Die Hinfahrt über die Sauerlandlinie war unproblematisch. Markus und ich waren im Gespräch vertieft, kein Regen, kein Schnee, kein Stau. So konnten wir in Frankfurt die Zeit von 11 bis 16 Uhr ausnutzen, die wir uns gesetzt hatten.
Auf der Buchmesse von Besucherrückgang keine Spur. Viele Schulklassen waren da, auch viele Nationalitäten vertreten, das ist mir aufgefallen. (Dass die Herbstferien in Hessen erst an diesem Freitag beginnen, haben wir erst im Stau auf der Rückfahrt verstanden.)
Drängeln und Schubsen, ja das gab schon mal ein paar kleine Verletzungen. Gut, dass Markus immer ein Pflaster dabei hat. Auch die Promis wie Thomas Gottschalk müssen durch das Gewühl hindurch.
Trotzdem ist die Buchmesse ein wenig überschaubarer geworden oder nur anders aufgeteilt. Die Hallen 3 und 4, die zweistöckig sind, waren für die deutschen Verlage, die Hallen 5 und 6 für die ausländischen. Vor dem Eingang von 5und 6 war das blaue Sofa aufgestellt, ein improvisiertes Studio. Das allgemeine Gemurmel mag für die Fernsehzuschauer eine Geräuschkulisse sein, die sie spüren lässt, dass hier was los ist. Ich persönlich mag es nicht. Es ist mir zu unruhig. Das gilt für alle Vorträge, Lesungen und Gespräche im Messebereich. Wo ist hier ein Raum der Stille? Wo ist ein ruhiger Lesesaal wie in einer Bibliothek? Gehört zum Buch nicht auch die Stille ein wenig? (Vielleicht war dafür der Marktplatz im Freien gedacht mit einem Lesezelt. Der war aber bei dem kalten Wetter nicht sehr einladend. Vielleicht sollte die Buchmesse in den Sommer verlegt werden.)
Ich suche aber auch die Preisträger. Das ist bei Navid Kermani nicht schwer, er sitzt fast auf jedem Podium, wie auch auf dem blauen Sofa. Ich hätte ihn mir gern angehört, aber bei der Unruhe ohne Sitzplatz zog ich es vor, weiter durch die Hallen zu streuen. Ich bin mal auf die Preisrede am Sonntag in der Paulskirche gespannt.
Sein neustes Buch ist über das Christentum. Mich würde zur Zeit seine Habilitation als Orientalist interessieren:
Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, C.H. Beck Verlag, München 2011, 335 S., Paperback, 14,95 Euro.
Aber wo ist Frank Witzel? War er überhaupt da? Ich habe bei Suhrkamp und bei C.H.Beck nach ihm gefragt. Keiner wusste den Verlag. Erst, als ich wieder zu Hause war, habe ich das Buch des Preisträgers im Internet gesucht. Dabei war ich bei „Matthes und Seitz, Berlin“ sogar gewesen, denn von diesem Verlag habe ich kürzlich ein Buch von Trawny über Heidegger gekauft. Doch die Entdeckung des Buches im Internet hat sich gelohnt. Es gibt von diesem 800 Seiten eine umfangreiche Leseprobe und eine Hörprobe zum Download:
Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969, Matthes und Seitz, Berlin 2015, 29,95 Euro.
