Predigt zu Joseph Beuys´ Glaube an die Christuskraft, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

Wo ist denn Christus jetzt? Der ist doch irgendwo! Wenn ich sage, er ist überall vorhanden, er ist sogar im Menschen selbst, dann heißt das, er ist da. Die Entwicklung des Christentums ist nur so denkbar, dass dieses ‚Ich werde euch frei machen‘ zunächst gar nicht geschieht. Zunächst muss der Mensch erst einmal durchmachen, was Christus selbst durchgemacht hat. Er muss auf der Erde ankommen, das heißt, er muss sich erst einmal an der Materie reiben. Er muss das Todeselement erleben, erleben, dass er in Einsamkeit dasteht und nach seinem Wesen und dem Wesen der Welt fragt.“

 

Die Wahrheit wird euch freimachen, sagt Christus im Johannesevangelium (Joh 8,32). Diese Wahrheit sieht Beuys in der Menschwerdung des Menschen. Der Mensch wird auf die Erde gespuckt. Er ist da. Er hockt auf dem Boden und will sich doch frei erheben, aufrecht gehen auf dieser Erde. Das gelingt aber nur, wenn er sich an der Erde reibt, wenn er seine Erdenexistenz annimmt, seine Sterblichkeit, seine extreme Einsamkeit im Kosmos. Hat ein Mensch diese geistig-seelische und physische Krise, dass er Staub ist und zu Staub wird, durchlebt, fängt er an, wesentlich zu werden und nach „dem Wesen der Welt“ zu fragen. Die Materie ist nicht alles. Diese Erkenntnis, dass es neben der materiellen Welt eine geistige Welt gibt, ist wie eine Neugeburt. Das ist die Geschichte des Christentums. Christus ist da. Christus ist nicht tot. Christus ist im Menschen. Im Menschen, der zu seinem geistigen Wesen durchgedrungen ist.

Der Künstler Joseph Beuys hat eine spirituelle Sicht auf den Menschen und auf die Welt. Sein gesamtes Werk ist eine Kritik an einer rein materialistischen Weltsicht, wie er selbst sagt:

 

Ich sage nur: es [die rein materialistische Weltsicht] ist eine einseitige Methode, ganz schlicht. Wer den Materialismus über alle Probleme der Welt stülpen will, tötet den Menschen ab, weil er eine in Teilbereichen richtige Methodik anwendet auf das Ganze.

 

Ich verstehe meine künstlerische Arbeit als religiöse Aufgabe, als Konfrontation mit dem Verdeckten.

 

Joseph Beuys, 1921 geboren in Kleve und im niederrheinischen Krefeld in einer streng katholischen Familie aufgewachsen, trat aus der Institution der Katholischen Kirche aus, beschäftigte sich aber weiter mit dem Christentum. Sein Lehrer Ewald Mataré an der Kunstakademie in Düsseldorf eröffnete ihm ein eigenständiges Verständnis des Kreuzes Jesu. Zu Anfang hat Beuys noch ganz traditionell den Gekreuzigten und das Kreuz dargestellt. Das hat ihm irgendwann nicht mehr genügt, da ausschließlich eine Leidensgestalt im Mittelpunkt stand. Im Studienjahr 1947/1948 entsteht ein Sonnenkreuz. Das Mysterium des Kreuzes wird darin mit kosmischen Kräften in Beziehung gebracht. Beuys spürte, dass die traditionelle Christusdarstellung den mystischen Christus, der mit seinem Licht den ganzen Kosmos durchdringt, nicht mehr adäquat zur Sprache brachte. Sein Sonnenkreuz aus Bronze nahm seine künstlerische Entwicklung vorweg, sich mit Energien und Kräften auseinanderzusetzen, die unmittelbar auf die Menschen und die Welt einwirken. Dieser Christus ließ sich nicht kirchlich bändigen, sondern setzte künstlerische Kreativität frei.

Bildnachweis: https://www.lempertz.com/de/kataloge/lot/998-1/521-joseph-beuys.html

abgerufen am 29.05.202

Im erwähnten Interview resümiert Beuys:

 

Die alten Glaubenskräfte sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Du musst erst deinen Glauben verlieren, so wie Christus für einen Augenblick seinen Glauben verloren hat, als er am Kreuz war. Das heißt, [du] muss[t] selbst sterben, [du] muss[t] völlig verlassen sein von Gott wie Christus damals in diesem Mysterium verlassen war.

