Nietzsche neu lesen. Christoph Fleischer, Werl 2010

Beobachtungen aus : Gianni Vattimo: Friedrich Nietzsche. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart und Weimar 1992 und Gianni Vattimo: Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert. Eine Einführung. Herder Spektrum Freiburg 2002 (italienisch 1997).

Das Buch Gianni Vattimos über Friedrich Nietzsche bietet drei Hauptabschnitte:

–          Die Interpretation der Werke Nietzsches in drei Kapiteln, die seinem Werdegang folgen: „Von der Philologie zur Philosophie“, „Die Dekonstruktion der Metaphysik“ und „Die Philosophie Zarathustras“.

–          Die „Chronologie des Lebens und der Werke“ Friedrich Nietzsches.

–          Einen ausführlichen Überblick über die Rezeptionsgeschichte.

–          Dazu gibt Gianni Vattimo einen ausführlichen bibliographischen Anhang, der die internationale, europäische Wirkungsgeschichte Nietzsches dokumentiert.

Wer mit diesem Buch in die Lektüre Nietzsches einsteigt, sollte mit dem chronologischen Abriss beginnen.
Die Pfarrersfamilie der Eltern Nietzsches sucht nach dem Tod des Vaters, sechs Jahre nach der Geburt Friedrichs (1844 in Röcken bei Leipzig) eine neue Bleibe  und findet sie in Naumburg. Dort lernt Friedrich Nietzsche schon als Kind Latein und Griechisch und besucht später das Gymnasium in Pforta. Er beginnt in Bonn mit dem Studium der Theologie, um nach einem Jahr den Studienort und das Studienfach zu wechseln, um in Leipzig klassische Philologie zu studieren. Schon vor der Fertigstellung seiner Promotion erhält er nach sechsjährigem Studium einen Ruf auf den Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur in Basel  (1869). Neben den dortigen Lehrveranstaltungen veröffentlicht Nietzsche seine ersten philosophischen Schriften. Zehn Jahre später wird er auf eignen Wunsch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Universitätsdienst entlassen (1879). Nun lebt er an verschiedenen Orten und ist oft auf Reisen, wobei er, wenn es die Gesundheit zulässt, an seinen Büchern arbeitet.  Von 1889 an ist er schwer psychisch erkrankt und erkennt bald seine Freunde nicht mehr. Die Krankheit geht mit einem Rückenleiden einher, das ihn in den Rollstuhl zwingt. Er lebt erst bei seiner Mutter, bis ihn seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, inzwischen verwitwet,  1894 in Weimar aufnimmt. Sie gründet dort das bis heute bestehende Nitzsche Archiv [1]. Friedrich Nietzsche stirbt in Weimar im Jahr 1900. Dadurch ist die Rezeption seines Werkes mit dem Ort Weimar verbunden, obwohl er selbst nur die letzten Lebens- und Krankheitsjahre dort verbracht hat.

