Bericht mit Fotografien von der Frankfurter Buchmesse 2021 – Gastland Kanada Niklas Fleischer, Dortmund 2021

Foto vom Autor: Blick auf die Agora der Buchmesse, mit Messeturm

Einleitung

Messen… Mensch, da war ja mal etwas, bevor Covid-19 die Art, wie wir öffentlich umgehen und uns mit anderen Menschen versammeln gänzlich umgekrempelt hat. Zur Erinnerung, die Älteren werden es auch noch kennen: der Duden beschreibt Messen als „große [internationale] Ausstellung von Warenmustern eines oder mehrerer Wirtschaftszweige“.

Vorahnung auf einen anderen Messeverlauf

Genug der der Ironie: Ziemlich genau vor zwei Jahren habe ich hier an dieser Stelle das letzte Mal von der Buchmesse berichtet – zwei Jahre, in denen eher viel passiert ist. Auch wenn das öffentliche Leben durch die Impferfolge langsam wieder Fahrt aufnimmt, sind Zusammenkünfte mit vielen Menschen – zu mindestens für mich – immer noch etwas Ungewohntes, nahezu Befremdliches. Umso mehr habe ich mich gefreut, in diesem Jahr wieder auf die Buchmesse zu fahren – mit der Frage im Hinterkopf: Wie würde es wohl sein?

Re:Connect

In diesem Jahr hat sich die Frankfurter Buchmesse selber den Titel „Re:Connect“ gegeben – eigentlich ein ziemlich technischer Begriff, bei genauem Hinsehen aber eigentlich recht passend:

In der IT bezeichnet ein „Reconnect“ einen erneuten Verbindungsaufbau, beispielsweise nach einem Verbindungsabbruch. Wenn wir also unseren Internet-Router Zuhause neu starten, beispielsweise weil die Videokonferenz im Home-Office zur Diashow wurde, oder abends Netflix Probleme bereitet – dann ist das ein Reconnect. Wir versuchen, eine verlorene Verbindung wieder aufzunehmen – im Falle der Buchmesse sicherlich den menschlichen Kontakt zwischen AutorInnen, Verlagen und LeserInnen.

Foto vom Autor: Bücherstapel beim Lübbe-Verlag
Wie würde also dieser „erneute Verbindungsaufbau“ mit der Literaturwelt sein?

Für den Besuch hatten wir uns in diesem Jahr einen Fachbesucher-Tag ausgesucht. An diesen Tagen dient die Frankfurter Buchmesse einzig und allein Fachbesuchern, und wie in unserem Fall natürlich Bloggern und Journalisten. Verkauft wird an diesen Tagen – von Ausnahmen, wie z.B. Papeterie abgesehen – nichts, stattdessen dient die Messe an diesen Tagen der Geschäftsanbahnung zwischen Verlagen und Buchhändlern, Autoren und Verlagen, fremdsprachigen Verlagen und Übersetzern, etc. Die Öffentlichkeit hat noch draußen zu bleiben.

Hierdurch bleibt der große Andrang an diesen Tagen aus – bei meinem Besuch im Jahr 2019 wirkte die Messe an einem öffentlichen Besuchertag beinahe schon überfüllt – und kann sich in Ruhe der Geschäftsanbahnung und dem Empfang von Geschäftskunden an den Ständen widmen.

 

Der Einlass

Nach Prüfung des Tickets, des Impfnachweises und Personalausweises ging es also endlich los, wir konnten die Fahrbänder betreten und uns in Richtung von Halle 3.1 aufmachen. Was hier direkt auffiel: Von Überfüllung konnte keine Rede sein. Abstandsregeln konnten problemlos eingehalten werden. Ob dies am Fachbesuchertag lag, oder an der generellen Ticketbegrenzung auf 25000 Besucher, kann ich mangels einer Vergleichsmöglichkeit nicht genau sagen – vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Dem Sicherheitsgefühl war dies für mich aber eher zuträglich.

Foto vom Autor: Fahrband / Skywalk („Via Mobile“)

Halle 3

Zur Erklärung, Halle 3 ist normalerweise der „Hot Spot“ der Buchmesse. Im Untergeschoss 3.0 tummeln sich die großen Deutschen Belletristik-Verlage, die viele Menschen anziehen und normalerweise Menschenaufläufe garantieren. Im Obergeschoss 3.1 finden sich hingehen spezialisierte Verlage. Schon beim Studium der Hallenpläne fiel eine Veränderung auf: Auch die wissenschaftliche Literatur – 2019, wenn ich mich recht erinnere, noch ein ganzes Stockwerk einer der kleineren Hallen – fanden sich nun hier.

Entdeckungen im Obergeschoss

Wir kamen über den Skywalk zuerst in Halle 3.1 an. Wie schon beim Eindruck war es nicht zu voll – im Gegenteil. Ein surreales Gefühl schlich sich bei mir ein: Bin ich wirklich schon auf der Buchmesse?