 

Für Beuys ist das Prozesshafte wichtig. Der Prozess führt, wie schon das Kreuz Jesu zeigt, durch das Sterben und die völlige Gottverlassenheit zu einem neuen Leben in der Auferstehung. Vom Boden erheben muss sich der Mensch aber selbst, aus eigener Kraft. Kein Gott und kein Christus helfen ihm dabei.

 

Auferstehen muss der Mensch schon selbst.

 

Wenn der Mensch sein kreatives Potential entdeckt, seine Gefühle wahrnimmt und seiner Intuition vertraut, wird er zur Heilung der Welt beitragen. In diesem Sinn ist jeder Mensch für Beuys ein Künstler. Deshalb gehört auch die Kunst nicht hermetisch abgeriegelt in eine Kunstwelt, sondern mitten in die Gesellschaft. Provokative Kunst irritiert und hat Transformationskraft. Die Transformation der Gesellschaft geht laut Beuys nicht von Parteien oder Institutionen aus, die Teil des Systems sind. Veränderung kann nur von außen durch veränderte Praxis kommen.

Beuys sieht im Leben, in der Gesellschaft, ja, im ganzen Kosmos eine treibende Kraft. Sie nennt er Christuskraft. In der Kirche als Institution ist diese Kraft für ihn nicht mehr lebendig. Parallel zur erstarrten Parteien-Demokratie und parallel zu einem Staat, der zu sehr in die Freiheit der Einzelnen eingreift, gilt es nach Beuys, die Institution Kirche zu überwinden, damit die Christuskraft sich frei entfalten kann. Lapidar stellt Beuys fest:

 

Der Christusimpuls ist innerhalb der Kirche nicht mehr gegenwärtig.

 

 

Aus meiner Sicht legt Joseph Beuys mit solchen Aussagen den Finger in die Wunde Kirche. Natürlich könnte ich mit theologischen Argumenten seine Wahrnehmung abwehren, aber ich glaube, dass es spirituelle Menschen außerhalb der Kirchen gibt, die tiefer und schärfer erkennen, was die Krise der Kirche ist, als sie selbst. Es gibt eine prophetische Kritik an der Institution Kirche, einschließlich der verwalteten Gemeinden vor Ort, auf die wir besonders hören sollten. Beuys ist eine Stimme davon. Hier ist vor einer Auseinandersetzung und kritischem Nachfragen vor allem Demut und Selbstkritik angesagt.

 

Wenn wir Beuys´ Kritik heute hören, fällt mir als erstes der Missbrauchsskandal ein, der die Kirchen seit gut zehn Jahren umtreibt und jede Menge Vertrauen kostet. Wo ist hier in der Kirche Christus zu spüren?

Auch frage ich mich, inwieweit die christlichen Gemeinden und Kirchen überhaupt etwas Grundsätzliches mit Christuskraft anstoßen oder bewegen. Ich habe eher den Eindruck, dass wir den Entwicklungen der Gesellschaft hinterherlaufen, dass wir juristisch alles haarklein umsetzen, was der Gesetzgeber von uns verlangt, anstatt selbst auf positive rechtliche und andere Veränderungen hinzuwirken. Wir sind Kitt in der Gesellschaft, ja, aber anstößig und irritierend wie Christus, war die Kirche seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert nicht mehr. Wir sind oft viel zu viel mit uns selbst beschäftigt. Die Selbsterhaltungskräfte der Institution Kirche sind groß. Auch das hat die Pandemie gezeigt. Kirchen konnten sich stumm aus dem öffentlichen Leben verabschieden, fast ihre gesamte Gemeindearbeit einstellen oder digital organisieren. Es passiert nichts. Es läuft einfach weiter. Das Geld für die Religionsbeamten fließt.

Und niemand merkt es. Und niemand nimmt Anstoß daran. Im Gegenteil, Kirche klopft sich auf die Schulter und lobt sich, wie digital sie geworden ist.

Und das Gebet?

Und der Christusglaube?

Und die Christuskraft?

 

Vielleicht würden wir nicht als überflüssig wahrgenommen oder überhaupt wahrgenommen, wenn wir uns wieder stärker auf die Christuskraft besinnen? Damit ist natürlich keine bloße Fixierung auf Christus oder das Wiederholen von dogmatisch richtigen Sätzen gemeint (wie im endlosen Streit um das rechte Verständnis von Abendmahl und Eucharistie), sondern ein inneres Erleben von Christus und seiner Kraft, eine Leidenschaft für das Leben, ein sich dem Geist Christi überlassen und sich von ihm in die Welt senden lassen.