Und nun mache ich mich auf den Weg und laufe die Gänge A, B, C usw. in den Hallen auf und ab. Wozu diese Buchstaben zur Buchmesse? Ganz einfach: die einzelnen Kojen enthalten so eine Koordinatenbezeichnung. So hat das Gütersloher Verlagshaus in der Halle 3.1 die Koordinaten E100. Mit einem kleinen Katalog kann man alle Anbieter gezielt aufsuchen, wenn sie unter diesem Namen auch aufgeführt sind. Nach den Bereichen 3.0 und 3.1 muss man nicht wieder ins Erdgeschoss, sondern kann über eine Brücke direkt zu Halle 4 kommen, so weiter auch zu den Hallen 5 und 6. Wer lieber im Erdgeschoss anfängt, geht dann auch mal durch die frische Luft. In der Halle 6.2 finde ich den von mir gesuchten Stand von Penguin, dem Hauptverlag von Random Haus. Als ich wieder rausging, dachte ich, dass man englische Bücher auf Englisch lesen sollte. Es lohnt sich heute kaum noch, Bücher zu übersetzen. Zurück gehe ich wieder an dem schon bekannten blauen Sofa vorbei und stromere weiter in den Hallen 4 und 3. So komme ich an manchen Verlagen zweimal vorbei. Ich suche einen Verlag gezielt und merke, dass ich schon eine Stunde vorher dort wohl aus der anderen Richtung vorbeigegangen bin. Doch ich wollte diesmal nicht nur gezielt zu bestimmten Verlagen gehen, sondern eigentlich nur all die suchen, für die ich in der letzten Zeit rezensiert habe. Ich finde es einfach gut, die entsprechenden Angestellten für die Pressearbeit, die sonst nur eine E-Mail lesen, einmal persönlich gesprochen zu haben.
„Sei unbesiegbar“ so lautet der Titel eines neuen Buches im Hause J. Kamphausen aus Bielefeld. Der Mitarbeiter legt mir ein Buch hin, wohl um es mir zu überreichen. Ich sehe hinein, aber nehme es nicht mit. Früher fielen mir immer wieder Leute auf, die großen Koffern durch die Buchmesse gingen, doch wozu das alles? Im Buch „Sei unbesiegbar“ geht es um den Buddhismus in japanisch säkularer Prägung. Irgendwie kamen wir auf Judo zu sprechen. Zu Schluss fragte ich noch nach der Kabbalah. Und auch für diesen Bereich wurde mir in dem multireligiösen Verlag ein Buch empfohlen, bereits neu erschienen im Januar:
Jesse Bogner: Der Egoist, J. Kamphausen, Bielefeld 2015, Preis: 14,95 Euro.
Am Stand des Wagenbach-Verlages komme ich auf Erich Fried zu sprechen. Der Mitarbeiter gibt mir ein Magazin „die Zwiebel“ und zeigt mir ein dort abgedrucktes Gedicht:
Vor dem leeren Baugrund
Mit geschlossenen Augen warten
Bis das alte Haus
Wieder dasteht und offen ist
Die stillstehende Uhr
So lange ansehen
Bis der Sekundenzeiger
Sich wieder bewegt
An dich denken
bis die Liebe
Zu dir
Wieder glücklich sein darf
Das Wiedererwecken
Von Toten
Ist dann
Ganz einfach
Erich Fried: Vorübungen für Wunder, Wagenbach, Berlin 2015, Preis: 14,90 Euro.
Ich denke bei diesem Gedicht von Erich Fried daran, dass er auch ein Gedicht für Paul Celan geschrieben hat. Aber ich frage nicht weiter, da Frieds Bücher ohnehin nicht auf der Messe vorrätig sind.
Aber am Stand von Vittorio Klostermann, dem Verlag der Heidegger-Werke, komme ich auf das Thema Celan zu sprechen. Heidegger habe gesagt, so heißt es, er habe nicht gewusst, dass Celan Jude war und dass seine Eltern in Auschwitz umgekommen sind. Der Buchberater am Stand kennt das Buch nur von außen. Die Buchmesse ist ein Raum für Beobachtungen und Anregungen, aber nicht für tiefere Diskussionen. Hier präsentiert sich der Buchmarkt.
Die „Beiträge zu Philosophie“ von Heidegger, in die ich eigentlich mal hineinschauen wollte, waren nicht vorrätig, sondern nur die „Schwarzen Hefte“. Ich nahm stattdessen ein Buch in die Hand, das aus derselben Zeit stammt und nach dem Krieg von Heidegger selbst herausgegeben wurde: „Holzwege“. Da ich im Inhaltsverzeichnis sehe, dass Heidegger hier etwas über die Vorstellung vom Tod Gottes bei Nietzsche geschrieben hat, interessiert mich dieses Buch. Es ist in einer Studienausgabe zu Anfang des Jahres neu erschienen. Heidegger bleibt aktuell auch und gerade, weil wir jetzt seine dunkeln Seiten kennen.
