Zu: Dirk Baecker: Beobachter unter sich, Eine Kulturtheorie, Suhrkamp Verlag Berlin 2013, ISBN 978-3-518-58590-0, Preis: 34,95 Euro
Wenn beispielsweise einerseits die zivile Nutzung der atomaren Kernspaltung auf rationaler Grundlage funktioniert, so dass einigermaßen verlässlich Elektrizität erzeugt werden kann, aber andererseits die notwendige Endlagersuche für den atomaren Müll in Deutschland ergebnislos bleibt, da Einigung gesellschaftlich scheitert und die weitere Verwendung von Kernenergie ethisch fragwürdig ist, zeigt sich die Frage nach einer Rationalität und soziale Kontexte gleichermaßen umfassenden Kulturtheorie.
Die spätmoderne Gesellschaft ist mit einem Seiltänzer vergleichbar, mit einer plausiblen Aufführung von Attraktionen, deren Darstellung vom Erfolg des Balancierens abhängig ist. Nicht die angenommene Grundlage einer prima causa, sondern die Balance gesellschaftlicher Kommunikation ist ausschlaggebend für die soziale Interaktion. Dirk Baecker, Professor der Zeppelin-University in Friedrichshafen, vormals Witten/Herdecke, bedient sich in der Darstellung seiner Kulturtheorie des mathematischen, bis in Programmiersprachen hinein funktionierenden Modells von George Spencer Brown („Laws of Form“, London 1969). Dessen Grundaussage lässt sich kurz zitieren: „Das Wissen von Beobachtern ist das Wissen um Bezeichnungen im Kontext von Unterscheidungen.“ (S. 19). Es ist für mathematische Laien erstaunlich und faszinierend, wie aus dieser Grundaussage rational nachvollziehbare Operationen entstehen, die auch in der Sprache der Arithmetik oder Algebra ausgedrückt werden können und zugleich an erkenntnistheoretischen Figuren wie Ideologiekritik, Mythenbildung, Dekonstruktion und Theoriekonstruktion gezeigt werden können. Der Titel des Buches sagt es in Kurzfassung: „Beobachter unter sich“. Ganz vom Konstruktivismus her gedacht, der die Subjekte aus deren Beobachtungen konstituiert, ist zu sagen, dass alles Erleben in der Gesellschaft relativ ist und sich demnach in Beziehungen von Beobachtern vollzieht. Erstaunlich ist, dass aus der Interaktion von Beobachtern berechenbare Funktionsweisen gesellschaftlicher Interaktion erfolgen. Baeckers Orientierung an Niklas Luhmann lässt sich daran erkennen, dass er den Dialog gesellschaftlicher Systeme wie „…die Spiele der Familie, Organisation, Politik, Wirtschaft, Erziehung und Religion“ (S. 53) in den Blick nimmt. Dass sich Dirk Baecker dabei von George Spencer-Brown wiederum löst und aufzeigt, dass dessen Grundaussage in die Fragestellung sozialer Beziehungen hineinzulesen ist, verspricht eine spannende wie anspruchsvolle Lektüre. Die Frage der Atomenergie kommt im Buch nicht direkt vor, wird aber implizit im Diskurs über Technik angesprochen: „So oder so haben wir es mit einem Technikverständnis zu tun, in dem die beiden Aspekte der Innovation und Evolution nicht voneinander zu trennen sind und beide im Horizont von Bemühungen um Nachhaltigkeit wie auch eines wachsenden Gefahrenbewusstseins stehen.“ (S. 198).