Foto vom Autor: Social Distancing

An dieser Stelle kamen bei mir langsam leise Zweifel auf, ob sich die Buchmesse in diesem Jahr für alle Beteiligten wirklich lohnt – oder ob es sich eher um eine Generalprobe handelt – um für die Post-Covid-Zeit nicht völlig aus der Übung zu kommen. Für Menschen, die in Pre-Covid Jahren auf der Buchmesse waren, hatte dieser Anblick definitiv etwas Surreales.

Andererseits: Man konnte die vielen Stände genießen, ohne ständig von Menschentrauben umringt zu werden. Die Atmosphäre hatte beinahe etwas Ruhiges, Intimes. Nicht unbedingt etwas, was Geschäftsleute sich wünschen, die dieses Jahr angesichts Papierknappheit und Inflationsrisiken schon genug Sorgenfalten zulegen werden – als Besucher fand ich dies jedoch eher angenehm.

Highlights und Bemerkenswertes

Dennoch war auch diese Halle mit Highlights gesegnet, beispielsweise der wie jedes Jahr großartige Stand der „Stiftung Buchdruckkunst“, andererseits auch spannender Stände politischer Bildung, wie der Neuen Darmstädter Verlagsanstalt.

Foto vom Autor: Shortlist des Förderpreises für Junge Buchgestaltung

Noch einmal zurück zur „Stiftung Buchdruckkunst“: An diesem Stand wird, wie jedes Jahr erneut deutlich, dass Bücher auch eine visuelle und haptische Kunstform sind. Im vorherigen Bild ist die Shortlist eines Förderpreises für Junge Buchgestaltung zu sehen, auf der mir vor allem das Buch „Berlin Maps“ aufgefallen war.

Nach einem eher längeren Verbleib bei diesem Stand ging es also weiter. Ein Stand pries Bücher unter dem Schlagwort „Anti-Idiotikum“ an, hier verschwand für mich aber leider der literarische Inhalt etwas unter der sehr plakativen Aufmachung.

Foto vom Autor: Anti-Idiotikum
Das Erdgeschoss – Tummelplatz der großen Verlage, aber nicht unbedingt Tummelplatz vieler Besucher

Nach einer kurzen Frischluft-Pause ging es ins Erdgeschoss, der Halle 3.0. Hier wird geklotzt, und nicht gekleckert. Auch hier – 2019 war kaum ein Durchkommen – konnte man sich jedoch bequem bewegen und Abstandsregeln einhalten. Die Bücherstapel der großen Verlage waren auch in diesem Jahr vorhanden, und auch bei der Standdekoration wurde vielerorts nicht gespart. Andererseits gingen andere Verlage in diesem Jahr auch anders an die diesjährige Buchmesse – meiner Meinung nach etwas realistischer.

Der Moritz-Verlag beispielsweise ging erfrischend an das Messejahr und aktualisierte den Jubiläums-Messestand aus dem Jahr 2019 mit ein paar kreativen Eddingstrichen auf das Messejahr 2021. Sicher, eher aus der Not heraus geboren, für mich jedoch eine großartige Analogie dafür, dass in diesem Jahr eben nicht alles „Normal“ ist.

Foto vom Autor:  „Update“
Der in sich gekehrte Schweizer

Letztlich habe ich in dieser Halle auch mein Lieblingsfoto für dieses Jahr gemacht, und habe einen in sich gekehrten Leser fotografiert, der sich in Ruhe, mit viel Platz, am Stand des Schweizer Buchpreises informieren konnte. Er möge es mir verzeihen, aber die ruhige, in sich gekehrte Stimmung dieses Bildes passt für mich wunderbar zur Gesamtstimmung, die ich ansonsten in diesem Jahr auch auf der Messe wahrgenommen habe. Angenehm, aber fast etwas zu ruhig.

Foto vom Autor: Der in sich gekehrte Schweizer

Die Agora

Wie jedes Jahr bietet die Agora Platz, Luft zu schnappen – in diesem Jahr mal zwischendurch die Maske abzusetzen – und etwas innezuhalten. Neben Speis und Trank gab es auch in diesem Jahr wieder Kunstinstallationen. Über große Videoleinwände wurden zudem Vorträge und Dialoge abgespielt.

In Erinnerung ist mir eine Installation einer Bank geblieben, wobei mir eine genaue Deutung des Kunstwerkes eher schwerfällt. Soll mir das etwas über die Schweiz sagen, oder über Europa? Andererseits ist es witzig, dass die Schweiz ausgerechnet in einem Bankenkunstwerk Nennung findet.

Foto vom Autor: Schweizer Bank

Zusätzlich stand eine Tretmühle bereit, auf der man sich durch eigene Körperkraft einen kurzen Film abspielen konnte. Bei einem haptischen Kunstwerk darf in diesem Jahr natürlich der Desinfektionsmittelspender nicht fehlen…. Ob den auch alle benutzt haben?