Martin Heidegger: Holzwege, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 9. Auflage 2015, Klostermann rote Reihe 73, Preis: 21,90 Euro.
Bei „Duncker & Humblot“ stoße ich auf Carl Schmitt, einem bekannten Staatsrechtler im Nazideutschland. Ich frage: „Wissen Sie, dass Carl Schmitt ein Nazi war?“ Die Mitarbeiterin sagte: „Ja.“ Und sprach nicht weiter. – Da dachte ich auch, ja, so ist es, das muss man zu Kenntnis nehmen, aber jetzt noch mehr dazu sagen, ist auch nicht einfach. Carl Schmitt hat in zwei Punkten Recht behalten: Es muss eine „politische Theologie“ geben, und: Im Bereich des Politischen gibt es immer eine Art „Freund-Feind-Denken“. Wenn beides stimmt, macht es die Ausübung einer politischen Theologie in der Kirche immer ein wenig problematisch, da sie spalten kann. Aber eine wirklich unpolitische Theologie kann es auch nicht geben.
Eine Neuauflage im Bereich Carl Schmitt könnte noch interessant sein, vielleicht gerade im Vergleich zur Diskussion um Heidegger.
Carl Schmitt: Glossarium, Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, Duncker & Humblot, Berlin 2. Auflage 2015, Preis: 69,90 Euro. Im Heft „Neuerscheinungen Herbst 2015“ finde ich den Satz: “Gegen die Interpretation der Sieger, die die Niederlage als Befreiung deuteten, spricht Schmitt von ‚falscher Befreiung’…“ (S. 15). Es kann ja nicht darum gehen, solche Aussagen posthum zu rechtfertigen, sondern sie als die einer in die Folgen des Weltkrieges eingebundenenPersönlichkeit wahrzunehmen, mit all der Schuld, aber auch all der mitvollzogenen Ideologie, die sich nicht einfach abschütteln lässt. (Was hieße hierbei, sich als unbesiegbar zu bezeichnen?)
Immer wenn ich massenhaft Bilder von Papst Franziskus sehe, bin ich zurück in der Gegenwart (läuft nicht im Moment die Bischofssynode in Rom zu Thema Familie?). Ich versuche mich aber heute gerade nicht auf Franziskus zu fokussieren und sondern suche Bücher zu den Themen des interreligiösen Dialogs oder zu Globalisierung. Am Stand von C. Bertelsmann sehe ich das Buch:
Jean Ziegler: Ändere die Welt, Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen, C. Bertelsmann, München 2015,Preis: 19,99 Euro. Im Inhaltsverzeichnis des Buches finde ich u. a. die Frage: „Wie entsteht ein Klassenbewusstsein?“ und ich frage mich: ob man nicht wirklich wieder davon reden muss.
Doch nun gehe ich tatsächlich noch zu den religiösen Verlagen. Schön, dass ich den Neukirchener Verlag finde, da ich dort das Buch über die Frauen der Reformatoren bestellt hatte. Jetzt interessiert mich im Moment doch eher der interreligiöse Dialog. Dort finde ich einen aktuellen Bericht aus Israel:
Rainer Stuhlmann, Zwischen des Stühlen, Neukirchener Verlag 2. Auflage 2015, Preis: 12,99 Euro.
Nur im Vorbeigehen sehe am Stand eines Kinder- und Jugendbuch Verlags nicht nur eine Kinder- und Bilderbibel, sondern auch ein Buch über den Islam. Der Infotext weist darauf hin, dass man den Islam am besten versteht, wenn man ihn als die dritte Religion in der Nachfolge von Judentum und Christentum versteht.
Lorenz Just: Mohammed, der unbekannte Prophet, Thienemann-Esslinger, Stuttgart 2015, Preis: 16,99 Euro.
Am Stand von Klartext aus Essen, der sonst eher den Themen des Ruhrgebiets und NRWs verbunden ist, nehme ich die aktuelle Zeitschrift „Kulturwelt“ mit. Auf der Titelseite spricht mich die Ankündigung an: „Über Asyl reden. Eine Sprachkritik und die Geschichte der Flüchtlingsbewegungen“.
