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Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, Rowohlt-Verlag, Hamburg, 4. Auflage 2021
Geschickt webt Friedrich C. Delius an einem Sonntagsbild in einem kleinen hessischen Dorf an der Grenze zur DDR im Jahr 1954. Der Titel mag leicht in die Irre führen, da der Tag an dem Deutschland Weltmeister wurde zwar eine emotionale Zäsur für Deutschland darstellt und bis heute im kollektiven Gedächtnis eingeschrieben ist, jedoch im Mittelpunkt der Erzählung steht der junge Ich-Erzähler und sein Vaterkonflikt. Das Trauma seiner Kindheit bildete sich durch die Rückkehr seines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft. Der Sohn musste den Platz an seiner Mutter verlassen und an den Vater abgeben. Dass der wortmächtige Vater zudem noch evangelischer Pfarrer war und die Familie im kleinen Dorf ein vorbildlich christliches Leben führen musste, verschlägt dem Sohn die Sprache. Das vorpubertäre Kind von 11 Jahren stottert, spricht nur, wenn er angesprochen wird, schämt sich seines Sprachmakels und flüchtet sich kindgerecht in Tagträume. Friedrich C. Delius gelingt es, dass der Leser sich mit dem Ich-Erzähler identifiziert und durch seine Augen einen Sonntag auf dem Land in den 50er Jahren in der BRD nacherlebt. Den restaurativen Ton der BRD fängt der Autor mit seinem Sonntag-Sittengemälde gut ein. Das steigert den alles beherrschenden Vaterkonflikt, der sich noch potenziert wird durch den allmächtigen göttlichen Vater, der dreifältig (Vater, Großvater, Vater-Gott) im Pfarrhaus gegenwärtig ist. Dem Vater-Gott ist alles zu verdanken, er sieht alles, ihm gilt es unbedingt Gehorsam zu leisten. Im Kapitel „Ich war Isaak“(S.78f) treibt der Autor seinen Vaterkonflikt auf die Spitze. Den Vaterkonflikt verbindet er mit der Erzählung von der Opferung Isaaks durch Abraham. Der Zugang zu dieser biblischen Erzählung ist das Entscheidende. Die drei Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam) haben eine je eigene Sicht auf die biblische Erzählung, Friedrich C. Delius jedoch fragt nicht nach dem Glaubensgehorsam Abrahams, sondern schlüpft mit seinem Protagonisten ganz ich die kindliche Perspektive des potentiellen Opfers. Diese Identifikation ist äußerst wichtig, da sich Friedrich C. Delius mit der Erzählung von seinem Übervater befreit. Dieses biblische Narrativ verleiht ihm Sprache und ein entschiedenes Nein gegen einen übergriffigen Vater-(Gott). Ob ein elfjähriges Kind dazu kognitiv in der Lage ist, wage ich zu bezweifeln. Man merkt der stark biographischen Erzählung an, dass der gut fünfzigjährige Autor sich intensiv mit seinem eigenen Vaterkonflikt auseinandergesetzt hat., Er hat Tilmann Mosers Gottesvergiftung gelesen und schlägt in dieselbe Kerbe. Dennoch sollten wir die Erzählung nicht als biographisches Tagebuch eines Sonntags verstehen, sondern als kunstvolle Fiktion wahrnehmen. Denn darin liegt die Stärke von Friedrich C. Delius, sein unverwechselbarer Erzählstil. Aus meiner Sicht flacht die Spannung bei der Fussballreportage Ungarn – Deutschlands ab, wenngleich der Fußballgott einen echten Exodus für das Kind eröffnet, da dieser Gott ihm eine Welt außerhalb der Vaterwelt verheißt.
Cover zum Taschenbuch: