Wo ist Gott im Leiden? Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt Hiob – oder die Frage: Wo ist Gott im Leiden?

Text entnommen aus https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/

1 Da reagierte Hiob und sprach: 2 »Auch heute noch besteht meine Klage im Widerspruch, meine Hand liegt schwer auf meinem Stöhnen.
3 Wer gäbe, dass ich Gott zu finden wüsste, dass ich zu Gottes Thron gelangte!
4 Ich wollte vor Gottes Antlitz den Rechtsfall vorbringen und meinen Mund mit Zurechtstellungen füllen.
5 Ich wüsste dann endlich die Worte, die Gott mir erwiderte, merkte, was Gott mir sagte.
6 Würde Gott mit großer Kraft gegen mich streiten? Nein – aber mich beachten!
7 Dort setzte sich ein Aufrechter mit Gott auseinander, und ich wäre auf immer meinem Gericht entronnen.
8 Schau: Gehe ich nach vorn, so ist Gott nicht da, und nach hinten, da bemerke ich es nicht,
9 nach links beim göttlichen Wirken, ich erblicke es nicht, lenkte Gott nach rechts, so sähe ich es nicht.
10 Ja, Gott kennt den Weg mit mir, prüfte Gott mich – da käme ich wie Gold heraus.
11 Mein Fuß hielt an Gottes Schritt fest, diesen Weg beachtete ich und wich nicht ab.
12 Das Gebot der göttlichen Lippen – ich ließ nicht ab vom mir geltenden Gesetz, ich bewahrte die Worte aus Gottes Mund.
13 Die Gottheit aber bleibt sich gleich – und wer könnte das wenden? –
sie will es tun und tut es.
14 Ja, Gott wird dem mir geltenden Gesetz Genüge tun und Ähnliches ist viel bei Gott.
15 Darum erschrecke ich vor Gottes Angesicht; ich nehme es wahr und erbebe davor.
16 Gott selbst macht mein Herz verzagt, die Gottheit, die Macht über die Macht hat, versetzt mich in Schrecken.
17 Ja, nicht von der Finsternis werde ich vernichtet und auch nicht von meinem eignen Gesicht, bedeckt von Dunkel.

Liebe Gemeinde,

mein Name ist Hiob, was übersetzt heißt: Wo ist mein Vater? In meinem Fall läge es auch nahe zu übersetzen: Wo ist mein göttlicher Vater? Um es vorwegzusagen: Ich weiß es nicht, dennoch will ich von meiner Erfahrung berichten, die mein Vertrauen in Gott gestärkt hat. Ob das ein Widerspruch ist oder ob beides nebeneinanderstehen kann, mein Nicht-Wissen über Gott und meine Erfahrung Gottes, überlasse ich Ihnen. Es wäre schon sehr viel, wenn Sie einfach zuhören und das Gehörter in sich aufnehmen. Zuhören ist nämlich gar nicht einfach. Ich sage nicht, dass mein Weg auch ihr Weg, meine Wahrheit auch ihre Wahrheit, meine Gotteserfahrung auch Ihre werden muss. Aber ich will meine Erfahrung mit Ihnen teilen.

Warum oder die Frage nach Schuld

Ich war reich gesegnet. Mir fehlte es an nichts. Doch von einem zum anderen Tag ist mir alles genommen worden. Wie ist nicht entscheidend. Entscheidend war für mich, dass ich mich unendlich verlassen fühlte, sosehr, dass ich den Tag meiner Geburt verfluchte. Ich war gezeichnet am ganzen Leib und habe das als große Schmach erlebt. Drei Freunde besuchten mich. Sie hatten von meinem Unglück gehört. Die ersten sieben Tage saßen sie mit mir auf der nackten Erde und schwiegen, teilten mein großes Leid, halfen mir durch die endlos langen Tage und Nächte. Dann aber fing die Frage nach dem Warum meines bösen Schicksals an. Ich kann mich heute noch aufregen über vieles, was sie gesagt haben.

„Warum ist mir das passiert?“ Diese Frage hämmerte auch in meinem Kopf. Und ich fand keine Antwort. Was meine Freunde aber sagten, entfremdete sie mir, machten den Schmerz nur noch größer. Ich war völlig allein. Sie sagten, dass es mich böse erwischt habe, läge an mir selbst. Ich hätte Schuld auf mich geladen. Dass mir alles genommen wurde und ich so elend darniederläge, hätte ich selbst zu verantworten. Anders sei es nicht zu erklären. Gott ist gerecht, nur der Frevler wird bestraft. Der Gerechte aber wird fröhlich leben. Einer dichtete mir gar schlimme Verbrechen an. Ich erforschte mein Gewissen, aber da war nichts, was mich belastete, jedenfalls nichts, was mein Schicksal gerechtfertigt hätte. Derselbe meinte sogar, ich müsste mich nur vor Gottes Gericht demütig beugen, dann würde alles wieder gut werden. Er unterstellte mir praktisch, dass ich nicht mehr an Gott glauben würde. Um Gottes willen, damit er Recht bekommt, müsste ich klein beigeben.

Gott handelt nicht

Rückblickend sehe ich, meine Freunde wollten das damals allgemein gültige Gottesbild retten. Es waren viele gute, richtige Sätze über Gott, aber es waren Menschensätze. Diese Sätze halfen mir in meinem Leiden nicht weiter. Sie quälten mich. Sie waren absurd. Was meine Freunde nicht sahen. Ich suchte in meinem Leiden verzweifelt nach Gott, aber da war kein Gott, der mir antwortete. Gott sprach nicht zu mir. Gott hörte mich nicht. Gott sah mich nicht. Gott rettete mich nicht.

