschied vom Humanismus“. Klett-Cotta 2010 und „Politik der Apokalypse: Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“. Klett-Cotta 2009