Mit Martin Heidegger weist nun Gianni Vattimo zunächst darauf hin, dass Friedrich Nietzsche ein metaphysischer Denker war, der zugleich das Ende der Metaphysik festgestellt hat. Was das heißt, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Nietzsche als Fachmann der altgriechischen Literatur arbeitete. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass die Deutung der griechischen Literatur zu stark mit der Interpretation Platons und Aristoteles verknüpft war, wozu das Christentum beigetragen hatte. Sokrates, dessen Lehre von Platon überliefert wurde, lehrte „die rationale Struktur des Universums“ (S. 15), in dem die Tragik keinen richtigen Sinn mehr ergab. Die griechische Tragödie war allerdings Nietzsche zufolge mit dem Kult des Apollos und des Dionysos verknüpft, dessen Ausgangspunkt das Chaos und die Sinnlosigkeit des Lebens war, sofern es nicht durch die Götter durch deren Übernahme der menschlichen Gestalt gerechtfertigt worden ist. Das Schicksal der Menschen versöhnt sich darin mit der Natur, und die Welt der Menschen wird lebbar. In diesem Zusammenhang kommt Friedrich Nietzsche das erste Mal auf den Begriff vom „Tode Gottes“ im Zusammenhang „der Entwicklung der Rationalitätsbegriffs des wissenschaftlichen Denkens“ (S. 17) zu sprechen. In der Kunst dagegen, worunter er damals noch Richard Wagners Dramen verstand, schien der Mythos erneut zurückzukehren, wobei auch die Tragik im wahren Sinn erlebbar schien. Zunehmend werden die Ausführungen der Schriften Nietzsches philosophisch geprägt.  „In ‚Wahrheit und Lüge‘ zeigt Nietzsche“, so schreibt Vattimo, „wie die gesellschaftlich etablierte Sprache mit ihren Regeln und kognitiven Funktionen genetisch nur als zufällige Verhärtung eines bestimmten Systems von Metaphern entsteht“ (S. 18). Nietzsche versteht sich jetzt viel mehr als „unzeitgemäßer Denker“ (S. 19), der sich eher einer kommenden Zeit als der Gegenwart verbunden weiß. Mit seiner Feststellung der Auflösung der Metaphysik ist zugleich die Kritik an der damals gerade erst neu entdeckten Lehre des Historismus verbunden. Mit einem linearen Zeitdenken, das auf der Folge von Ursache und Wirkung beruht, kann er nur wenig anfangen. Gianni Vattimo stellt fest: „Es erscheint unsinnig oder unnütz, sich dem Entwurf dessen zu widmen, was über kurz oder lang im unaufhaltsamen Gang der Geschichte verschwinden muss.“ (S. 23). Das Geschichtskonzept Hegels, das Nietzsche prägend erscheint, wird von ihm als Umdeutung des christlichen Denkens erkannt. Die Beschäftigung mit Geschichte ergibt für ihn erst dann einen Sinn, wenn sie, wie er sagt, dem „Lebendigen“ gehört. Das heißt andererseits für Vattimo: „In der Tat braucht das Leben ein ‚Vergessen‘, einen umgrenzten Horizont, einen bestimmten Grund von Unbewusstheit.“ (S. 25): Es wird am Ende des ersten Kapitels, womit die erste Schaffensperiode Nietzsches abgeschlossen wird, deutlich, dass der Philosoph Nietzsche mit der Gegnerschaft der Naturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft zu rechnen hat, wenn er so deutlich auf das „Lebendige“ und „Natürliche“, sowie die Möglichkeit der Tragik und des Sinnverlustes eingeht. Die nächste Periode ist für Nietzsche vom Begriff des „Willens zur Macht“ geprägt, der sich aber nach Vattimo erst am Ende des dritten Kapitels und damit der dritten Schaffensperiode erklären lässt. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur für Gianni Vattimo außerordentlich wichtig, dass hiermit nicht eine gesellschaftliche Macht gemeint ist, sondern eine individuelle, die sich beispielhaft verwirklicht. Er betont, dass Nietzsche in Bezug auf Kant feststellt, dass das,  „was wir die Welt nennen … das Resultat einer Menge von Irrtümern und Phantasien“ (S. 35) ist. Interessant ist es daher, dass sich die philosophische Literatur Nietzsches in Aphorismen und gestalteten Kurztexten darstellt, die vieles offen lassen. Er entwickelt also kein geschlossenes literarisches oder philosophisches Konzept, sondern zeigt Denkmöglichkeiten und Perspektiven auf, die nicht unbedingt widerspruchsfrei sind. Selbst die Vorstellung des „Irrtums“ ist in sein Denken integriert, und damit bestätigt er selbst in seinem literarisch-philosophischen Werk die Zusammengehörigkeit von Kunst und Wissenschaft in der Gesellschaft. Die Dekonstruktion der Metaphysik, die Nietzsche nun ausarbeitet ist zugleich und hauptsächlich eine Kritik der Moral. Und diese Kritik ist radikal. Vattimo umschreibt es so: „Der erste und grundlegende Irrtum der Moral besteht in dem Glauben, es könne moralische Handlungen geben. Denn dies setzt vor allem voraus, dass das Subjekt ein ausreichend Bewusstsein davon hat, was denn sein Handeln ist.