Mit Gott streiten

Auch ich glaubte an Gerechtigkeit. Ich hatte Lust mit Gott zu rechten. Ja, in meiner Fantasie habe ich Gott alle Beweise meiner Unschuld vor die Füße geworfen und sah genüsslich, wie Gott gezwungen war, meine Unschuld anzuerkennen und seine Schuld mir gegenüber einzugestehen.

Erst viel später habe ich erkannt, dass mein Streiten mit Gott auf derselben Ebene lag, wie die Reden meiner Freunde. Ich war verunsichert, ich habe geklagt, Gott angeklagt, ja. Und wisst Ihr was? Das tat gut! Ich würde es immer wieder tun.

Solange Menschen auf dieser Erde Unrecht erleiden, ist bittere Klage Ausdruck empathischen Glaubens: Aufruf Gottes rettende Energien zu aktivieren und Aufruf zur Menschlichkeit: Mahnung Recht einzuhalten.

Gott spricht

Lange, lange, lange hat Gott nicht zu mir geredet. Er hat geschwiegen. In der Regel schweigt Gott. Auch ich stand fragend, klagend und anklagend vor dem „schweigenden Geheimnis“ (Karl Rahner). Gott hat sich mir entzogen. Gott war fern. Gott war dunkel und das hat mir schrecklich Angst gemacht. Meine alte Gottesgewissheit ist zerbrochen. Ganz langsam ist etwas Neues in mir gewachsen. Eine zarte Pflanze. Ich weiß gar nicht, wie sie dahingekommen ist. Wie konnte auf dem Boden, der mir entzogen wurde, etwas Neues wachsen und reifen. Ich erwarte nicht mehr, dass Gott von außen eingreift in mein kleines Leben oder in die Welt. Aber Gott hat zu mir gesprochen und ich habe ihn geschaut (Kontemplation). Gott ist in mir gewachsen, nachdem ich meine Vorstellungen über ihn ad acta gelegt habe. Ich weiß nicht, ob Gott Leiden verhindern kann, ich glaube auch nicht, dass Gott uns durch das Leiden auf die Probe stellt oder erziehen will, ich weiß auch nicht, ob Gott im Leiden dabei ist und mitleidet, ich weiß nur, dass Gott, „Macht über die Macht hat“ (Hiob 23,16b) und) ein „schweigendes Geheimnis“ (Karl Rahner) ist. Vor diesem „schweigenden Geheimnis“ beuge ich mich.

Wo ist mein göttlicher Vater? Ich kann ihn nicht lokalisieren. Gott ist unverfügbar. Ich weiß nur: Mein Erlöser lebt. „Vom Hörensagen hatte ich von dir [Gott] gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“ (Hiob 42,5) Nicht, dass ich Gott gesehen hätte, er ist mir widerfahren. Mein inneres Auge hat ihn geschaut (Mystik). Durch das Leiden hindurch hat sich Gott mir gezeigt. Ich konnte mein Leben wieder auf Gott ausrichten.

Im biblischen Buch Hiob ist meine Geschichte aufgeschrieben: Mein „Weg durch das Leid“ hin zu Gott.

Lest nach.

Literatur:

Bibel in Gerechter Sprache, Gütersloh 2006

Hiob. Die Bibel erzählt: Hg Klara Butting/Gerand Minnard, Erev-Rav, Wittingen 2003

Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte,(Hg) Alexander Deeg/Andreas Schüle, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018, S.380-386

Ein Weg durch das Leid. Das Buch Hiob: Ludger Schwienhorst-Schönberger, Verlag Herder, Freiburg i.Br., Neuausgabe 2022

73 Overtüren. Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft, (Hg) Egbert Ballhorn, u.a., Gütersloher Verlag 2020, 2. Auflage, S. 240-249

           

„Gott ist gegenwärtig“, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2025

Zu:

Johannes Burkardt: Gerhard Tersteegen, Die Bernières-Louvigny-Übersetzungen, Luther-Verlag Bielefeld 2023, broschiert, 1120 Seiten, ISBN 978-3-7858-0863-4, Preis: 29,90 Euro (print)

Aufbau des Buches

Das genannte Buch hat zwei Teile, die umfangreiche Einleitung in die Beschäftigung Gerhard Tersteegens (1697 – 1769) mit ausgewählten Texten des (damals) bekannten römisch-katholischen französischen Laientheologen Jean de Bernières-Louvigny aus Caen (Normandie, Frankreich, 1602-1659). Die Einleitung hat 184 Seiten und ist der eigentlich informative Teil des Buches. Daraufhin folgt auf ca. 900 Seiten der editorische Teil. Gedruckt kann ein solches Buch nur mit einem kräftigen Druckkostenzuschuss der Evangelischen Kirche von Westfalen zu einem erschwinglichen Preis erscheinen.