Auf jeden Fall ging es jetzt frisch gestärkt in die anderen Hallen.

Foto vom Autor: Kino zum Selbermachen

Die Hallen 4, 6 und Forum

Die Hallen 4 und 6 dienten in diesem Jahr vornehmlich den Internationalen Verlagen. Bis auf die englischsprachigen Stände finden sich hier viele Bücher, die mir nicht direkt zugänglich sind.

Genau in dieser gewissen Exotik liegt für mich jedoch auch der eigentliche Reiz diese Hallen zu besuchen, auch wenn ich kein Verlagsagent bin, der interessante Titel für Übersetzungen und hiesige Veröffentlichung sucht: Die Stände, Buchtitel und Cover sind in jedem Jahr aufs Neue eine visuelle Erfahrung. Im Gegensatz zur UNO und WHO ist auch Taiwan mit großen Ständen vertreten, ohne, dass es zu Konflikten oder Tumulten käme, Kanada, Japan, die vereinigten Staaten, etc. luden ein, die dortige Literatur zu erkunden.

<3860> Taiwan

 

Sehnsüchtiges Warten auf Besucher und neue visuelle Erfahrungen

Ein wenig schlich sich bei mir aber ein schlechtes Gewissen ein, da die Hallen eher leer waren und viele Standbetreiber offenbar sehnsüchtig auf Literaturagenten anderer Verlage warteten. Eine Hoffnung, die ich leider als Blogger enttäuschen musste.

Zuletzt besuchten wir noch das Forum: Auch hier fanden sich noch einige spannende Attraktionen zum Gastland Kanada. Mir fiel besonders eine Audiovisuelle-Installation zu Leonard Cohen ins Auge, bei der man sich mit Handbewegungen durch Kurzfilme und Geschichten zu Cohen informieren konnte. Etwas anstrengend zu benutzen, aber spannend. Zuletzt schmerzten jedoch eher die Beine, es stellte sich eine gewisse Reizüberflutung ein, angesichts der längeren Rückfahrt ging es mit dem Shuttlebus schließlich in Richtung des Parkhauses.

Foto vom Autor: Taiwan

Fazit

Die „Re:Connect“ war in diesem Jahr für mich eine Buchmesse der etwas anderen Art. Einerseits bin ich froh, dass es diese Institution weiterhin gibt. Auch in diesem Jahr gab es wieder großartige visuelle Eindrücke und Begegnungen, der Besuch hat sich generell absolut gelohnt.

Andererseits schlich sich bei mir in vielen Bereichen Nachdenklichkeit und etwas Mitleid ein, angesichts der vielen leeren Gänge und Stände. Viele Fragen kommen hier auf: Lohnt sich die Messe in diesem Format für alle Beteiligten noch? Wie geht es weiter? Ist eine Präsenzmesse nicht etwas verfrüht?

Re:Start oder Re:Connect?

Statt einem „Re:Connect“, wo meistens nach kurzer Wartezeit alle Verbindungen wieder zur Verfügung stehen und Netflix wieder ruckelfrei sein Programm abliefert, kam mir die Messe eher wie ein „Re:Start“ vor, also ein langsamer Neustart, bei dem beinahe von Null begonnen werden muss, gewissermaßen ein langsamer Wiederaufbau.

In vielen Bereichen scheinen Messen bereits ein Auslaufprodukt zu sein – siehe IAA. Die Konsumwelt ist deutlich kurzlebiger geworden, Produktvorstellungen aller Art gibt es inzwischen das ganze Jahr über im Internet. Dennoch ist gerade die Frankfurter Buchmesse für mich eine Institution der deutschen Kulturlandschaft. Ohne diese Messe würde etwas fehlen.

Ich hoffe deshalb auf ein Wiedersehen im Jahr 2022, hoffentlich ohne Pandemie, gerne wieder mit mehr Programm, mehr Begegnungen und mehr Ständen, aber durchaus mit den gewonnenen Platz und ohne Massenandrang. An den Schluss dieses Berichts setze ich deshalb Lichtsäulen mit dem überaus passenden Buchtitel: „Wo Geschichten neu beginnen“.

Foto vom Autor: „Wo Geschichten neu beginnen“.

