Überraschende Inspiration, Sabine Lethen, Kirche in WDR 4, 27.01.2019

Zum Lesen und Hören: https://www.kirche-im-wdr.de/nix/de/nc/startseite/programuid/ueberraschende-inspiration/formatstation/wdr4/

Ich muss Ihnen von einem Erlebnis beim Einkaufen erzählen! Ich war shoppen und suchte einen schicken Pullover. An einem Kleiderständer neben mir steht eine Kundin, die sehr zögerlich die Waren durchgeht. Immer wieder nimmt sie ein Teil in die Hand, beguckt es von allen Seiten und hängt es wieder zurück. Schiebt Bügel um Bügel weiter, nimmt ein anderes Teil heraus – und hängt es zurück. Greift wieder nach dem ersten. Eine Verkäuferin ermuntert sie: „Probieren Sie doch einfach mal was an. Angezogen kann man viel besser sehen, ob es zu einem passt oder nicht.“ „Ja, kann ich ja mal machen.“ sagt die Kundin, geht Richtung Umkleidekabine und ergänzt skeptisch: „Aber mein Gefühl sagt mir schon, dass das nichts für mich ist.“

Die Verkäuferin flüstert mir leise zu: „Achte auf deine Gefühle, sie werden deine Gedanken. Achte auf deine Gedanken, sie werden deine Worte.“ Unsere Blicke treffen sich und schmunzelnd fahren wir beide gemeinsam fort: „Achte auf deine Worte, sie werden deine Taten.“ 

Die Verkäuferin wurde gerufen und ich habe den Laden verlassen. Ohne etwas zu kaufen, aber irgendwie beschwingt, beseelt. Das ist doch wohl verrückt! Da will ich nach einem neuen Pulli Ausschau halten, bin also im Einkaufsmodus und dann überrascht mich ein Gedanke, den ich an diesem Ort einfach nicht erwartet hätte! – Eine echte Lebenserkenntnis:

„Achte auf deine Gefühle, sie werden deine Gedanken. Achte auf deine Gedanken, sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, sie werden deine Taten.“ Und der Spruch geht sogar noch weiter: „Achte auf deine Taten, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal!“ Mich spricht dieser alte Text sehr an. Er soll im Talmud stehen, oder gilt als östliche Weisheit oder chinesisches Sprichwort. 

Egal: Die Worte haben für mich einen tiefen Sinn. Sie zeigen: Da hat sich jemand mit sich selbst beschäftigt, hat sich mit dem Leben an sich auseinandergesetzt und eine wahre Erkenntnis formuliert: Was ich fühle, kann mir zum Schicksal werden. Voraussetzung: Ich muss achtsam auf mich selbst schauen, aufmerksam mit mir umgehen, mich bewusst ausrichten. Das sind für mich geistliche Gedanken, die mich inspirieren. 

Eigentlich erwarte ich so etwas in einem Gottesdienst, bei einem Impuls, in Einkehrtagen, in irgendeinem spirituellen Zusammenhang – aber doch nicht irgendwo im Alltag, im Kaufhaus, beim Shoppen! 

Aber – warum eigentlich nicht?

Als bereits vor über zwanzig Jahren die Kirchen unübersehbar immer leerer wurden, hörte man einige klagen: „Die Religion verdunstet“. Damals war ich in der Ausbildung zur Gemeindereferentin. Und einer unserer Ausbilder meinte dazu nur: „Das ist doch wunderbar! Wenn etwas verdunstet, macht es sich im ganzen Raum breit. Wasser bleibt Wasser, auch wenn es verdunstet. Der wesentliche Unterschied ist aber: Wenn es verdunstet verlässt es den begrenzten Rahmen seines Topfes und ist plötzlich überall!“ 

Dieses Bild finde ich bis heute einfach toll. Religion, Weisheit, Lebenserkenntnis bleibt nicht in dem ihr zugeordneten Raum, sondern verteilt sich, breitet sich aus, ist an vielen Orten anzutreffen: Eine mir fremde Verkäuferin berührt meine Seele – plötzlich und unerwartet, aus heiterem Himmel. Und ich? Ich muss einfach darauf achten, dass mich etwas berührt.

Es grüßt Sie Sabine Lethen aus Essen

Das Böse oder die Bösen? Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018


Zu:

Das Böse, Können wir es verstehen? Warum fasziniert es uns? Wie lässt es sich überwinden? In: Das Philosophie Magazin, Sonderausgabe 11, Philomagazin-Verlag, Berlin, 11. Oktober 2018, 9,80 Euro

Obwohl das Magazin über „das Böse“ inhaltlich breit angelegt ist, finde ich doch einen roten Faden, der, so meine ich, etwas mit Hannah Arendt zu tun hat. Martin Legros referiert die Darstellung von Hannah Arendt in der Darstellung des nationalsozialistischen Mörders Eichmann. Das Böse ist also weder eine Erbsünde (Augustinus), noch ist dem Menschen ein Hang zum Bösen eigen (Kant). Allein der Mangel an reflektiertem Denken (Arendt) oder Verantwortung (Jonas) bringt böse Taten und Eigenschaften hervor.

Trotzdem (oder vielleicht deshalb) bleibt das Böse eine denkerische Herausforderung die von Hiob (Bibel) bis zu Freud und Riceur zu verschiedenen denkerischen Anschauungen des Bösen führt. 

Zuletzt wird das Böse dadurch überwunden, dass es nach Friedrich Nietzsche als rein moralische Kategorie versagt. Wie so oft liegt die Lösung in der sachlichen Differenzierung und im Dialog, die sich im Sonderheft in vielen Interviews und Zitaten aus klassischen Werken zeigt. 

Wichtig ist wohl wie schon bei Hiob die Konsequenz des Bösen, das Leiden immer wieder ins Gespräch zu bringen.

Zum Ende des Magazins kommt noch einmal Hannah Arendt in den Blick, wird aber von der Chefredakteurin Catherine Newmark zugleich relativiert. Eichmann sei nach einer aktuellen Publikation von Bettina Stangneth nicht allein ein gedankenloser Bürokrat gewesen, wie er selbst es im Prozess wohl darstellen will, sondern schlicht auch Antisemit und Hitler-Fan. 

Dennoch bleibt der inhaltliche Anstoß Hannah Arendt zum Schluss bestimmend: Catherine Newmark fordert die Reaktivierung der Aufklärung und mit Karl Jaspers eine „Ethik des Denkens“.