Eigenhändiger Text des Übersetzers eingefügt

Während Gerhard Tersteegen im ersten Teil noch der vom Autor gegebenen Einteilung folgt, hat er später stärker in den Aufbau eingegriffen und eine eigenhändige Einleitung hinzugefügt: „Vorrede des Ausgebers. Von dem Unterschied und Fortgang in der Gottseligkeit.“ Mit einem 47 Punkte enthaltenden Inhaltsverzeichnis. In dieser Vorrede vermutetet man nicht zu Unrecht die Darlegung der eigentlichen Motivation zur Herausgabe der Benieres-Louvigny-Auswahl in deutscher Sprache. Dieser Text sollte einmal in Hochdeutsch gefasst werden, denn er enthält das theologisch-mystische Programm Gerhard Tersteegens. (Anm.: Der Text wurde auch in seine eigene Aufsatzsammlung „Weg der Wahrheit“ aufgenommen. Erschienen in Solingen,1768. D. Rez.)

Weitere Inhalte der Bernières-Louvigny Übersetzung

Gerhard Tersteegen, sonst überwiegend als Kirchenlieddichter bekannt, dokumentiert in seiner Übersetzungsarbeit zwei Werke von Bernières-Louvigny, und zwar die „Geistlichen Liebes-Kernen oder kräftige Auszüge aus denen Büchern des Herrn Bernières, genannt Der inwendige Christ mit einigen Zugaben“ und das zweite Hauptwerk: „Das Verborgene Leben in Christo in Gott“ (Titel nicht in der historischen Schreibweise, sondern hochdeutsch, um die Rezension verständlicher zu machen. D. Rez.). Dieser Buchteil hat, ergänzt um eine Konkordanz der Erstausgabe des „Verborgenen Lebens“ mit weiteren Ausgaben, einem Bibelstellenindex und einem Namens- und Ortsindex ca. 900 Seiten.

Editorische Einleitung von Johannes Burkardt

Doch nun zurück zur editorischen Einleitung des Buches von Johannes Burkardt: Die Einleitung umfasst auch einzelne Untersuchungen, Ausblick auf die Entstehung der Werke Bernières-Louvignys, die weitere Verbreitung, aber auch die Ausgestaltung der Übersetzung und bewusster Auswahl und Edition. Tersteegen, so Johannes Burkardt greift durchaus in das ihm vorliegende Werk ein, in dem er auch noch Gedichte hinzufügt. Solche den Inhalt illustrierende Gedichte sind keinesfalls nur von Tersteegen, sondern auch von Johannes Scheffler (Angelus Silesius), womit Tersteegen sich auch als Herausgeber und Übersetzer dazu bekennt, die Arbeit eines Mystikers verbreiten zu wollen und so selbst als Mystiker zu erscheinen.

Tersteegen trägt mit seiner Auswahl aus dem Werk Bernières zur mystischen und konfessionsungebundenen Christlichkeit bei, die sich nur zum Teil in dem von ihm vertretenen Pietismus widerspiegelt.

Der Autor Johannes Burkardt macht sich in der Herausgabe der Tersteegenschen Übersetzungsarbeit darum verdient, dem Mitbegründer des Pietismus Tersteegen sein Hauptverständnis als Mystiker zurückzugeben oder zumindest neu zu betonen.

Ein Beitrag Tersteegens zur Mystik

Schon bald nach seinem Tod wurden die Schriften Bernières-Louvignys im Französischen ediert und vermarktet, besonders von den Ursulinen aus Caen und deren Pater d´Àrgentan.

Doch warum greift Tersteegen diese Texte auf und gibt sich damit eine endlose editorische Mühe? Einer Bekannten, die angesichts „ihrer Sünden“ und negativen Reaktionen aus ihrem Umfeld verzweifelte, riet Tersteegen 1729 zur Lektüre Bernières, „Weil Gott (darin) nicht unbedingt ein Einsiedlerleben verlangt, sondern jeden an den Platz stellt, wo er ihn oder sie braucht“ (vgl. S. 49).

Tersteegen scheint damit die mehr auf moralische Fragen verkürzte kirchliche Lehre unterwandern zu wollen. Dabei kam ihm der Buchhändler und Verleger Böttinger aus Duisburg zu Hilfe, der das von Tersteegen übersetzte „Verborgene Leben“ herausgab, obwohl er im Generalverdacht stand, die Erlaubnis der theologischen Fakultät nicht eingeholt zu haben. (An dieser Stelle war mir als Leser nicht ganz klar, welche Fakultät genau gemeint war und wie das Verfahren der kirchlichen Zensur gedacht war. Oder hätte die Imprimatur des preußischen Staates eingeholt werden müssen, die dazu ein Gutachten einer theologischen Fakultät eingeholt hätte?  D. Rez.).

Gerhard Tersteegen zeigt in seiner ausführlichen Vorrede zur Ausgabe der Schriften Bernières-Louvigny eine klare Konzeption auf: Das wahre Christentum, die Vollkommenheit der ersten Christen gibt es nur bei den Mystikern. Das Wort Mystiker ist im Text Tersteegens nicht selten. 1750 hat er den Text „Handbrieflein von der wahren Mystik“ der Ausgabe hinzugefügt.

Johannes Burkardt erläutert die Konzeption des Buches „Das verborgene Leben“ (unter dieser Kurzfassung des ursprünglichen Titels) ausführlich und weist auf die Spruchsammlung im 3. Teil hin. Hier zeigt sich auch formal eine gewisse Nähe zu Johannes Scheffler (Angelus Silesius), wobei die Zitate in der Fassung Tersteegens nicht als Gedicht gefasst sind. Das geistliche Leben hat für ihn in der Folge Bernières ein klares Konzept: „Einstieg in den Weg der Liebe, Treue zu Gott, inneres Leiden, Gebet, …(usw.) (S. 97).

Was mir als Leser nicht klar geworden ist, ist, ob im Gebrauch dieser Bücher, die Tersteegen herausgibt, an eine gemeinschaftliche Lesung wie etwa in pietistischen Kreisen gedacht ist, und so der Pietismus auch eine gewisse Funktion in christlichem Schrifttum sieht. Der meditative Charakter der Texte Tersteegens spricht dafür. Ein selbständiges geistliches Leben ist mit der Hilfe dieses erbaulichen Schrifttums möglich geworden, über konfessionelle Grenzen hinaus.

Mystik ist überkonfessionell und ökumenisch

Fazit: Christliche Mystik ist in der Fassung Tersteegens überkonfessionell und ökumenisch, da es damals in evangelischen Kreisen sicherlich absolut unüblich war, Werke katholischer Autoren zu übersetzen und herauszugeben. Der mystische Pietismus ist in dieser Form keinesfalls eine christliche Sekte, sondern ein bewusst ökumenisches, die Mystik einbeziehendes Unterfangen, das die Verantwortung des Einzelnen bewusst einbezieht und sogar fordert.

Heute von Gott reden, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Rezension zu: Ralf Frisch: Gott. Ein wenig Theologie für das Anthropozän, TVZ, Zürich 2024

Vom Verschwinden und Wiederfinden Gottes im Anthropozän

Vier Grundfragen umkreist der Autor in seiner „Theologie für das Anthropozän“ in 42 kurzen Kapiteln: 1. Was meinen wir, wenn wir Gott sagen? 2. Was bedeutet es, wenn wir sagen, dass es Gott gibt? 3. Woher kommt das Wissen über Gott? 4. Was spricht für Gott trotz Gottes- und Religionskritik? (56) Ralf Frisch mutmaßt: „Vielleicht erscheinen diese Fragen nur deshalb als schwierig, weil es eine Tendenz im neuzeitlichen  theologischen Denken gibt, dem Nichtglauben mehr Glauben zu schenken als dem Glauben.“ (56)

Gebet als Lackmustest der Gottesvorstellung

Ralf Frischs kolumnenartiger theologischer Essay will Theologie und Kirche provozieren, indem er gegenwärtiger Theologie und kirchlicher Rede von Gott auf den Zahn fühlt. Seine These: Wer im Anschluss an Bonhoeffer meint ausschließlich von einem ohnmächtigen Gott reden zu können, verschweigt den Zeitgenossen im gottvergessenen Anthropozän den erlösenden Retter-Gott der biblischen Erzählungen. Die christliche Hoffnung lebt aber aus dem Glauben an einen (all)mächtigen Gott. Die Erzählung in den Evangelien von der Auferstehung Jesu zeigt einen wirkmächtigen Gott, der Tote erwecken kann. Gott ist bei Frisch keine Chiffre, sondern im Sinn der alten Kirchenlehre eine wirkmächtige Gottheit in drei Personen. Daher ist für Frisch auch das Gebet zu einem transzendenten Gott „der Lackmustest aller Gottesvorstellung“ (22). Wenn aber Gott als der ganz Andere vermeintlich nicht mehr „redlich“ gedacht werden kann, dann ist Gebet ausschließlich Transformation des eigenen Selbst.[i]

Der Glaube an die Anderswelt

 Nach Frisch Formulierung gibt es neben der Welt eine Anderswelt (12f), die der Mensch nicht mit den Mitteln der Welt messen und beschreiben kann. Vernünftiger Glaube ist denkbar (credo ut intelligam, Anselm von Canterbury). Auch wenn sich Gottes Gott-Sein der Ratio entzieht, ist Gott im Glauben erfahrbar.

Überforderung des Menschen im Anthropozän

Mit seinen vielen rhetorischen Wenn-Sätzen will Frisch auch denkerisch seine Leser:innen aus der Eindimensionalität einer alleinigen Zentrierung im Anthropozän auf den Menschen locken. Im Anthropozän ist allein der Mensch für die Lösung seiner Probleme verantwortlich. Wenn aber der Mensch für alles selbst verantwortlich ist in einer mündigen Welt (Bonhoeffer), dann überfordert er sich selbst. Hier bringt Frisch die gute alte lutherische Rechtfertigunslehre ins Spiel. Aus seiner Sicht verraten evangelische Theologie und Kirche den Ursprung ihrer Existenz. Es steht nicht mehr, aber auch nicht weniger als die evangelische Freiheit auf dem Spiel. Wenn Religion zu Moral verkommt, fängt sie an zu stinken (Nietzsche). „Weil das Heilige zum Moralischen geworden ist und nichts außer Moral heilig ist, wird Moral zum Statussymbol und moralisches Handeln zur Bedingung von Anerkennung. […] Die Ironie der Geschichte besteht allerdings darin, dass der Protestantismus der Gegenwart die Rolle eingenommen hat, die vor fünfhundert Jahren der Katholizismus innehatte“(189).

Das Heilige

Um von einer Theologie der Ohnmacht Gottes wegzukommen, reaktiviert Frisch die Rede vom Heiligen nach Rudolf Otto[ii] (84ff). Frisch plädiert für die Unverfügbarkeit und Heiligkeit Gottes, die der Mensch erfahren kann. Gott lässt sich in kein System und auch in keine Theologie (!) pressen. Wer den Heiligen erfährt im Guten wie im Bösen (deus absconditus) erschrickt vor seiner Macht. Biblisch ist der HERR Zebaoth ein mächtiger (Heeres)-Gott.  Die dunklen Seiten Gottes führen in den Zweifel, mitunter in die Verzweiflung. Mit Luther gilt es sich an den Deus revelatus zu halten. Für den Protestantismus im Anthropozän sind diese Fragen und Glaubenserfahrungen jedoch obsolet geworden, hier wird Gott kastriert und übrig bleibt eine Wohlfühlkirche Gleichgesinnter, die sich vom woken Zeitgeist nicht unterscheidet.  Die katholische Weltkirche, die das Geheimnis Gottes und des Menschen (!) besser bewahrt (197), ist für Frisch resilienter aufgestellt. Eine evangelische Wort-Kirche aber vernachlässigt Anbetung und das Geheimnis Gottes. Damit versperren die evangelischen Kirchen der Reformation sich selbst den Zugang zu einer tiefen Spiritualität und unterscheiden sich nicht mehr von der Welt.

Mythos und Wissenschaft

Wie Ralf Frisch neue philosophische, naturwissenschaftliche und hermeneutische Erkenntnisse anreißt und mit der Theologie ins Gespräch bringt, ist anregend. Damit bricht er alte Grabenkämpfe auf und zeigt, dass sich für verschiedene Wissenschaften die Frage von Geist und Materie neu stellt. Wenn die Theologie bei ihrer Sache bleibt, wird sie eine interessante Gesprächspartnerin in der Frage sein, wie die Welt zu deuten ist.  Binäres Denken ist überwindbar. Es gilt nicht entweder – oder, sondern sowohl — als auch, und noch vieles mehr. Frisch verweist hier auf den agnostischen Philosophen Thomas Nagel (87), der in seiner Philosophie zeigt, dass der Naturalismus (Materialismus) in der Frage nach Geist und Bewusstsein keine befriedigenden Antworten gibt, ja gar nicht in der Lage ist, diese zu geben.

In der Frage zum Verhältnis wissenschaftlicher und mythologischer Welterklärung (Hermeneutik) zitiert Frisch Claude Lévi Strauss, der in seiner Vorlesung: Anthropologie in der modernen Welt darauf hinweist, dass die moderne Kosmologie „selbst dazu tendiert, zu einer Geschichte des Lebens und zu einer Geschichte der Welt zu werden, [daher] können wir nicht ausschließen, dass das wissenschaftliche und das mythische Denken, nachdem sie lange Zeit unterschiedliche Wege gegangen sind, sich eines Tages einander annähern werden (169).

Erzählen stiftet Sinn

Frisch bricht eine Lanze für das Erzählen biblischer Geschichten, „weil das göttliche Rettungsdrama der Welt“ (176) nach Karl Barth „nur erzählend beschrieben werden kann.“[iii]Immer wieder zieht Ralf Frisch aus Film, Literatur und Lyrik Parallelen zu genuin religiösen und damit theologischen Fragen. Theologie und Kirche sind „blind dafür, dass Religion und Dichtung Geschwister sind.“[iv] Wenn Gott der Heilige ist, dann ist Theo-Poesie eine sprachliche Annäherung an das Heilige oder zumindest ein Verweis auf das Göttliche. Lyrik vermag die Frage nach Gott offen zu halten. Poesie kann  Lobbyistin der göttlichen Wahrheit sein. Ingeborg Bachmann dichtet: „Wahrheit ist, was den Stein von unserem Grab wälzt.“ (175)

Kritische Würdigung

Frisch legt seine von Luther und Karl Barths geprägte Theologie und Gottesvorstellung als hell leuchtende weiße Folie auf andere theologische Denkansätze, die dann in einem schwarz-weißen, Freund-Feinddenken bis hin zum indirekten Vorwurf der Häresie verunglimpft werden (107f). Im Kapitel „Die letzte Häresie“ schreibt Frisch: „Am Ende gibt es in der Kirche und der Theologie des Anthropozän nur noch eine letzte dogmatische Häresie. Die Häresie an Gott als souveränen, eigensinnigen und lebendigen Akteur zu glauben, der nicht mit dem Agieren von Menschen identisch ist“ (111).

Auch wenn ich seiner Analyse, dass kirchliche Verlautbarungen und viele Predigten Religion durch Moral ersetzen, teile und durchaus in vielen Kapiteln aufgrund seiner spitzen Feder gelacht und geschmunzelt habe, teile ich Frischs schnelle Abkanzelung von Theologie und Kirche nicht. Natürlich verstehe ich, dass Zuspitzung ein rhetorisches Mittel ist, aber für mich kippt sein Ton zu oft ins Polemische, und seine Analyse bleibt unterkomplex. Die Überschriften vieler Kapitel sind reißerisch, die nichts anderes als Aufmerksamkeit generieren wollen. Wenn der Artikel dann gelesen ist, weiß man auch nicht mehr. Schnelligkeit geht vor Gründlichkeit. Aber bei aller Kritik: Seinen Finger legt Frisch oft zurecht in die Wunden heutiger Theologie und Kirche.

Ohnmacht oder Allmacht Gottes?