Beispiel aus der Ausstellung Shares History, Pressearbeit und Aufsatz, Fröndenberg 2021

Ernst Gräfenbergs Kampagne für die Rechte der Frau

Jul 8, 2021, von Prof. Atina Grossmann | The Cooper Union

Genehmigung durch: Margarete Schwind, SCHWINDKOMMUNIKATION, Margarete Schwind und Sabine Schaub GbR, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Knesebeckstr. 96, 10623 Berlin

Die Beispiele des Gräfenberg-Pessars aus der virtuellen Ausstellung Shared History Project, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Die „Erfindung“ des Intrauterinpessars von Dr. Ernst Gräfenberg ist Teil einer transnationalen – konkret: einer gemeinsamen deutsch-jüdisch-amerikanischen – Geschichte von Sexualreform und Bevölkerungspolitik. Die Bewegung war geprägt vom einem breiten„Konsens über Mutterschaft und Eugenik“ der gesunde Mutterschaft und Fortpflanzung forderte – und jeweils in unterschiedlich radikaler Form – die Legalisierung von Homosexualität und Abtreibung und für das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung über ihren Zugang zu sicheren Verhütungsmethoden eintrat.

Ernst Gräfenberg wurde 1881 geboren; seine jüdische Familie lebte in Adelebsen, einer kleinen Stadt nahe Göttingen. Sein Vater besaß einen Eisenwarenhandel und war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Ernst Gräfenberg studierte Medizin in Göttingen und München, ursprünglich mit der fachärztlichen Ausrichtung der Augenheilkunde, und schloss im Jahr 1910 seine Ausbildung in Geburtskunde und Gynäkologie in Kiel ab. Seine gerade erst begonnene Laufbahn als Arzt und Wissenschaftler in Berlin wurde unterbrochen, als er im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ließ sich Gräfenberg mit einer Praxis auf dem Kurfürstendamm mitten im belebten Berliner Geschäftszentrum Charlottenburg nieder, die bald florierte. Der Bezirk stand wie kein anderer für die experimentell-modernistische und jüdisch geprägte urbane Kultur der Weimarer Republik. Parallel übernahm er wie viele seiner jüdischen Kollegen einen Posten im umfassenden kommunalen Gesundheitssystem der Stadt, das von Ideen des Sozialismus bzw. Kommunismus geprägt war, und arbeitete als Chefarzt der Gynäkologie im städtischen Krankenhaus des Arbeitervororts Britz.

Im Jahr 1932, kurz vor ihrer Entlassung im Rahmen der von den Nazis betriebenen „Gleichschaltung“, waren in einer Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 4 % weit mehr als die Hälfte der 6.785 Ärztinnen und Ärzte an den städtischen Krankenhäusern Berlins Jüdinnen und Juden. Ab 1933 durften jüdische Ärztinnen und Ärzte, davon mindestens 270 von 722 Ärztinnen in Berlin, nicht mehr in den öffentlichen, Kassenpatienten offenstehenden Ambulatorien praktizieren.

Ein im Jahr 2016 in Haaretz erschienener Beitrag feierte Gräfenberg wegen seiner anderen (nach seinem Tod erkannten) Errungenschaft als den „Arzt, der den G-Punkt entdeckte, falls es diesen gibt“ und beschrieb ihn als Mann, „der seiner Zeit voraus war.“ Tatsächlich war er aber auch und gerade ein Mensch seiner Zeit. Sexualwissenschaftler, Ärzte, Sozialarbeiter und Politiker der Weimarer Republik beklagten den „Graben zwischen den Geschlechtern“, der sich im Ersten Weltkrieg aufgetan hatte, ebenso wie die offensichtlich unter den „neuen Frauen“ der 1920er Jahre verbreitete Verachtung für Ehe und Mutterschaft. Frauen hatten das Wahlrecht erhalten und einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Unabhängigkeit erreicht – die Folge der neuen rationalisierten Wirtschaft, in der Angestellte und Fließbandarbeiter gebraucht wurden. Ebenso eröffneten sich den Frauen neue berufliche Chancen unter anderem in Medizin, Sozialarbeit, im Journalismus, in der Fotografie und sogar in der Rechtspflege. In seiner wissenschaftlichen Forschung befasste sich Gräfenberg mit der weiblichen Sexualität und dort besonders mit dem so schwer zu erreichbaren vaginalen Orgasmus, dem in dieser Zeit seit neuestem große Bedeutung als zentraler Aspekt harmonischer heterosexueller Beziehungen zugeschrieben wurde. Dieser, so die Annahme, hing vom Zugang der Frauen zu sicheren und verlässlichen Verhütungsmethoden ab.

Im Jahr 1928 organisierte das neu gegründete Deutsche Komitee für Geburtenregelung in Zusammenarbeit mit dem Verband Berliner Krankenkassen das erste Ärzteseminar zum Thema Geburtenregelung im Berliner Virchow-Krankenhaus. Die meisten der ungefähr 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Mitglieder des Vereins sozialistischer Ärzte und/oder des Bundes deutscher Ärztinnen; viele von ihnen kamen aus jüdischen Familien.