Im Inhaltverzeichnis lese ich dann auch noch eine Anspielung auf Religion: „Leibhaftig erschienen, Religiöse Kunst heute, ‚The religion of god’ in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW“. Der letzte Satz dieser Besprechung nennt einen Autor, der auch in der Buchmesse präsent ist: „Folgt man Jean-Luc Nancy in seinen Überlegungen zur ‚Dekonstruktion des Christentums’ (2008), zeichnet sich der Glaube gerade durch den Rückzug Gottes aus, da ‚das Universelle nicht die Form einer Anwesenheit haben’ kann.“ (Kulturwest, Klartextverlag Essen, Oktober 2015, S. 17).
Doch nun begegnet mir doch wieder Papst Franziskus. Am Stand der katholischen Verlage Grünewald Patmos u. a. fragt der Papst auf einer Postkarte im Stil von Che Gueravara: „Gelingt die Revolution?“. Doch dieser Prozess der Modernisierung in der katholischen Kirche wird nicht durch Kaffeesatzleserei entschieden. Mich interessiert eher ein Buch aus Taizé:
Frére Emmanuel, Taizé: Gottes Liebe größer als gedacht, Warum es notwendig ist, unsere Vorstellungen von Gott zu hinterfragen, Patmos-Verlag 2015, Preis: 14,99 Euro.
Unterwegs passiere ich einen kleinen Stand mit Büchern über Archäologie und Geschichte, ob wohl es mich jetzt weniger interessiert, fällt mir das Wort „Syrien“ ins Auge. Das Buch sollte sich lohnen:
Mamoun Fansa (Hg.): Syrien, Sechs Weltkulturerbe-Stätten in den Wirren des Bürgerkriegs, Nünnerich-Asmus, Mainz 2015, Preis: 29,90 Euro.
Und so komme ich wieder in den Kinder- und Jugendbereich und gehe an einem Stand vorbei, in dem Papiermodelle gezeigt werden, die wie ein Puzzle gesteckt und nicht geklebt werden. Die Modelle sind aber sehr detailliert und enthalten kleine Features. Auch hier wird die Präsenz der Religionen thematisiert. Es gibt eine gotische Kathedrale, eine Moschee, eine buddhistische Pagode, eine jüdische Synagoge und einen antiken griechischen Tempel. An einem Stand mit Kinderbüchern über klassische Literatur finde ich als Neuerscheinung ein Buch über Luthers 95 Thesen. Es heißt:
Roth-Beck, Ensikat: Von Martin Luthers Wittenberger Thesen, Kindermann Verlag, Berlin 2015, Preis: 19,90 Euro.
Da mir jetzt schon die Füße weh tun, verweile ich vor der Abfahrt noch ein paar Minuten im Comic-Bereich. Ich sehe die Graphic Novels von Moritz Stetter zu Büchern von Franz Kafka oder zu ausgewählten Biografien, wie Wagner, Freud, Marx und Sophie Scholl (www.knesebeck-verlag.de)
Im Verlag www.schreiberundleser.de gibt es eine historische Reihe: „Unter dem Hakenkreuz“ vom Lütticher Zeichner und Autor Philippe Richelle.
Der Verlag Splitter, der Comics auch den USA ins Deutsche übersetzt, zeigt das Heft: Tyler Durdon lebt, Fight Club 2.Der erste Band, den es nur als Buch gab, wurde verfilmt mit Brad Pitt in der Hauptrolle.
Voll von Eindrücken treten wir die Heimfahrt an, wohl wissend, dass es zu Hause auf die Nacharbeit ankommt. Die Buchmesse lohnt sich, weil sich die aktuellen Themen wie Globalisierung, Migration und Kapitalismus anbieten aber nicht aufdrängen. Der Diskurs um die säkulare Welt ist eben so aktuell. Die Religionen werden in diese säkulare Sprache übertragen. Auch fundamentalistische Richtungen sind vertreten und bieten Ihre Schriften an, fallen aber kaum auf.