Die Frage der Bonhoeffer-Rezeption ist für mich der Dreh- und Angelpunkt seines Essays. Frisch meint, Bonhoeffer von Bonhoeffer unterscheiden zu müssen und sieht in Widerstand und Ergebung[v] eine wirkungsgeschichtlich fatale Rede von einem ohnmächtigen Gott, der die Welt sich selbst überlässt, mehr noch, der sich aus der Welt herausdrängen lässt. Die mündige Welt und der autonome Mensch sind sich selbst überlassen. Was bleibt, ist ein ohnmächtiger Gott, der seine Welt liebt, aber nicht rettend in die Welt eingreift.  An anderer Stelle fasst Frisch zusammen: „Und doch machte die Ohnmachtstheologie durch die Zeiten hindurch Karriere. Vor allem nach Auschwitz brach sie mit der Allmachtstheologie“ (91). Frisch sieht sogar einen Zusammenhang in der Verweichlichung und Hypersensibilisierung unserer Gegenwart und der Unfähigkeit vernichtenden Kulturen zu begegnen, weil Rede und Glaube an den allmächtigen Gott verschwunden sind (99f).

Das alles ist für mich nicht nachvollziehbar. Vor allen Dingen stellt sich Frisch mit seinem berechtigten Anliegen, in Theologie und Kirche von der Wirkmächtigkeit Gottes her zu denken und zu reden, selbst ein Bein, da er die Allmacht Gottes politisch funktionalisiert. Er macht genau das, was er anderen theologischen Ansätzen vorwirft. Erschwerend kommt hinzu, dass der unhinterfragte Glaube an die Allmacht Gottes (Autorität) gerade im Protestantismus mit der verhängnisvollen Trias Gott, Thron und Altar großen Schaden angerichtet hat. Für mich kann eine notwendige theologische Rede von der Macht Gottes im Blick auf die Wirkungsgeschichte nur tastend und demütig geschehen. Bei Ralf Frisch fehlt nur ein Schritt zu einer Theologia gloriae. Da bleibe ich doch lieber bei einer theologia crucis. Oder anders gesagt, wir müssen die Spannung aushalten zwischen den Polen einer theologia crucis und einer theologia gloriae. Theologie und Kirchen müssen sich immer wieder neu zwischen diesen Polen ausloten. Vielleicht hat Frisch recht, dass die Theologie nach Auschwitz die Rede von der Macht Gottes vernachlässigt hat, aber war es nach Jahrhunderten einer ungebrochenen Rede von der Allmacht Gottes und dem Axiom der Apathie Gottes nicht an der Zeit, Empathie, ohnmächtiges Aushalten Gottes und sein Leiden an der Welt herauszuarbeiten und zu betonen? Auf dieser Linie sehe ich auch Bonhoeffers Gedanken über die Ohnmacht Gottes. Sie sind in und aus der geschichtlichen Situation in der Meditation über der Schrift entstanden. Frischs Bonhoeffer-Rezeption kann ich nicht folgen. Aus meiner Sicht dogmatisiert er hier seine Sicht auf Bonhoeffer. Heraus kommt das Gegensatzpaar Ohnmachtstheologie versus Allmachtstheologie. Das sind Schlagwörter, die nicht wirklich weiterhelfen. Vielleicht hilft uns im Zeitalter des Anthropozän besser, erneut Kreuz und Auferstehung theologisch in den Blick zu nehmen. Die Rede von der Ohnmacht Gottes hat seine Zeit. Die Rede von der Macht Gottes hat seine Zeit. Beides muss und darf kritisch reflektiert werden. In diesem Sinn kann ich Frischs Essay empfehlen.

[i] Frisch referiert hier: Hartmut von Saß, Unerhörte Gebete? Das Bittgebet als Herausforderung für ein nachmetaphysisches Gottesbild, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 2021, 39-65

[ii] Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Jonas, München 2014

[iii] Karl Barth, Gespräche 1964-1968, BGA 28, hg v. Eberhard Busch, Zürich 1997, 76

[iv] Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Rowolth, Hamburg 2012, 72

[v] Dietrich Bonhoeffer: Theologische Briefe aus „Widerstand und Ergebung“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017

Ein anderer Papst-Nachruf, Eine Predigt, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Foto: Annett Klingner (C)

Predigt über 1. Petrus 1,1 am Sonntag nach Ostern, Quasimodogeneti 2025

„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“

 

Liebe Gemeinde,

die Kirche und die Welt gedenken des Todes von Papst Franziskus und nehmen von ihm Abschied. Es geht mir heute nicht darum, die große Aufmerksamkeit, die Papst Franziskus zurecht bekommt zu ergänzen oder gar mir anzumaßen, sein Pontifikat zu beurteilen. Mir geht dieser Papst nicht aus dem Sinn, wenn ich den Wochenspruch von Quasimodogeneti lese (siehe Predigttext), komme ich auf sein zeichenhaftes Wirken und die damit verbundene Hoffnung für die Verlorenen dieser Welt zurück. Ja, Papst Franziskus hat mich beeindruckt, weil er ein Protestmensch gegen die Mächte des Todes war. Laut und deutlich hat er seine Stimme erhoben, zuletzt sicherlich eine gebrochene Stimme, von Krankheit gezeichnet, als er zwei Tage vor seinem Tod J.D. Vance, dem katholischen Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, die Leviten las in Hinblick auf die menschenverachtende Trump-Praxis der Abschiebung von Migranten und Illegalen. Eine verlogene Praxis, da diese Menschen mit ihrer Arbeitskraft einen Teil des Wohlstands der Amerikaner produzieren.

Unsere Welt braucht nichts so sehr wie Menschen, die sich gegen die Todesenergien der Zerstörung von (sozialen) Werten stellen. Der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist und bleibt ein Widerstandshort gegen Ideologien, einem Kapitalismus und einer Politik, die alle sozialen Werte auffrisst und den Menschen zur Sache degradiert. Wenn wir eine lebendige Hoffnung haben, dann lassen wir uns unseren Glauben nicht nehmen, dann treten wir für das Leben ein.