In seinem Vortrag fasste Gräfenberg seine seit fast zehn Jahren betriebene experimentelle Forschung an Intrauterinpessaren (IUP) zusammen; diese waren erstmals von den deutschen Ärzten Richard Richter (1909) veröffentlicht und Walter Pust (1923) entwickelt worden. Gräfenberg hatte das IUP weiterentwickelt als einen Ring mit Seidenfäden, mit dem Spermien abgewehrt wurden. Das Gerät stellte eine „elegante“ medizintechnische Lösung dar, so formulierte er es, die Frauen vor häufigen Schwangerschaften und der Gefahr einer Sepsis oder einer möglichen Unfruchtbarkeit bewahrte, die mit einer illegalen Abtreibung verbunden war. Gräfenberg pries den Ring als besonders hilfreich für Frauen des Proletariats an, die unter Umständen wegen schlechter hygienischer Bedingungen, des Unwillens ihrer männlichen Partner und allgemeiner „Unkenntnis“ nicht in der Lage waren, ein Diaphragma (oder Pessar) richtig und regelmäßig zu verwenden. Sein Publikum begegnete dem Vortrag mit großer Skepsis, so dass der „Gräfenberg-Ring“ weiterhin wegen der weitverbreiteten Zweifel an seiner Sicherheit und Zuverlässigkeit umstritten blieb. Während die Ärzte das IUP in ihr Angebot an Verhütungsmitteln aufnahmen, wurden in den Ehe- und Sexualberatungsstellen für Frauen der Arbeiterklasse weiterhin den weniger invasiven und von den Frauen selbst eingesetzten Verhütungsmitteln der Vorzug gegeben, wobei allerdings regelmäßig darauf hingewiesen wurde, wie wichtig medizinische Anleitung und Kontrolle seien.

Davon unbeeindruckt präsentierte der Sexualwissenschaftler 1929 sein IUP auf dem Londoner Kongress der Weltliga für Sexualreform. Diese internationale Vereinigung, die Wilhelm Reich, Alexandra Kollontai und Bertrand Russell wie auch Aktivistinnen und Aktivisten aus Indien und Japan zu ihren Unterstützern zählte, trat für sexuelle Freiheit, die Rechte von Homosexuellen und die Legalisierung von Abtreibungen ein. Inspiriert war die Liga in ihrer Haltung von der frühen bolschewistischen Revolution und dem Leitsatz des von Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin: Per Scientiam ad Iustitiam.

Im gleichen Jahr hielt Gräfenberg einen Vortrag auf der Internationalen Konferenz für Geburtenregelung in Zürich. Margaret Sanger, der Vorkämpferin der Verhütung in den Vereinigten Staaten, war es gelungen, Vertreter und Vertreterinnen einer auffallend großen Vielfalt von Gruppierungen und politischen Haltungen als Teilnehmende der Konferenz zu gewinnen. Anwesend waren überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen und Mitglieder des Bundes deutscher Ärztinnen, sowie Dr. Hans Lehfeldt und Dr. Felix Theilhaber, beides Kollegen von Gräfenberg, die in den von Laienorganisationen der Sexualreformbewegung getragenen Beratungsstellen tätig waren. Auch Dr. Charlotte Wolff, die in einem Ambulatorium der Schwangerenfürsorge des Verbandes Berliner Krankenkassen arbeitete, nahm teil, wie auch Eugeniker, die zum Teil von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurden.

Auf der Züricher Konferenz mit ihren medizinischen Vorträgen – aber auch gemeinsamen Abendessen, Tänzen und Ausflügen in die Berge der friedlichen Schweiz – wurden Verbindungen geknüpft und intensiviert, die sich nur wenige Jahre später als lebensrettend herausstellen sollten, als viele der Teilnehmenden, darunter auch Hans Lehfeldt, Felix Theilhaber und Charlotte Wolff, aus Deutschland flüchten mussten. Eine weitere Folge dieser Konferenz waren globale Kooperationen nach dem Krieg und die Entstehung der International Planned Parenthood Federation. Kurze Zeit später organisierte die Weltliga für Sexualreform einen von radikaleren Positionen gekennzeichneten Kongress in Wien mit der Unterstützung des sozialistisch regierten Rathauses der Stadt. Es kann angenommen werden, dass in dessen Ausstellung von Verhütungsmitteln auch Gräfenbergs neuer Ring gezeigt wurde.

 

Ausstellung in Hamburg: Raffael (1483-1520), Hinweis 1, Christoph Fleischer, Welver 2021

Julius II. in der Werkstatt Raffaels / ‚Le pape Jules II venant voir les cartons des fresques destinées à la ‚Stanza della Segnatura‘ (Vatican) – 1508′, 1910

Hiermit möchte ich auf eine andere interessante Ausstellung hinweisen, die nur noch bis zum 3. Oktober in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wird: „Raffael, Wirkungen eines Genies“. In der Zeitschrift „Magazin , Freunde der Kunsthalle“ (Frühjahr 2021) wird auf einer Doppelseite ein Bild des bekannten Gemäldes Raffaels gezeigt „Schule von Athen“. Doch das ist kein Foto, sondern die Abbildung einer Gouache von Louis Jacoby (1828 – 1918), der das Wandgemälde des Vatikans auf 64,5 bis 91,5 cm malerisch kopiert hat. Eine Fotografie könnte kaum genauer sein als dieses Bild. Dieses Bild ist jedoch lediglich die Vorlage für einen Kupferstich, der dann allerdings wohl in schwarz-weiß veröffentlicht worden ist.

