„Wo ist denn Christus jetzt? Der ist doch irgendwo! Wenn ich sage, er ist überall vorhanden, er ist sogar im Menschen selbst, dann heißt das, er ist da. Die Entwicklung des Christentums ist nur so denkbar, dass dieses ‚Ich werde euch frei machen‘ zunächst gar nicht geschieht. Zunächst muss der Mensch erst einmal durchmachen, was Christus selbst durchgemacht hat. Er muss auf der Erde ankommen, das heißt, er muss sich erst einmal an der Materie reiben. Er muss das Todeselement erleben, erleben, dass er in Einsamkeit dasteht und nach seinem Wesen und dem Wesen der Welt fragt.“
Die Wahrheit wird euch freimachen, sagt Christus im Johannesevangelium (Joh 8,32). Diese Wahrheit sieht Beuys in der Menschwerdung des Menschen. Der Mensch wird auf die Erde gespuckt. Er ist da. Er hockt auf dem Boden und will sich doch frei erheben, aufrecht gehen auf dieser Erde. Das gelingt aber nur, wenn er sich an der Erde reibt, wenn er seine Erdenexistenz annimmt, seine Sterblichkeit, seine extreme Einsamkeit im Kosmos. Hat ein Mensch diese geistig-seelische und physische Krise, dass er Staub ist und zu Staub wird, durchlebt, fängt er an, wesentlich zu werden und nach „dem Wesen der Welt“ zu fragen. Die Materie ist nicht alles. Diese Erkenntnis, dass es neben der materiellen Welt eine geistige Welt gibt, ist wie eine Neugeburt. Das ist die Geschichte des Christentums. Christus ist da. Christus ist nicht tot. Christus ist im Menschen. Im Menschen, der zu seinem geistigen Wesen durchgedrungen ist.
Der Künstler Joseph Beuys hat eine spirituelle Sicht auf den Menschen und auf die Welt. Sein gesamtes Werk ist eine Kritik an einer rein materialistischen Weltsicht, wie er selbst sagt:
Ich sage nur: es [die rein materialistische Weltsicht] ist eine einseitige Methode, ganz schlicht. Wer den Materialismus über alle Probleme der Welt stülpen will, tötet den Menschen ab, weil er eine in Teilbereichen richtige Methodik anwendet auf das Ganze.
Ich verstehe meine künstlerische Arbeit als religiöse Aufgabe, als Konfrontation mit dem Verdeckten.
Joseph Beuys, 1921 geboren in Kleve und im niederrheinischen Krefeld in einer streng katholischen Familie aufgewachsen, trat aus der Institution der Katholischen Kirche aus, beschäftigte sich aber weiter mit dem Christentum. Sein Lehrer Ewald Mataré an der Kunstakademie in Düsseldorf eröffnete ihm ein eigenständiges Verständnis des Kreuzes Jesu. Zu Anfang hat Beuys noch ganz traditionell den Gekreuzigten und das Kreuz dargestellt. Das hat ihm irgendwann nicht mehr genügt, da ausschließlich eine Leidensgestalt im Mittelpunkt stand. Im Studienjahr 1947/1948 entsteht ein Sonnenkreuz. Das Mysterium des Kreuzes wird darin mit kosmischen Kräften in Beziehung gebracht. Beuys spürte, dass die traditionelle Christusdarstellung den mystischen Christus, der mit seinem Licht den ganzen Kosmos durchdringt, nicht mehr adäquat zur Sprache brachte. Sein Sonnenkreuz aus Bronze nahm seine künstlerische Entwicklung vorweg, sich mit Energien und Kräften auseinanderzusetzen, die unmittelbar auf die Menschen und die Welt einwirken. Dieser Christus ließ sich nicht kirchlich bändigen, sondern setzte künstlerische Kreativität frei.
Bildnachweis: https://www.lempertz.com/de/kataloge/lot/998-1/521-joseph-beuys.html
abgerufen am 29.05.202
Im erwähnten Interview resümiert Beuys:
Die alten Glaubenskräfte sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Du musst erst deinen Glauben verlieren, so wie Christus für einen Augenblick seinen Glauben verloren hat, als er am Kreuz war. Das heißt, [du] muss[t] selbst sterben, [du] muss[t] völlig verlassen sein von Gott wie Christus damals in diesem Mysterium verlassen war.
Für Beuys ist das Prozesshafte wichtig. Der Prozess führt, wie schon das Kreuz Jesu zeigt, durch das Sterben und die völlige Gottverlassenheit zu einem neuen Leben in der Auferstehung. Vom Boden erheben muss sich der Mensch aber selbst, aus eigener Kraft. Kein Gott und kein Christus helfen ihm dabei.