Entkirchlichung

Wir spüren deutlich als Gemeinde, dass wir in entkirchlichten Zeiten leben. Ein Beispiel:

Wenn jüngst von allen angeschriebenen Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder zum Konfirmandenunterricht nur ein drittel der Eltern ihre Kinder anmeldet, erleben wir den Abbruch von einer noch vor 25 – 30 Jahren stabilen evangelischen Tradition. Es war selbstverständlich, dass evangelische Kinder zum Konfiunterricht geschickt wurden. Heute werden die Jugendlichen selbst gefragt, ob sie konfirmiert werden wollen. Das muss nicht schlecht sein, aber es braucht doch eine positive Haltung der Eltern zur Konfirmation und dem Kennenlernen von Gemeinde.  Diese Haltung ist weitgehend verschwunden. Dem größten Teil der Eltern ist es scheinbar egal, obgleich sie bei der Taufe versprochen haben, ihr Kind christlich zu erziehen. Aber das ist lange her. Alles, was mit Glauben zu tun hat, ist für die meisten unserer Mitmenschen völlig bedeutungslos geworden. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch hat in unseren drei Predigtstätten ebenfalls im letzten Jahrzehnt stark nachgelassen. Längst nicht mehr lassen sich alle Evangelischen kirchlich bestatten. Es ist ihnen und ihren Familien nicht mehr wichtig. Sie sehen darin keinen Mehrwert. Auch einer Kirche anzugehören gilt für immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft als obsolet. Das soll keine Bewertung sein, einfach eine nüchterne Beschreibung, was wir als Lydia-Gemeinde erleben.

Glaubens- und Nachfrageschwund

Der schwindende Glaube und die Nachfrage nach unseren Angeboten sind die eigentlichen Probleme, die wir als Kirche haben, nicht wie wir unsere Gebäude und anderen Aufgaben bezahlen können. Das ist sekundär. Der Abbau, Rückbau und Umnutzung von Gebäuden werden uns als Lydia-Gemeinde noch lange beschäftigen. Die Kirche ist aber mehr als eine Ansammlung von Gebäuden und Veranstaltungen. Sie ist eine Hoffnungsgemeinschaft, eine Erzählgemeinschaft, welche Sinn stiftet und einen Schatz hat, den die Welt nicht bieten kann. Von daher stellt sich die Frage, wie wir Hoffnung vermitteln, verkündigen und leben. Wie kommen wir aus einer zunehmend depressiven und erstarrten Haltung heraus?

Zeichenhaftes Wirken von Franziskus

Hier hat der Papst zeichenhaft für alle christliche Kirchen gewirkt. Trotz seines Eingehegt-Seins in einer Weltkirche durch die katholische (Dogmen-)Tradition und gegensätzlichen Strömungen einer Weltkirche, in die Kurie und eine schwerfällige Verwaltung ist es ihm gelungen den wesentlichen Auftrag der Kirche in der Nachfolge Jesu Christi zu leben und die Kirche in Bewegung zu bringen: Barmherzigkeit und Solidarität

Barmherzigkeit ist Solidarität mit den Vergessenen

Wenn wir auch nur ein dunkler Spiegel der Barmherzigkeit Gottes sind, so strahlen wir doch, wenn Barmherzigkeit von Herzen kommt, Hoffnung in die Kirche und in die Welt aus. Wenige Tage vor seinem Tod ermutigte Papst Franziskus Missionare eines Ordens mit den Worten: „Barmherzigkeit ist die größte Umarmung Gottes.“  Das können wir wahrhaft von diesem Papst als Gemeinde lernen. Barmherzigkeit zu leben, nicht weil wir das so gut können, sondern weil wir Gottes Barmherzigkeit in unserem Leben in der Gemeinschaft erfahren und auch gegen den Augenschein glauben, auch, weil der Geist der Barmherzigkeit uns die Augen öffnet über die eigene Befindlichkeit hinaus, hin zu denen, die nicht gesehen werden.

Barmherzigkeit stiftet Hoffnung, investiert in Menschen trotz Enttäuschungen. Barmherzigkeit sucht den Frieden, weil töten unbarmherzig ist. Barmherzigkeit sucht das Lebensrecht aller Kreatur, damit Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstörung ein Ende haben.

Lebendige Hoffnung

Wir brauchen eine neue Geburt, eine Wieder-Geburt des Geistes Jesu in uns, dass die Hoffnung wieder in uns lebt und neu entfacht wird. Das ist Auferstehung. Die Auferstehung Jesu von den Toten ist unser Hoffnungskern gegen Verzweiflung, Alternativlosigkeit, Einsamkeit, Gewalt und Krieg, und gegen einen totalitären Kapitalismus, der keine Freiheit bringt, sondern am laufenden Band Verlierer produziert. Wir aber sind Gewinner, weil wir zu Jesus gehören. Wir sind wie neugeborene Kinder, neugierig auf eine Welt, die Gott uns verheißt: sein Reich. Wir sind verliebt in gelingendes Leben. Das gilt auch für uns als Gemeinde. Mag vieles sterben. Mag vieles nicht mehr funktionieren. Mag vieles sich verändern. Mögen wir darunter leiden, aber das ist nicht das Ende. Gott ist verliebt in Neuanfänge. Auch mit uns oder mit denen, die nach uns kommen.