Kupferstich 1882

Wer ein bisschen im Internet stöbert, findet eine Fotografie des Originals aus dem Vatikan auf zeno.org, das hier ergänzt werden kann, da es gemeinfrei ist:

 

http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Raffael%3A+Stanza+della+Segnatura%3A+Die+Schule+von+Athen

Ein kleiner Einblick in das Leben Raffaels ist das Reclam-Büchlein: Georgio Vasari: Das Leben des Raffael von Urbino.

Vasari, Giorgio: Das Leben des Raffael von Urbino, Hrsg.: Kanz, Roland, Reclam Verlag, Stuttgart 2020, 144 S. 22 Farbabb., ISBN: 978-3-15-019653-3, Preis: 7,00 Euro

Dieser Text stammt aus einer regelrechten Sammlung von Biografien, die Georgio Vasari im Jahr 1568 herausgegeben hat. Dieses Werk wurde im 19. Jahrhundert von Adeline Seebeck (1799 – 1874) anonym übersetzt und in sechs Bänden herausgegeben. Der Text des Reclam-Buches ist mit zahlreichen farbigen Abbildungen der Werke Raffaels illustriert, mit der Angabe des Aufbewahrungsortes der jeweiligen Werke. Über die berühmte sixtinische Madonna aus der Gemäldegalerie Dresden, auch hier abgebildet, verliert Vasari nur einen Satz, während er die Ausgestaltung der Stanza im Vatikan ausführlich kommentiert, nicht nur die oben gezeigte „Schule von Athen“ sondern derer genau gegenüber das ebenso monumentale Werk „Disput über das Sakrament“.

Interessant ist im Fortgang der Darstellung zu lesen, wie Raffael nicht nur immer bekannter und angesehener, sondern auch schlicht reicher wurde. Leider starb er mit nur 37 Jahren vermutlich an Syphilis, Vasari meinte jedenfalls, er hätte sich bei einer seiner zahlreichen Geliebten angesteckt. Ich würde mich mal fragen, ob Raffael Bildnisse seiner Geliebten auch in den zahlreichen Gemälden untergebracht hat, auch da, wo es sich eigentlich nur um Männer handeln kann, wie bei der „Schule von Athen“. Zur Hochzeit kam es jedenfalls nicht mehr, obwohl er inzwischen verlobt war. Seine Verlobte wurde, wie es bei Vasari heißt, reichlich abgefunden.

 

Von der Antike bis heute: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum, aktuelle Pressemitteilung, Berlin 2021


Shared History virtuelles Museum ist ab 28. Februar 2021 eröffnet  www.sharedhistoryproject.org.

Berlin, 22. Februar 2021.- Das Leo Baeck Institute – New York | Berlin (LBI) eröffnet am 28. Februar 2021 den ersten virtuellen Ausstellungsraum zu Shared History (Geteilte Geschichte): 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum.

Anhand von 58 Objekten erzählt Shared HistoryWoche für Woche die Geschichte der zentraleuropäischen Juden, beginnend mit dem Edikt von Konstantin dem Großen aus dem Jahre 321, das Juden erstmals Ämter in der städtischen Verwaltung in Köln zugestand, und endend mit einem zeitgenössischen Objekt von 2021.

Jedes Objekt wird die deutsch-jüdische Geschichte und ihre Verwobenheit mit Menschen, Regionen und Ländern in Zentraleuropa illustrieren; es fungiert immer auch als Metapher oder philosophische Idee, wird von einem wissenschaftlichen Essay und einer persönlichen Geschichte begleitet. Anders als in einer normalen Ausstellung kann man es greifen, bewegen, drehen und aus verschiedenen Blickwinkeln anschauen – ein haptischer Eindruck entsteht.

„Das Ziel dieser Ausstellung ist es, eine Bandbreite verschiedener Artefakte zu präsentieren, darunter auch fiktionale Konzepte, Mythen, architektonische Wahrzeichen, Symbole und Bilder. Jedes Objekt soll dabei als Kommentar zu historischen Ereignissen dienen und deren gegenwärtige Relevanz bezogen auf die übergreifenden Themen wie Migration, Inklusion, Exklusion, Akkulturation, Verfolgung, Erfolg und Resilienz veranschaulichen“, erklärt die Kuratorin und Leiterin des Berliner Büros Dr. Miriam Bistrovic.