“ (S. 41). Folgerichtig leugnet Nietzsche auch die Willensfreiheit. Vattimo stellt fest: „Wenn nicht einmal der Handelnde ein klares Bewusstsein dessen hat, was sein Handeln begründet, dann ist seine Entscheidung für dieses Handeln niemals voll und ganz frei.“ (S. 42). Es ist doch interessant, dass die Betrachtung Nietzsches, die Vattimo hier herausstellt, mit den Beobachtungen der Hirnforschung übereinstimmt, die in diesem Zusammenhang von einer eingeschränkten Willensfreiheit ausgeht. [2] Die Grundbegriffe der Metaphysik, die „Idee der Substanz“ und die Vorstellung des „freien Willens“ führt Nietzsche wohl auf das Empfinden von Lust und Schmerz zurück, ist also rein verhaltensorientiert. Die Religion, so wie er sie sieht, ist ein Mittel der Distanzierung von der Natur. Vattimo schreibt: „Am Ursprung der anderen Form des moralischen Irrtums, den die Religion darstellt, herrscht nicht nur das Bedürfnis, zu einem festen Punkt zu gelangen, wie etwa zu den von äußeren Umständen getrennten Wesenheiten, sondern zu einer Stabilität, die dem Menschen überlegen ist und mithin höhere Garantien bietet: ‚Man bekräftigt eine Meinung vor sich dadurch, dass man sie als Offenbarung empfindet, man streicht damit das Hypothetische weg, man entzieht sie der Kritik, ja dem Zweifel, man macht sie heilig.‘ (Nietzsche, Morgenröthe 62/58) Darüber hinaus besteht für eine primitive Geisteshaltung, welche Naturereignisse nicht als Wirkung einzelner Ursachen anzusehen vermag, die erste Form der Sicherheit darin, alles, was geschieht, als Manifestation eines, des göttlichen Willens anzusehen, zu dem man auf irgendeine Weise in Beziehung treten kann.“ (S. 47). Die Erfahrung der Sünde etwa erfolgt aus der Dramatisierung des Innenlebens, die der Asket bzw. Heilige als einen inneren Feind bekämpfen soll. Aus dieser inneren Feindschaft kann leicht eine äußere werden, so dass aus einer solchen Religion auch „Grausamkeit und Tierquälerei“ (S. 48) hervorgeht. Solcher Umgang mit sich selbst, die „Selbstunterdrückung der Moral“ ist gleich bedeutend mit der Tötung Gottes. Daher stellt die Vorstellung Gottes in der Metaphysik den Ursprung von Gewalt und Unsicherheit dar. Die Aussage vom Tod Gottes ist daher nicht selbst metaphysisch gemeint und stellt nach Vattimo keine Aussage der „Nichtexistenz eines Gottes“ (S. 56) dar. In diesem Zusammenhang zitiert Gianni Vattimo auch Nietzsches Bild von der Sprossenleiter, deren Stufen der Mensch nun nach der ermöglichten Erkenntnis der Wahrheit über die Religion erneut zurücksteigen muss, bzw. wie auf einer Rennbahn in die Kehre einbiegen, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen. Hierdurch ist die Wiederkehr der Religion ja schon angedeutet, die Vattimo 1994 im Gespräch auf der Insel Capri dargestellt hat [3]. Nietzsches Lehre vom Tode Gottes gilt der bestehenden Gestalt der christlichen Kirche. Der Glaube an einen lebendigen, nicht metaphorisch festgelegten Gott ist durch Nietzsche dagegen eher ermöglicht worden.
Mit der letzten Schaffensperiode scheint Nietzsche ganz in das Literaturfach zu wechseln, da die Schrift vom „Zarathustra“ eher ein Prosagedicht ist als eine philosophische Abhandlung. Im Sinn Nietzsches selbst ist dies allerdings keine Schwächung, eher im Gegenteil: Seine Worte erhalten durch die Gestalt des Propheten den Anspruch der „radikalen Veränderung der Kultur und Zivilisation“ (S. 60). Gleichzeitig geht Nietzsche hier über die Kritik an der Geschichte hinaus, indem er das Konzept der Wiederkehr des Gleichen herausarbeitet. Diese Wiederkehr steht im Zusammenhang mit dem Denken des Nihilismus. Damit korrespondiert erstaunlicherweise der Wert des Glücks. Dazu schreibt Gianni Vattimo: „Denn es geht nicht darum, Augenblicke der Existenz zu entwerfen, die so erfüllt und dicht sind, dass ihre ewige Wiederkehr gewollt würde, sondern Augenblicke dieser Art sind nur möglich aufgrund einer radikalen Veränderung, die die Unterscheidung zwischen wahrer Welt und scheinbarer Welt mit all ihren Implikationen unterdrückt. Die ewige Wiederkehr kann nur von glücklichen Menschen gewollt werden; doch einen glücklichen Menschen kann es nur in einer Welt geben, die ganz anders ist.