Zu: Albus, Michael und Ludwig Brüggemann: Hände weg! Sexuelle Gewalt in der Kirche. Kevelaer 2011.
Anfang 2010 wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst, was viele schon vorher wussten: Katholische Ordensbrüder und Priester haben sexuelle Gewalt ausgeübt an Kindern und Jugendlichen. Sie haben als Pädagogen ein Abhängigkeitsverhältnis für die Befriedigung ihrer eigenen Triebbedürfnisse missbraucht. Einer, der offen darüber sprach, war der Jesuit Klaus Mertes, Oberer seiner Kommunität am Berliner Canisius-Kolleg, einem grundständigen Gymnasium, an dem aus Mitbrüdern Täter wurden. Ein Großteil der Taten lag mehr als 30 Jahre zurück; damals wurden die Täter weder angezeigt, noch irgendwie belangt, heute sind die Taten verjährt. Nun also, endlich, bekommen die Opfer eine Stimme, so haben sie z. B. in Berlin einen “Eckigen Tisch” ins Leben gerufen. Der vorliegende Band wurde ein Jahr nach der “Kirchenkatastrophe” (S. 209), ein Jahr, nachdem der “Tsunami” (S. 17) rollte, herausgegeben. Er versammelt vier Originalarbeiten der beiden Herausgeber, zwei Originalarbeiten von Peter Bürger über Homophobie und Homosexualität in der römisch-katholischen Kirche und von Stefan Kiechle SJ über das Bild des Priesters und die Priesterausbildung. Darüber hinaus werden acht Arbeiten abgedruckt, die sich der Ursachenforschung sexueller Gewalt in der Kirche und deren Vorbeugung widmen. Diese stammen in der Hauptsache von Autoren_innen, die in Irland und den USA zu diesem Thema geforscht haben.
“Das System ist der Fehler. Die Kirche, die einen besonderen Anspruch erhebt, muss sich auch an ihm messen lassen. (…) Kindesmisshandlung ist Gottesverletzung.” Wenn ein Autor, wie Michael Albus im einleitenden Kapitel zu einer solchen Einschätzung kommt, dann macht das deutlich, welche Strukturen von Gewalt dem zugrundeliegen. Dass dann auch Bilder gewählt werden, die einen Vergleich mit Naturkatastrophen ziehen, lässt die Analyse wiederum unpräzise erscheinen. Das findet eine Parallele im Duktus katholischer Theologie, Begründungen im Bereich einer quasi naturrechtlichen Ordnung zu finden. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die Stärke des Buches, das System Kirche kritisch in den Blick zu nehmen, sich in unterschiedlicher Hinsicht am Ende als eine Schwäche zeigt. So tritt durch den Vergleich mit einer Naturkatastrophe die Verantwortung der Täter für ihre Taten zu sehr in den Hintergrund. So werden durch die Fokussierung auf das System Kirche das Leid der Opfer und die Folgen der erfahrenen Gewalt für ihre Biographien viel zu wenig gesehen.
Es ist das Verdienst der Autoren_innen, katholische Theologie und Kirche hinzuweisen auf deren Verortung in der Geschichte. Ja, es geht um eine historisch-kritische Exegese ebenso, wie um eine Revision der katholischen Sexualethik. Es geht darum, Homosexualität nicht als Entgegen einer naturrechtlichen, vormodernen Ordnung zu sehen. Wir wissen, dass die sozialwissenschaftliche Forschung in Bezug auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eine Korrelation von Religiosität, Sexismus und Homophobie belegt. Und wir wissen, dass die katholische Kirche bis heute eine dementsprechende patriarchale Struktur von zolibatärer Macht und Herrschaft pflegt, der nur Aufklärung und Ideologiekritik beikommen können. Die Autoren_innen selbst sind es, die sehr deutlich machen, dass im Hinblick auf sexuelle Gewalttaten im Raum der katholischen Kirche Anlass und Ursache nicht verwechselt werden dürfen. Denn einerseits sei “eine direkte kausale Verbindung zwischen einer homosexuellen Orientierung und sexuellen Kindesmisshandlungen zu vermuten (…) wissenschaftliche unhaltbar” (S. 175), andererseits belegen Statistiken, “dass zwischen 92 und 96% der römisch-katholischen Priester keine Minderjährigen sexuell misshandelten” (S. 60). Das ist das Dilemma der Argumentation, der dieses Buch folgt. Denn die Verknüpfung beider Stränge von Kritik an der heteronormativen Verfasstheit der katholischen Kirche und der Kritik an sexuellen Gewalthandlungen liegt weniger darin, ursächliche und im System selbst begründete Zusammenhänge herauszuarbeiten, sondern darin zu zeigen, wie das System auf Kosten der Opfer die Täter schützen konnte und wollte; wie es vor mehr als 30 Jahren gelingen konnte und bis heute gelingen kann, den Raum der Kirche vom gesellschaftlich geltenden Rahmen strafbewährter Sanktion sexueller Gewalt geradezu auszunehmen. Es ist fragwürdig, dass es Stefan Kiechle, Provinzial der Deutschen Jesuiten, in seinem Aufsatz zwar gelingt, über strukturelle Bedingungen des Priesterbildes zu schreiben, zugleich aber erwähnt und reflektiert er nicht, wie der Orden selbst Stütze der Gewalt geworden ist.
Noch immer warten die Opfer auf eine rechtliche Absicherung ihrer Entschädigung. Sie warten auch mehr als drei Jahre nach den ersten Veröffentlichungen auf so etwas wie Wiedergutmachung. Die “Anleitung zur Heilung”, die das Buch am Ende aus einem psychoanalytischen Blickwinkel anbietet, verwischt die Unterscheidung von Tätern und Opfern vorschnell, indem sie auf das Geteilte von Bedürftigkeit und Therapie, sowohl der Täter, als auch der Opfer abzielt. Die Sprache der Religion, die den Bereich des Heilen, des Heiligen, des Unantastbaren, des Unverfügbaren ausweist, wird da stumm, wo in ihrem Namen über Kinder, Jugendliche und junge Menschen verfügt wurde. Noch sind es die Unterschiede, die einen Unterschied machen. Es geht darum, jedes einzelne Opfer zu hören und zu fragen: Was brauchst Du? Und es könnte darum gehen, dass katholische Theologie und Kirche auf Macht verzichten und sich, dem Anspruch des Evangeliums folgend, jeglicher Herrschaft zu entäußern. (Vgl. Philipper 2, 7.)