Predigt vom Verlieren & Wiederfinden, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

Predigt Lukas 15, 8-10 ,   3. So. nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

Jesus erzählt Gleichnisse, wenn er den Menschen etwas über Gott und sein Reich sagen will. Hier erzählt er von einer Frau, die einen Silbergroschen verliert und ihn mit Mühe solange sucht, bis sie ihn findet. Ihre Freude darüber ist so groß, dass sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen herbeiruft, dass sie sich mit ihr mitfreuen.

Verlieren und Wiederfinden sind Themen, die sich durch unser Leben ziehen und die uns immer wieder existentiell angehen.

Die Fernsehserie Letzte Spur Berlin im ZDF dreht sich darum, dass ein Team von Ermittlern einen Menschen sucht, der mir nichts, dir nichts wie vom Erdboden verschwunden ist. Meistens entspinnt sich darum eine komplizierte Geschichte und der Zuschauer gewinnt einen tiefen Einblick in die menschliche Seele und atmet am Ende auf, wenn die vermisste Person wiedergefunden wird.

Menschen können sich auch selbst verlieren, sich so sehr verausgaben bis in den Burnout hinein, dass sie sich selbst nicht mehr kennen und andere sie auch nicht mehr wiedererkennen. Wie sehr wünschten sie sich, sich wiederzufinden und sie strengen sich dabei an und merken, dass der Wille nicht reicht – sie leiden unter ihrem eigenem Ausgebrannt-Sein, sind in ihrem Selbstwertgefühl völlig verunsichert, verlieren sich Stück für Stück, oft auch ihre Arbeit, Partner oder Partnerin.

Ist da jemand, der sie sucht, dass sie sich wiederfinden können? Wollen sie sich wieder finden lassen? Haben Sie Geduld nach der Suche nach sich selbst?

Und wenn ihnen das Geschenk widerfährt, dass sie sich wieder finden. Was ist das dann für eine Freude?

Auch jede Sucht ist ein Verlust seiner selbst. Die Sucht füllt nicht die Lücke, die Leere, die Angst. Das weiß der süchtige Mensch intuitiv und er weiß, dass er sein Leben zerstört und andere damit unglücklich macht, aber er kommt nicht davon los. Die Sucht ist sein einziger Halt, denkt der Süchtige. Diesem Irrglauben ist der Süchtige verfallen. Doch es gibt Wege aus der Sucht.

Und der Verlust der Selbständigkeit? Davor fürchten sich Menschen unserer Breitengrade am meisten. Der Verlust der körperlichen Selbständigkeit und der Verlust der geistigen Fähigkeiten greifen stark in unser Selbstbild ein. Wer bin ich dann noch? Gibt es dann überhaupt noch ein Sich-Wiederfinden?

Sicher in vielen Fällen kein Wiederfinden als sei nichts geschehen. Verlieren und Wiederfinden sind Prozesse. Nichts ist mehr wie vorher und wird wie vorher sein. Der Verlust bleibt immer ein Teil der eigenen Biografie, selbst da, wo der Mensch sich wieder findet, aber die Freude am Leben – und sei es nur ein Lächeln, das erwidert wird – ist wirklich Freude, und wie jede Freude, wie jedes Glück, wie jede Liebe ein Wieder-Gefunden-Werden – und das ist möglich bis zum letzten Atemzug.

Jesus spricht von Gott, als würde Gott und die ganze Welt Gottes unter dem Verlust der Menschen leiden, die er verloren hat. So sehr verloren hat, dass diese Menschen keine Beziehung mehr zu ihm haben. Das Geschöpf ist von seinem Schöpfer getrennt. Da ist eine Beziehungsunfähigkeit, die ein großer Verlust ist für die himmlische Welt. In der Bibel heißt dieser Verlust Sünde. Sünde ist die Entfremdung von Gott. Sünde ist in erster Linie ein relationaler Begriff. Der Sünder, die Sünderin hat keine Beziehung mehr zu Gott. Das ist die Sünde, nicht irgendein moralisches Fehlverhalten.

Jesus sagt, die Freude unter den Engeln ist groß, wenn ein Sünder sich wieder auf Gott ausrichtet, wenn ein Mensch wieder die Beziehung zu Gott lebt – dann ist es, als sei Gott selbst das Geschenk des Wiederfindens widerfahren.

Verlust kann schwer wiegen. Der Gottesverlust, sagt Jesus – so wie ich ihn verstehe – , ist der größte Verlust für den Menschen. Der Mensch lebt in Gottesferne, entfremdet von Gott und entfremdet von sich selbst und den Nächsten, weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist.

Wer die Dimension des Göttlichen, der göttlichen Liebe, in seinem Leben wieder entdeckt, wieder findet, den durchflutet eine Freude, die niemand nehmen kann.

Im Grunde genommen war die große Aufgabe des Gottessohnes Jesus den Menschen wieder neues Vertrauen zu Gott zu schenken. Dafür ist Jesus Mensch geworden, das hat ihn sein Leben gekostet, weil Jesus nicht anders konnte als von einem Gott der Liebe zu reden.

Gott hat mit der Auferweckung Jesu dafür gesorgt, dass der Verlust des Lebens aufgehoben wurde ins ewige Leben. Und im Glauben an Christus haben wir heute schon ewiges Leben in uns.

Es gibt ein Wiederfinden, jetzt schon und einmal in Ewigkeit. Und jedes Wiederfinden löst große Freude aus.

Amen