“ (S. 72). Vattimo tritt hier in Distanz zu Nietzsche und fragt sich, ob er dies etwa mit bestimmten ungenannten politischen Implikationen verknüpft hat. Er schreibt: „Nietzsche, so scheint es, hätte sich auf die These beschränken können, dass es mit der Auflösung der Metaphysik und der mit ihr in Verbindung stehenden linearen Zeitlichkeit zum ersten Mal eine glückliche Menschheit geben kann, die nicht mehr verängstigt ist durch die Trennung eines erlebten Ereignisses von seinem Sinn, wie sie für das Dasein in einer von Moral und Metaphysik bestimmten Welt charakteristisch ist.“ (S. 72). Nietzsche lässt, so zeigt Vattimo, immer wieder deutlich werden, dass auch ein so dargestelltes Konzept nicht erneut Metaphysik sein kann: „Im Kontext der ewigen Wiederkehr lautet eine der charakteristischen Thesen des späten Nietzsche: ‚gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen‘“ (aus: F. Nietzsche: „Nachgelassene Fragmente“) (S. 73f). Die Auflösung der Geschichte ist gleichbedeutend mit der „Erlösung vom Geist der Rache“ und der Befreiung aus der linearen Struktur der Zeit. Dazu scheint Gianni Vattimo, ohne es ausdrücklich zu benennen, schon im Vorgriff an Heideggers „Sein und Zeit“ zu denken, wenn er Nietzsches Gedanken so wiedergibt: „Eine Erlösung ist nur zu haben als radikale Veränderung des Zeiterlebens. Die aber kann kein amor fati im Sinn einer Anerkennung der Dinge sein, wie sie gerade sind. Das Schicksal ist für Nietzsche nie etwas, das geschieht, sondern immer eine Einheit auf Gewolltem und Geschaffenem.“ (S. 78/ amor fati: Liebe des Schicksals). Die ewige Widerkehr ist dann als vollkommen gedacht, wenn ein Mensch „den Sinn der Ereignisse in vollkommener Übereinstimmung mit dem Sinn des eigenen Lebens empfindet“ (S. 80). Das, was Nietzsche als „Willen zu Macht“ bezeichnet, ist eher als das Selbstbewusstsein oder als die Selbstverwirklichung anzusehen. Schwierig ist hingegen Nietzsches Polemik gegen die Schwachen. Nach Vattimo meinte er mit Schwachheit wohl die Notwendigkeit, aus dem Motiv der Vermeidung des Nihilismus auf geistige, metaphysische Konstrukte zurückgreifen zu müssen und sich dem Leben in seiner ganzen Fülle zwischen Tragik und Glück nicht stellen zu können. Dies wird auch in der Beschreibung des Willens zur Macht verdeutlicht: „Immer wieder gilt es, daran zu erinnern, dass die Berufung auf Kraft und Gesundheit etc., bei Nietzsche nur der Notwendigkeit entgegenkommt, Bewertungskriterien zur Entscheidung zwischen Interpretationen zu finden (aus denen allein sich die Welt konstituiert), ohne sich auf essentialistische Strukturen oder letzte und mithin notwendig metaphysische Argumente zu beziehen.“ (S. 90). Es geht also um Offenheit und Vertrauen dem Leben gegenüber im Gegensatz zu Abgrenzung und Angst. Dies wird in der „Fröhlichen Wissenschaft“ noch einmal am Beispiel der Tragödie erklärt, was Vattimo folgendermaßen zusammenfasst: „Hier wird der Begriff der Tragödie zum Synonym für jede gesunde Kunst, denn der Geschmack am Tragischen ist nur denjenigen möglich, die keine letzten Lösungen nötig haben, also denen, die im offenen Horizont einer Welt als Wille zur Macht und einer ewigen Wiederkehr zu leben wissen.“ (S. 91). Die Aufforderung Nietzsches greift hier Kierkegaards Denken vom Sprung auf, den es zu tun gilt, indem man auf Absicherung und metaphysische Vergewisserung verzichtet „in einer Welt.., in der es keine letzten Grundlagen und Wesenheiten gibt und in der das Dasein auf das reine Ereignis seiner Interpretation zurückzuführen ist.“ (S. 96). Die Begrifflichkeit des Glaubens ließe sich mit dem Wort von der Interpretation gut erklären und ist so m. E. von Dietrich Bonhoeffer in seiner Habilitations-Schrift „Akt und Sein“ entsprechend gemeint als er dort schrieb: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“ [4]