Im Vorfeld haben Museen, Bibliotheken und andere Einrichtungen aus ganz Europa, Israel und USA und Südamerika Hunderte von Objekten nominiert, die nach eingehender Evaluation durch das LBI sowie Repräsentantinnen und Repräsentanten aus den jüdischen Gemeinden, Wissenschaft, Museen, Archiven und Bibliotheken die Basis für das Projekt bildeten. Die Auswahl der Objekte basierte darauf, wie gut es ihnen gelingt:

  • eindrücklich Begebenheiten oder Phänomene der deutschsprachigen jüdischen Geschichte zu schildern
  • wichtige Aspekte der jüdischen Religion oder religiöse Praktiken näher zu beleuchten und zu vermitteln oder als einprägsame Zeugnisse jüdischer Kultur zu dienen
  • den Sachverhalt, dass Jüdinnen und Juden seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum leben, verständlich zu machen
  • eines oder mehrere der zentralen Themen des historischen Narrativs zu erläutern
  • die Interaktion und den andauernden kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch zwischen der christlichen Mehrheit, Juden und anderen Bevölkerungsgruppen zu dokumentieren
  • den geographischen Raum zu repräsentieren, in dem Deutsch einst entweder die vorherrschende Sprache war oder noch immer ist oder in dem Deutsch innerhalb einer signifikanten Bevölkerungsgruppe als primäre Sprache gesprochen wurde.
  • interessante und visuell ansprechende Darstellungsmöglichkeiten zu bieten

Die 58 Objekte und ihre Geschichten wurden eingehend recherchiert und werden wöchentlich in chronologischer Reihenfolge  auf der Shared History Website gepostet, sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache. Die Shoah unterbricht das Muster: „Damit machen wir die Diskontinuität der deutsch-jüdischen Geschichte sichtbar, den Zivilisationsbruch des Völkermords“, erklärt Dr. David G. Marwell, der Präsident des Leo Baeck Institute und frühere Direktor des Document Center Berlin.

Eine Woche lang veröffentlicht Shared History täglich ein Objekt, das sich jeweils einem bestimmten Aspekt des Holocausts widmet.

Dem Lyriker und Publizisten Dr. Max Czollek gefällt am Shared History Projekt besonders, dass „es sich nicht auf eine deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte beschränkt. Die Objekte unterstreichen im Gegenteil, dass jüdisches Leben eigenständig und selbstbestimmt stattfand; dass die Rede von der Shared History also auch eine spezifische jüdische Geschichte zur Voraussetzung hat.“

Für Prof. Dr. Rafael Groß, den Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, ist das Überraschende der jahrhundertelanger Dauer deutsch-jüdischer Geschichte, dass die Ausstellung „die kulturelle Höchstleistung einer kleinen jüdischen Minderheit zeigt, die keine spezifischen Rechte für sich beanspruchte. Es ging ihr um gleiche politische Rechte, um eine rechtliche Emanzipation.“

Als begleitende Aktivitäten sind eine Konferenz, eine Wanderausstellung, öffentliche Veranstaltungen, pädagogische Materialien und eine Publikation geplant.

Hier wurde diese Ausstellung bereits angekündigt und mit einzelnen Beispielen illustriert:

Shared History: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum, Presseinformation, Margarete Schwind, Berlin 2021

Shared History: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum, Presseinformation, Margarete Schwind, Berlin 2021

Ein Projekt des Leo Baeck Institute – New York | Berlin — www.sharedhistoryproject.org

Berlin, 15. Januar 2021 – 2021 markiert das 1700-jährige Jubiläum des frühesten Dokuments, das eine jüdische Gemeinschaft in dem Gebiet des deutschsprachigen Raums erwähnt. In einem Edikt aus dem Jahre 321, dessen Abschrift heute in der Vatikanischen Bibliothek verwahrt wird, erlaubte Kaiser Konstantin den Kölner Stadträten, auch Juden zur Ausübung öffentlicher Ämter zu verpflichten.

Um die facettenreichen Narrative jüdischer Geschichte in diesem Zeit- und Sprachraum zu schildern, hat das Leo Baeck Institute – New York | Berlin das Projekt Shared History: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum ins Leben gerufen. Es ist eine Shared History, eine gemeinsam geteilte Geschichte, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Geschichte von Jüdinnen und Juden war und ist seit Jahrhunderten tief verwoben mit der Geschichte der Mehrheitsbevölkerung in den Regionen und Ländern dieses Raums.

Im Verlaufe des Jahres 2021 werden unter www.sharedhistoryproject.org wöchentlich je ein Objekt und korrespondierende Essays veröffentlicht. Die dabei geschaffene 1700 Jahre umfassende Gesamtschau jüdischer Geschichte im deutschsprachigen Raum wird aktiv zur Vermittlung jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum dienen und mithilfe von Fakten und Aufklärung einen wichtigen Beitrag gegen Unkenntnis, zunehmende Geschichtsverzerrung und wachsenden Antisemitismus leisten.

