Zu: Joseph Beuys: Mysterien für alle, Kleinste Aufzeichnungen, Auswahl und Nachwort von Steffen Popp, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-22492-2, Preis 24,95 Euro
Wer aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte auf die z. T. grafisch oder tabellarisch notierten Stichwortzettel von Joseph Beuys (1921 – 1986) sieht, dem ehemaligen Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf, mag zuerst an den künstlerischen Schwerpunkt seines Konzepts denken. Allerdings kommt mir auch die Assoziation zu rhetorischen Stichwortkonzepten. In der Tat weist das Quellenverzeichnis „ZU DEN NOTATEN“ (S. 197) vor allem im letzten Teil auf solche Vorträge des bekannten Aktionskünstlers hin.
Mir persönlich ist schon beim Besuch der sogenannten Jahrhundertausstellung in Berlin im Jahr 2000 eine solche Stichworttafel neben einer Installation von Josef Beuys aufgefallen, mit einem speziell durchdachten Welt-Konzept. Es ist ja auch bekannt, dass Beuys an Gründungen von Parteien und Wählervereinigungen beteiligt war, zu denen er entsprechend zu reden hatte. Das gilt selbstverständlich auch für die Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Hochschule. Manche der sogenannten NOTATE erinnern mich an Tafelbilder, die ich wie andere Lehrer manchmal recht spontan gestalte und strukturiere.
Ich sehe mir auf Youtube einige ältere Aufzeichnungen mit Ansprachen oder Diskussionsbeiträgen des Redners Beuys an und beobachte, wie reflektiert die inhaltlichen Positionen der zum Teil anthroposophischen Grundeinstellungen Joseph Beuys waren. Im Jahr 1970 sagte er z. B. in einer Fernsehdiskussion:
„Die Kunst fragt also weiter zurück nach dem Prozess. Sie stellt heute die erkenntnistheoretischen Fragen, die die Wissenschaft nicht stellt. Das will ich doch festhalten. Und sie kommt zu dem Ergebnis, dass sie schon den Gedanken in der Entstehung als einen plastischen Prozess darstellen muss, dass sie selbstverständlich da, wo der Gedanke überschlägt auf die Sprache, Sprache als Kunst sehen muss.“ (Quelle youtube.de, 19.10.2015, Link: http://youtu.be/9DIxoM_5NyE)
Es handelt sich also bei den Wort-Bildern, die die Text-Bilder in einem solchen Buch eher graphisch wirken lassen, um einen Teil des Prozesses, in dem die Sprache zu Kunst werden kann und so auch plastisch wird, in den Worten von Joseph Beuys ausgedrückt.
Wie in einem intuitiven Spiel werden Begriffe nicht nur gruppiert, sondern handschriftlich so gesetzt, dass man zum Teil dahinter sogar Bilder vermutet. Diese kreativen Prozesse, in denen Joseph Beuys Begriffe und Gedanken seiner Texte ordnet, werden im Buch auf der linken Seite fotografisch kopiert wiedergegeben, und rechts wird eine reine Darstellung des jeweiligen Textanteils in Druckschrift geboten, und zwar so, dass dessen Anordnung zum Teil ebenfalls graphisch wirkt. Gezeichnetes wird dabei weggelassen, Unlesbares oder Gestrichenes in Klammern gesetzt.
Steffen Popp, der diese Auswahl aus dem Buch „Joseph Beuys: Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle“, herausgegeben von Eva Beuys, erstellt hat, schreibt dazu im Nachwort:
„Wie in seinem gesamten Werk beschäftigt sich Beuys auch in seinen ephemeren Aufzeichnungen immer wieder mit der Untersuchung gesellschaftlicher Verhältnisse und sich daraus ergebenden Möglichkeiten individueller Selbsthilfe und Selbstermächtigung; mythologische, anthroposophische und theologische Quellen sind ebenso wie Diskurse zeitgenössischer Ökonomie, Soziologie und Kommunikationstheorie vor allem unter dieser Maßgabe von Interesse.“ (S. 190)
Beuys ist religiös oder mystisch, indem er die Rettung der Seele als eigentliche Arbeit der Kunst ansieht (S. 188). In diesen „religiösen Fragen“ (S. 112) geht es um den Menschen. Es geht um die Abbildung geistiger Vorgänge im Leben. „Christus beim essen/hören sehen u. fühlen wie/ Jesus ist seine Mutter/ hörten, sahen und fühlten“ (S. 128/129). Einwirken auf die geistige Welt, die er von der stofflichen getrennt sieht, ist ein Prozess der Bewusstseinsbildung. Diese Feststellung taucht in Formulierungen auf wie: „weil sie durch ihre Sprache eine Plastik gemacht haben (Sprechen=Plastik)“ (S. 122/123).
Der erweiterte Kunstbegriff ist weltanschauliche Arbeit und ist immer konzeptionell reflektiert. Intuition wird praktisch und visuell umgesetzt, bleibt aber oft Geheimnis. Die politischen Begriffe, die Beuys verwendet, werden nicht mit einer Rhetorik der Appelle weitergegeben, sondern durch die Kunst, die einen gedanklichen Prozess anregt, der jeden Betrachter und jede Betrachterin involviert, ja zuletzt selbst zum Künstler macht. Am Beispiel der Kunst hat Beuys alle Ebenen geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse durchzogen und auch eine Lehre von Kommunikation entwickelt. Auf der sprachlichen Ebene scheint vieles nur angedacht und angerissen zu sein, wenn man ignoriert, dass sein Konzept auf unterschiedlichen Ebenen der Kunst, der Bildung und der Politik zur geistigen und materiellen Wirklichkeit geworden ist. Diese Wort-Skizzen sind Beispiele einer großen Kunst.