Die von Gianni Vattimo entfaltete umfangreiche Wirkungsgeschichte Friedrich Nietzsches, die schon zu seinen Lebzeiten nicht auf Deutschland begrenzt war, kann kaum komprimiert wiedergegeben werden. Klar ist, dass die nationalsozialistische Perspektive Nietzsche nicht gerecht wurde, der allerdings in seiner Frühzeit mit der Einstellung Richard Wagners sympathisierte. Knapp lässt sich die Einstellung Vattimos am besten mit dem Zitat wiedergeben, das er seiner eigenen Schrift widmet und in dem er sich selbst in der dritten Person nennt: „Nach G. Vattimo versetzt das Denken Nietzsches die metaphysische Subjektivität in eine Krise und eröffnet damit eine neue Perspektive, in der die Beziehungen zwischen Sein, Wahrheit und Interpretation zu einer kreativen Konzeption des Menschen gelangen: Befreit entscheidet sich das Dionysische ganz bewusst für eine Vielzahl von Masken.“ (S. 129) Was die Beschäftigung mit Nietzsche für die Entdeckung der Wiederkehr der Religion bedeutet, wird in dieser Würdigung durch Vattimo bereits angedeutet: „In diesem Zusammenhang (Herausbildung der Moderne) spielt die Bewertung der Religion (und das Wort vom Tode Gottes) ebenso eine Rolle wie die Öffnung zu einer nach-metaphysischen Epoche. Dabei soll Nietzsche weder den Atheismus gegen die bestehenden Religionen noch den Nihilismus gegen die traditionelle Metaphysik angesichts einer von und ganz entfalteten Rationalität verstärkt haben, die zudem vom wissenschaftlichen Fortschritt getragen wurde. Vielmehr ist es ihm nach Auffassung einiger Forscher darum gegangen, jene hermeneutischen Prozesse aufzuklären, durch welche die Religion und die Metaphysik ihre Gegenstände begründen.“ (S. 133). Die Arbeit Nietzsches, die hinsichtlich des Geschichtspositivismus erreicht wurde, scheint hingegen noch kaum auf die Realität bezogen worden sein, wenn auch die Geschichtseuphorie des 19. Jahrhundert bald in den Weltkriegen untergegangen ist. Doch auch die umgekehrte Bindung an die Geschichte, die dann erfolgte, bleibt ja letztlich noch dem gleichen Denken verhaftet. Ja sogar eine Geschichte der Nietzsche-Deutungen müsste dem gleichen Diktum unterliegen, dass ja eben Nietzsche weder ausgeschöpft noch auferweckt werden kann, sondern lediglich in Anknüpfung an sein Denken immer wieder Neues in eigenem, selbständigen Denken ausgesprochen werden muss. Eine Aktualisierung des Vergangenen muss also immer wieder mit seiner Fremdheit rechnen. Dies zeigt Vattimos Schlussfolgerung am Ende des Buches: „Die Deutung von Nietzsches Denken oszilliert im Verlauf ihrer Geschichte zwischen der Behauptung, es sei absolut nicht aktuell, ja ‚nur‘ ein künstlerisches Phänomen, und der Behauptung, es sei ganz und gar aktuell, wie sie die Nationalsozialisten aufstellten. Ein solches Oszillieren aber ist Teil dieses Denkens, dessen Aktualität sich gerade aus seiner Nichtaktualität ergibt, also draus, dass es sich der ‚jeweiligen‘ Zeit verweigert. Seine zentrale Intention ist mithin immer woanders, im ‚Verdacht‘ angesichts des Seins und der Wahrheit, der den Genealogien der Wahrheit folgt, aus denen die Welt gemacht ist. Eine Geschichte der Nietzsche Deutungen muss also einerseits den Interpretationen der jeweiligen Zeit gerecht werden und andrerseits in Nietzsches Denken dessen residuale Inaktualität aufspüren, bis sie schließlich in seinen ‚Text‘ das Problem der Interpretation aufdeckt.“ (S. 135). Die Gefahr solcher Aussagen besteht natürlich darin, dass sie durch die gegenseitige scheinbare Aufhebung von Begriffen als nichtsagend empfunden wird. Die Begründung aus scheinbaren Kausalfolgen historischer Abläufe klingt dagegen oft plausibler. Doch gerade in dieser Hinsicht hat Nietzsches selbst am Beispiel der Bewertung der Tragödie gezeigt, dass dieses historische Denken oft nur auf Scheinargumenten aufgebaut ist. Dazu wirkt es allein deshalb plausibel, da es in der Bewertung immer auf subjektiv ausgewählte Begriffe zurückgreift, und diese nicht nun im eigenen Horizont auswählt sondern auch versteht. Diese Aporie weist auf die Entwicklung der Hermeneutik hin, die vom eigenen Subjekt bei der Übersetzung fremder Quellen nicht absehen darf. Nietzsches Denken ist einfach beispielhaft für die Verweigerung des positiven Denkens, das letztlich sich immer selbst im Spiegel sieht.

