Am 3. Sonntag nach Epiphanias 2021. Predigttext (Lutherbibel 2017):
1 Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. 2Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. 3Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. 4Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, 5starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann.
6Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der Herr sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. 7Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 10und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? 12Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, 13wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen.
14Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließnicht von ihr. 15Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
18Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Liebe Gemeinde,
meine Tante und mein Onkel – Gott habe sie selig – führten eine christliche Ehe mit festen Werten, aber auch voller Liebe und Zuwendung zu den Menschen. Mein Onkel war evangelischer Pfarrer und meine Tante war ganz Mutter und Pfarrfrau. Sie hatten vier Kinder, und wir, meine Geschwister und ich, waren auch zu viert und oft mit unseren Cousinen und Cousins zusammen.
Als die Zwillinge im Pfarrhaus flügge wurden, achteten die Eltern mit Argusaugen darauf, dass sie auch die richtigen Partner mit nach Hause brachten. Meine Cousinen konnten es ihren Eltern nicht recht machen. Der eine kam aus einem niedrigeren Sozial- und Bildungstand, der andere war gar katholisch. Das ging gar nicht und musste verhindert werden. Es kam wie es kommen musste, meine Cousinen heirateten jede ihre Liebe und letztendlich traute sie ihr Vater. Ein langer Weg lag dazwischen. Das Kennenlernen des anderen. Der Abbau von Vorurteilen. Die Einsicht, dass es immer um den konkreten Menschen geht, seine Geschichte, seine Gaben und Unzulänglichkeiten, seine Beziehungsfähigkeit und die Bindung, ja die Liebe, die auf dem gemeinsamen Weg entsteht.
Der Lernweg für Onkel und Tante war noch nicht zu Ende. Der jüngste Sohn heiratete und ließ sich nach zehn Jahren scheiden. Eine Scheidung war für seine konservativen Eltern, die selbst eine glückliche Ehe führten, eine Katastrophe. Allerdings ging es um ihren Sohn und sie konnten seinen Schritt nachvollziehen, auch wenn ihnen die Ehe heilig blieb.
Es war für sie auch schwierig, als ein Ziehsohn sich ihnen anvertraute, dass er homosexuell sei. Besonders meine Tante wollte es nicht akzeptieren, aber da sie ihren Ziehsohn liebte, konnte sie ihm weiter mit Herzensgüte begegnen. Homosexualität hatte einen Namen bekommen, und Furcht und Ablehnung waren völlig fehl am Platz.
Viele durch ihre Kindheit geprägte Vorstellungen, manche auch vermeintlich als christlich tradierte Einstellung, wurden vom Leben selbst korrigiert.
Das war ein langer Prozess.
Dieser ging weiter, als der geschiedene Sohn eine türkischstämmige Frau heiratete, eine liberale Muslimin. Ich glaube, dass es Tante und Onkel sehr schwer fiel und viele Gebete und innere Bereitschaft brauchte, die neue Schwiegertochter wirklich anzunehmen. Ich habe nie mit ihnen darüber gesprochen, aber wahrgenommen habe ich, dass beide auf Familienfesten der neuen Frau mit Liebe und Freundlichkeit begegnet sind. Die Beiden haben auch gesehen, dass ihr Sohn in der Beziehung glücklich war, dass er liebte und geliebt wurde. Seine Frau wurde in die große Familie aufgenommen.
Bei Familienzusammenkünften hat mein Onkel – zuletzt bei der Feier der Diamantenen Hochzeit – von dem gemeinsamen Glauben an Jesus Christus als tragenden Grund ihrer Ehe und ihres Lebens ganz selbstverständlich gesprochen und in seinem Gebet alle mit eingeschlossen.
Fast eine Rut-Geschichte, denke ich. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Das Universale ist individuell. Die Liebe ist der Maßstab. Sie schafft neue Wege, sie überwindet menschlich geschaffene Gebote und führt zu neuen Erfahrungen und Einstellungen.
Theologisch gesprochen: Gottes Wege mit seinen Menschen sind so ganz anders, als wir Menschen es uns denken und wünschen. Es ist gerade so, als machte Gott uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Als würde er uns unterbrechen und ständig herausfordern. Das Einzige was bleibt, ist Vertrauen auf seine Wege. Seine Liebe und sein Heil gehen verschlungene Wege, aber am Ende steht immer: Gott meint es gut mit uns und bleibt sich selbst treu. Manchmal scheint es, als habe Gott eine gute Portion Humor.