Das Shared History Projekt beleuchtet schlaglichtartig die individuellen und kollektiven Erfahrungen, die jüdischen Alltag über Jahrhunderte prägten: Diskriminierung, Ausgrenzung und Entrechtung auf der einen Seite, Akzeptanz, Akkulturation und gesellschaftlicher Aufstieg auf der anderen Seite. Dabei zeigen die Objekte, dass es mitunter die kleinsten Dinge sein können, wie ein paar gläserne Ampullen, die ein gemeinsames Miteinander vor Augen führen – oder den gesellschaftlichen Ausschluss bis zur skrupellosen Ermordung unverkennbar machen, wie der aus der Erde geborgene Anhänger eines Mädchens.

Jüdisches Leben ist heute in all seiner Vielfalt wieder ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Doch wie ein Blick auf die Objekte des Shared History Projekts und deren Geschichten zeigt, ist der Weg dorthin alles andere als einfach gewesen. Er war geprägt von Rückschlägen und Brüchen, aber auch von Zeiten des lebendigen Miteinanders und dynamischen Austausches.

Einen Beitrag über das Projekt von David Dambitsch dürfen wir zum Nachhören anbieten:
Deutschlandfunk, Schalom 08.01.2021 / 1700 Jahre Juden in Deutschland

Virtuelle 3D Ausstellung & Website

Gefördert durch: #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland e.V. aus Mitteln des Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI)

Die verschiedenartigen Exponate – unter anderem Schmuck, Gemälde, Sakralgegenstände, Bücher und Mankuskripte, Synagogen und andere Bauten, und selbst fiktionale Konzepte wie der Golem – werden mittels moderner Techniken wie 3D Fotogrammetrie und 360-Videos abgebildet und in einem fiktionalen Raum zur Schau gestellt.

Realisation der Webpräsenz: Z-Reality GmbH (Kaiserslauten) und Design360 (New York)

Expertenbeiträge

Zur Webpräsenz gehört auch ein Platform, wo die Objekte von erläutenden Expertenbeiträgen begleitet werden. Zu den Autorinnen und Autoren gehören Forschende aus der Geschichtswissenschaft, Archäologie und Kunstwissenschaft, aber auch Mitarbeitende aus Bibliotheken und Archiven sowie Vertreterinnen und Vertreter von Gemeinden und Publizierende.

Vom 27. Januar 2021 – 23. April 2021 wird eine physische Ausstellung im Paul Löbe Haus des Deutschen Bundestages gezeigt. Die Ausstellung auf 27 Glaspanelen präsentiert eine Auswahl der Objekte des Shared History Projekts. 

Die 58 Objekte aus den Sammlungen von über 40 Museen, Bibliotheken, Archiven und anderen Institutionen in 10 Ländern werden in über die folgenden Kanäle präsentiert:

LEO BAECK INSTITUTE – 

Zum Leo Baeck Institut 

Gegründet von deutsch-jüdischen Emigrierten als unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York hat sich das Leo Baeck Institut seit nunmehr über 60 Jahren der Aufgabe verschrieben, das kulturelle Vermächtnis des durch den Holocaust nahezu ausgelöschten deutschsprachigen Judentums zu bewahren. Die Gründungsväter und -mütter zählten zu den führenden Intellektuellen ihrer Zeit und waren selbst oftmals nur mit großen Mühen dem NS-Regime entflohen: unter ihnen befanden sich Martin Buber, Max Grunewald, Hannah Arendt, Selma Stern und Robert Weltsch. Sie benannten das Institut nach dem Rabbiner Leo Baeck, dem letzten führenden Repräsentanten der jüdischen Gemeinden im Nationalsozialismus, der zugleich erster Präsident des Leo Baeck Instituts wurde. 

Die Bestände des LBI New York umfassen über 80.000 gedruckte Bände, zahlreiche Periodika, 10.000 archivalische Nachlässe, 25.000 Fotografien und rund 8.000 Kunstwerke und Objekte. Der Großteil der im Leo Baeck Institut erhaltenen Objekte wurde von jüdischen Flüchtlingen selbst oder ihren Nachkommen in die Obhut des Instituts übergeben. Die bewahrten deutschsprachigen Dokumente, Bücher, Aufzeichnungen und Erinnerungsstücke haben ihre früheren Besitzer mitunter durch mehrfaches Exil begleitet und verdeutlichen, wie stark die emotionale und psychologische Verbundenheit zur verlorenen Heimat im deutschsprachigen Raum war – trotz Brüchen, Entwurzelung und Trauma. Mit seinem Archiv in New York schuf das LBI einen Aufbewahrungsort seiner erstklassigen über fünf Jahrhunderte umspannenden Sammlungen, die heute zu den wichtigsten Primärquellen jüdischer Geschichte und Alltags in Mitteleuropa gehören.