2.

Dieser eher wissenschaftlichen Ausarbeitung steht das Buch Vattimos gegenüber (s.o.), in dem er im Überblick allgemeinverständlich die Philosophie des 20. Jahrhunderts erläutert. Daraus werde ich im Folgenden einige Texte zitieren, in denen Vattimo Nietzsches Positionen charakterisiert, die nun weniger in Originalzitaten vermittelt wird, als in Vattimos Worten selbst

–          „Die angeblichen Werte sind bloß Lügen; denn wenn man die psychologischen Beweggründe der altruistischen Handlungen aufsucht, findet man nichts anderes als den Egoismus. Und das Wahre ist nichts anderes als ein soziales Faktum.“ (S. 47). Mit diesem Wort „Lügen“, dass man hier nicht moralisch lesen sollte, wird im Grunde nichts anderes gesagt, als dass die gesprochenen Worte vom Individuum konstruiert sind. Dass jeder Mensch anders konstruiert, jeder von seiner Warte aus, erscheint der Inhalt dann als gelogen. Subjektiv ist er das selbstverständlich nicht.

–          „Die Wahrheit zu sagen heißt nichts anderes, als nach den sozialen Regeln der vorherrschenden Sprache zu lügen. Da schon jedes Wort lediglich eine Metapher ist, die nicht über ein notwendiges und verbürgtes Band zum Sein der Sache verfügt, kann das Reden keinen Anspruch auf objektive Wahrheit erheben.“ (S. 47). Da Nietzsche hier die Metapher als das Hauptkonstrukt der Sprache entdeckt, weist er im Grunde schon auf die Vorrangstellung der Bilder für das Denken und damit auch für die Sprache hin.