So erzählt die kleine, aber berühmte Rut-Novelle im ersten Testament, wie eine ausländische Nichtjüdin zur Stammmutter des Geschlechts Davids wird. Aus diesem Geschlecht wird der zukünftige Messias Jesus hervorgehen. Es ist eine subversive Erzählung gegen das damals herrschende Gesetz, keine (religiöse) Mischehe einzugehen. Gesetz und Praxis des Mischehenverbots waren weit verbreitet und hatten zum Ziel, den eigenen Glauben zu bewahren und vor fremden Einflüssen rein zu halten. Noomi aber legt das jüdische Gesetz, das ausdrücklich eine Ehe mit einer Moabiterin verbietet, mit Zuhilfenahme einer anderen jüdischen Vorschrift geschickt und kreativ aus.
Oder anders gesagt: Gott widersteht der Uniformität, dem Reinheitsgedanken, dem auch heute wieder in unserem Land in rechten Gruppierungen grassierenden Allmachtswahn, Menschen auszugrenzen und abzuwerten; und Gott stellt den Rückzug in die Nische, in die eine kleine von gleichgesinnten Menschen geprägte Blasenwelt in Frage.
Im Anderen begegnet Gott uns selbst.
Im Kern der Rut-Geschichte stehen zwei Frauen: die ausländische Schwiegertochter Rut und die jüdische Schwiegermutter Noomi. Es ist eine Flucht- und Heimkehrgeschichte: Distanz und Nähe, Tod und Leben liegen dicht beieinander.
Die Männer sterben. Die Frauen bleiben übrig.
Was sollen sie tun, recht- und mittellos wie sie damals waren? Noomi entschließt sich, nach Israel in das Land ihrer Herkunft zurück zu kehren. Rut bindet sich an sie. Sie sagt: Dein Schicksal ist mein Schicksal, deine Heimat ist meine Heimat, dein Gott ist mein Gott.
Sie hätte auch wie Orpa an der Grenze in ihre Heimat umkehren können.
Wir Menschen haben immer eine Wahl.
Rut bindet sich mit ihrer ganzen Existenz an Noomi. Sie bilden seitdem eine enge Lebensgemeinschaft, auch nachdem sich das Schicksal wendet. Aber als sie die Worte ausspricht, kann sie nicht wissen, was sie erwartet. Auch Noomi kann ihr nichts versprechen. Menschlich gesehen erwartet sie Not, Elend und Ablehnung – wie auch viele, die als Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns kamen und später in ihre Dörfer zurückkehrten und dort oft als Verräterinnen und Verräter gebrandmarkt wurden.
Gott selbst ist es, der Noomi und Rut segnet, der Unheil in Heil verwandelt. So kommt es schlussendlich in der Rut-Erzählung zu dem biblischen Traumpaar von Rut und Boas. Gott schreibt Heilsgeschichte entgegen der menschlichen Erwartung.
Aus allen Völkern schafft Gott das Heil.
Ende gut – alles gut?
Nein, das Ende ist nur der Anfang und der Ausgang ist und bleibt offen. Die Geschichte erzählt von Gottes Barmherzigkeit, die größer ist als unsere menschlichen engen (und ausgrenzenden religiösen) Vorstellungen.
Die Rut-Geschichte ist und bleibt eine Anfrage an alle Gläubigen gleich welcher Religion.
Wir können uns fragen und selbstreflektiert mit unseren Begegnungen, Stimmungen, Abwehrhaltungen und Vorurteilen umgehen: Wie sehen wir unser Gegenüber? Zuerst als Mensch in seiner Bedürftigkeit oder fragen wir sofort nach Glauben oder Unglauben, nach Volk oder Ethnie, nach arm oder reich?
Ach es gibt so viel Spielarten von Freund- und Feinddenken mit denen wir uns alle selbst ins Abseits stellen.
Hier haben wir alle zu lernen und immer wieder umzukehren von hartnäckigen Hindernissen und Vorurteilen, die sich in unser Herz schleichen.
Wenn Gottes Barmherzigkeit so groß ist, dass seine Liebe allen Menschen gilt, wie sollten wir dann engherzig und verbohrt sein?
Wenn wir aber wirklich an Gottes Liebe glauben, dann lasst uns kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden und gemeinsam sitzen am Tisch des Herrn, heute schon und für immer in seinem Reich.
Amen