Auf jeden Fall sollten wir Christus größer denken und fühlen, als wir es in der Kirche landläufig tun. Christus kommt uns von außen entgegen, klopft bei uns an, weil er in uns leben will. Auf den inneren Christus weist Beuys besonders hin. Dieser Christus bleibt aber nicht in der subjektiven Innerlichkeit, sondern drängt ins außen, hin zum Reich Gottes.

 

Emmanuel Carrère und das Reich Gottes, Notiz von Christoph Fleischer, Welver 2017

Bericht über ein Interview im Philosophie Magazin, August/September, Nr. 05/2017

Carrère schreibt im Kommentar über sein neues Buch: „Ein russischer Roman“: „Mir kommt es so vor, als würde ich, sosehr ich kann, zum ‚Guten‘ streben, wenn man darunter Empathie für den anderen versteht. Allerdings wird dieses Verlangen ständig von meiner Schwäche, meinem Egoismus, meiner Engstirnigkeit durchkreuzt.“ (Philomag, S. 69) Mit kommt bei dieser Formulierung Paulus in den Sinn, der eine ähnliche Erfahrung im Römerbrief benennt.

Einige Zeilen weiter erfahre ich, dass sich Emmanuel Carrère tatsächlich mit Paulus beschäftigt hat. Er sagt dazu im Interview: „Das ist exakt das, was Paulus erzählt: die Geschichte einer Besitzergreifung, einer Besessenheit. Wer da lebt, bin nicht mehr ich, es ist Christus, der in mir lebt.“ (S. 70) Worin liegt darin die besondere Botschaft das Paulus, so frage ich mich.

Paulus hat ein sehr besonderes Verhältnis zur Auferstehung Jesu, das ihn von den Evangelien unterscheidet. Er sieht die Auferstehung als „ein unglaubliches, nicht zu begreifendes Ereignis, […]das aber gleichwohl stattgefunden hat.“ (S. 71) Carrère verbindet diese Erzählung über Paulus mit dem eigenen Erleben. Er möchte nicht wieder gläubig werden, hat eher ein wenig Angst davor. Aber warum sagt er das? Ist es nicht inkonsequent, wenn man sich den Anfang des Interviews ins Gedächtnis ruft (s.o.)?

Deutlich wird das eher bei einem Ausflug in die Philosophie. Carrère findet an/mit Paulus gut, dass für ihn das gute nicht wie ein Rezept funktioniert, das man nur anzuwenden hat (vgl. Stoa). Vielmehr bekennt er sich zur Inkonsequenz nicht das zu tun, was ich will, sondern das, was ich nicht will, das böse.

Doch dazu gehört auch ein Wirklichkeitsverständnis, das die Gegenwart betont. So kommt er auf Nietzsche zu sprechen: Wenn dieser darin recht hat, „dass die Wirklichkeit das ist, was vor Augen steht und dass es dahinter nichts gibt“ (S. 72) Doch er gibt das Christentum nicht auf, auch wenn er keine Hinterwelt offenbart.

Das Interview scheint nun etwas auf der Stelle zu stehen und Themen nur anzureißen. Er kommt aber dann doch erneut auf Paulus zurück. Mit Paulus zu denken bedeutet, visionär zu leben.

Dazu gehört nun aber ganz offensichtlich auch die immanente politische Vision vom bevorstehenden Ende der Welt. Emmanuel Carrère sagt: „Ich neige zu der Ansicht, dass wir uns in einer vorher nie da gewesenen Situation befinden, die relativ kurzfristig zu einer weltweiten Katastrophe führen wird.“ (S. 73) Doch ist diese Situation zumindest gedanklich nicht auch die des Paulus gewesen? Hat er nicht auch in einem apokalyptischen Zeitalter gelebt, das mit dem Ende der Welt gerechnet hat?

Ich frage mich, was Emmanuel Carrère will, wenn er vom Reich Gottes schreibt. Da ich das Buch nicht gelesen habe, kann ich nur konstatieren, dass er zumindest im Interview nicht auf das Messianische oder das Judentum zu sprechen kommt. Müsste man nicht diese Erwartungen zwischen Reich Gottes und Weltuntergang berücksichtigen, wenn man einen Roman über die Bibel schreibt? Vielleicht habe ich ja doch noch einmal Zeit diesen Roman von Emmanuel Carrère zu lesen.

Nr. 5 / 2017