–          „Die Herausbildung der gegenwärtigen Welt, die dekadent und nicht mehr kreativ ist und nur noch damit beschäftigt, die Vergangenheit zu wiederholen und zu konservieren, beruht nach Nietzsche auf dem Triumph einer rationalistischen Sicht der Dinge, deren Ursprung auf Sokrates zurückgeht.“ (S. 48) Neu an Nietzsche ist, dass er den Rationalismus nicht erst mit der Aufklärung verbindet, sondern seine Wurzeln in der griechischen Philosophie sieht. Damit ist auch die von dieser Philosophie her geprägte Theologie als rationalistisch bezeichnet, was man auch immer wieder in theologischen oder religionsphilosophischen Darlegungen beobachten kann.

–          „Die wahre Wirklichkeit ist die chaotische und irrationale Energie, durch die das Leben nur danach strebt, sich mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Hervorbringungen des Menschen sind Schein und Illusion, die gerade darum geschaffen werden, um der Angst und der Gewalt des Lebens und des Todes zu widerstehen.“ (S. 49). Nietzsche ist darum heute so wichtig, weil er das Leben selbst in den Mittelpunkt seiner philosophischen Gedanken gestellt hat. Dies ist gerade heute, da das Leben der Welt auf dem Spiel steht, mehr als aktuell.

–          „Die vorklassischen Griechen waren sich mehr oder weniger der tiefen Irrationalität des Ganzen bewusst. Denn behauptete Sokrates, dessen Denken sich vor allem auf die Moral und die Gerechtigkeit richtete, der Gerechte habe nichts zu befürchten, weder in diesem Leben noch nach dem Tod; er führte also die Vorstellung ein, dass die Wirklichkeit von einer Vernunft regiert wird, dass es Gesetze des Wirklichen gibt, die der Geist erkennen kann, indem er sich ihnen anpasst.“ (S. 50). Was spiegelt sich eigentlich in der rationalen Bewältigung der Kontingenz des Lebens wider, ist es nicht letztlich schon ein Symptom der kulturellen und zivilisatorischen Herrschaft der Menschen über die Natur? Die christliche Tradition muss und kann nicht mehr vom Gebot der Bemächtigung her gelesen werden, sondern eher vom Staunen und der Ehrfurcht vor dem Leben.

–          „Im Jahre 1878 bricht Nietzsche endgültig den persönlichen Kontakt mit Wagner ab und gibt gleichzeitig den Glauben auf, man könne die tragische Kultur mittels der Kunst erneuern. … Nicht mehr der Versuch, die tragische Kultur wieder aufzurichten, schwebt ihm jetzt vor, sondern der Nihilismus, auf den nach seiner Ansicht die europäische Kultur zuläuft: Diesen gilt es bis zum Äußersten zu treiben, indem man ihre Errungenschaften ins Gegenteil verkehrt.“ (S. 51). Da Wagner letztlich als Vorläufer der nationalsozialistischen Bewegung gilt, macht ihn die Trennung von Wagner eher sympathischer.

–          „Die ‚wahre Welt‘, die zur Fabel wird, ist diejenige der rationalen Strukturen des Sokrates, die sich nach und nach als eine ‚Setzung‘ des Menschen enthüllt: der Gesellschaft und des Einzelnen auf der Suche nach Absicherung.“ (S. 52). Hier wird erneut deutlich, welche Konsequenzen die rationale Bewältigung der kontingenten Lebendigkeit hat.

–          „In der zur Fabel gewordenen Welt, der Welt des toten Gottes, muss der Übermensch geboren werden: ein Mensch, der fähig ist, ohne objektive Sicherheiten auszukommen, immer wieder neue Wertsysteme und neue symbolische Formen zu erfinden, also neue Weisen, die Dinge zu benennen und die Erfahrung zu ordnen.“ (S. 52) Die Geburt dieses neuen Menschen ist nun auch als eine säkular-religiöse Sache anzusehen, als eine Transzendierung der nun vor Augen geführten Beschreibung der bisherigen geistigen Entwicklung der Menschheit. Von hier sollte auch noch einmal ein Blick auf die Auslegung des Buches Hiob genommen werden, der ja einfach auch nur dafür plädiert, die Erfahrung des Leidens nicht religiös zu rationalisieren, sondern als gegeben hinzunehmen und auf ein neues Leben in der Zukunft zu hoffen.