Auferstehen muss der Mensch schon selbst.
Wenn der Mensch sein kreatives Potential entdeckt, seine Gefühle wahrnimmt und seiner Intuition vertraut, wird er zur Heilung der Welt beitragen. In diesem Sinn ist jeder Mensch für Beuys ein Künstler. Deshalb gehört auch die Kunst nicht hermetisch abgeriegelt in eine Kunstwelt, sondern mitten in die Gesellschaft. Provokative Kunst irritiert und hat Transformationskraft. Die Transformation der Gesellschaft geht laut Beuys nicht von Parteien oder Institutionen aus, die Teil des Systems sind. Veränderung kann nur von außen durch veränderte Praxis kommen.
Beuys sieht im Leben, in der Gesellschaft, ja, im ganzen Kosmos eine treibende Kraft. Sie nennt er Christuskraft. In der Kirche als Institution ist diese Kraft für ihn nicht mehr lebendig. Parallel zur erstarrten Parteien-Demokratie und parallel zu einem Staat, der zu sehr in die Freiheit der Einzelnen eingreift, gilt es nach Beuys, die Institution Kirche zu überwinden, damit die Christuskraft sich frei entfalten kann. Lapidar stellt Beuys fest:
Der Christusimpuls ist innerhalb der Kirche nicht mehr gegenwärtig.
Aus meiner Sicht legt Joseph Beuys mit solchen Aussagen den Finger in die Wunde Kirche. Natürlich könnte ich mit theologischen Argumenten seine Wahrnehmung abwehren, aber ich glaube, dass es spirituelle Menschen außerhalb der Kirchen gibt, die tiefer und schärfer erkennen, was die Krise der Kirche ist, als sie selbst. Es gibt eine prophetische Kritik an der Institution Kirche, einschließlich der verwalteten Gemeinden vor Ort, auf die wir besonders hören sollten. Beuys ist eine Stimme davon. Hier ist vor einer Auseinandersetzung und kritischem Nachfragen vor allem Demut und Selbstkritik angesagt.
Wenn wir Beuys´ Kritik heute hören, fällt mir als erstes der Missbrauchsskandal ein, der die Kirchen seit gut zehn Jahren umtreibt und jede Menge Vertrauen kostet. Wo ist hier in der Kirche Christus zu spüren?
Auch frage ich mich, inwieweit die christlichen Gemeinden und Kirchen überhaupt etwas Grundsätzliches mit Christuskraft anstoßen oder bewegen. Ich habe eher den Eindruck, dass wir den Entwicklungen der Gesellschaft hinterherlaufen, dass wir juristisch alles haarklein umsetzen, was der Gesetzgeber von uns verlangt, anstatt selbst auf positive rechtliche und andere Veränderungen hinzuwirken. Wir sind Kitt in der Gesellschaft, ja, aber anstößig und irritierend wie Christus, war die Kirche seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert nicht mehr. Wir sind oft viel zu viel mit uns selbst beschäftigt. Die Selbsterhaltungskräfte der Institution Kirche sind groß. Auch das hat die Pandemie gezeigt. Kirchen konnten sich stumm aus dem öffentlichen Leben verabschieden, fast ihre gesamte Gemeindearbeit einstellen oder digital organisieren. Es passiert nichts. Es läuft einfach weiter. Das Geld für die Religionsbeamten fließt.
Und niemand merkt es. Und niemand nimmt Anstoß daran. Im Gegenteil, Kirche klopft sich auf die Schulter und lobt sich, wie digital sie geworden ist.
Und das Gebet?
Und der Christusglaube?
Und die Christuskraft?
Vielleicht würden wir nicht als überflüssig wahrgenommen oder überhaupt wahrgenommen, wenn wir uns wieder stärker auf die Christuskraft besinnen? Damit ist natürlich keine bloße Fixierung auf Christus oder das Wiederholen von dogmatisch richtigen Sätzen gemeint (wie im endlosen Streit um das rechte Verständnis von Abendmahl und Eucharistie), sondern ein inneres Erleben von Christus und seiner Kraft, eine Leidenschaft für das Leben, ein sich dem Geist Christi überlassen und sich von ihm in die Welt senden lassen.
Auf jeden Fall sollten wir Christus größer denken und fühlen, als wir es in der Kirche landläufig tun. Christus kommt uns von außen entgegen, klopft bei uns an, weil er in uns leben will. Auf den inneren Christus weist Beuys besonders hin. Dieser Christus bleibt aber nicht in der subjektiven Innerlichkeit, sondern drängt ins außen, hin zum Reich Gottes.