–          „Die Gedanken Nietzsches bis zum ‘Willen zur Macht‘ legen uns nahe, die Wahrheit als ‚Spiel der Interpretationen‘ zu verstehen. Dieser Punkt führt uns zu unserem generellen Leitfaden zurück: dem Insistieren auf dem Wert der Innerlichkeit und der geisteswissenschaftlichen Kultur gegen die Ansprüche der (Natur-) Wissenschaften und der Werte, die sich in den Dingen selbst gegründet haben.“ (S. 53f). Dass Nietzsche hier, aus der Sicht Vattimos, auch die Naturwissenschaften als Gegenüber sieht, bestätigt die vorgenannten Beobachtungen.

–          „Es geht lediglich darum, die Wahrheit letzten Endes nicht als angebliche Objektivität von Sätzen aufzufassen, sondern als Spiel – das heißt als wechselseitige Beziehung, Widerstreit und Einigung – von Interpretationen.“ (S. 54). Letztlich ist die Objektivierung selbst das eigentliche Problem, denn damit dass ich ein Geschehen oder eine Person zum Objekt mache, verfalle ich der Versuchung der Rationalisierung desselben.

Auch aus diesen Sätzen heraus wird deutlich, dass die Schriften Friedrich Nietzsches nicht als Sprüche des platten rationalistischen Atheismus gebraucht werden können, der letztlich nichts als rationalistische Wissenschaftsgläubigkeit anerkennt. Nietzsches Begriff vom Todes Gottes richtet sich an eine Gesellschaft, die rein formale Gedankengebäude braucht, sogenannter Metaphysik, um formale religiöse oder auch gesellschaftliche Institutionen z. B. durch eine historische Rechtfertigung abzusichern. Dieser Historismus in der Nachfolge Hegels ist nach wie vor nicht überwunden, was man z. B. in der evangelische Kirche daran sehen kann, dass jetzt schon auf das Jahr 2017 als dem 500 – jährigen Reformationsjubiläum hingearbeitet werden soll [5]. Sicherlich war die Epoche des Historismus wichtig, um nicht die Zeugnisse der Vergangenheit dem Verfall anheimfallen zu lassen, wenn man nur an das Erbe Martin Luthers denkt, das erst im 19. Und 20.Jahrhundert in der Weimarer Ausgabe vollständig herausgegeben worden ist. [6] Im 20. Jahrhundert kommt erschwerend hinzu, dass die katastrophalen Ereignisse der Weltkriege, des Holocaust, der Atombombenabwürfe, des Wettrüstens und der globalen Umwelt-und Hungerkatstrophe nach einer geschichtlichen Aufarbeitung verlangen. Doch gerade von daher müsste eine erneute Würdigung des Nihilismus gar nicht einmal abwegig sein. Es ist ja gerade keine Metaphysik des Nichts, sondern eine Anerkennung der menschlichen Erfahrung, das Gute und das Glück nicht rational bewirken, sondern gelegentlich zufällig erfahren zu können. Die Frage, warum der eine im Twin-Tower oder im Tsunami umkommt und ein anderer nicht, wird man immer offen halten müssen, da sie nicht beantwortbar ist. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, ist eine Aufgabe der Interpretation jedes und jeder Einzelnen. Nietzsche hat zu Recht erkannt, dass eine rationalistische Verdrängung oder Instrumentalisierung des Chaos nicht weiterführt. Die vermeintlich Starken, da von einem starken, metaphysisch geprägten Glauben umgeben, sind die eigentlich Schwachen, die ein Leben ohne Absicherung nicht aushalten können. Und die vermeintlich Schwachen, die dem Chaos und der Tragödie ihres Daseins ausgeliefert sind, sind die eigentlich Starken, wenn sie beginnen, an sich selbst zu glauben und das Leben und das Glück annehmen können, wenn es sich ereignet.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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