Predigt über Matthäus 6, 5 – 15, Das Vater Unser, Christoph Fleischer, Werl 2013

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Gehalten am Sonntag Rogate 2013 in Bad Sassendorf-Neuengeseke und in Möhnesee-Körbecke

[5] Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. [6] Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. [7] Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. [8] Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. [9] Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. [10] Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. [11] Unser tägliches Brot gib uns heute. [12] Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. [13] Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. [14] Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. [15] Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Liebe Gemeinde,

wir haben in diesem Predigttext eine kurze Anweisung zum Beten und das Vater Unser gehört, das typische Beispielgebet Jesu. Im Zusammenhang beider Texte steht dieses Zentralgebet als Beispiel für die Kürze des Gebets, die Jesus fordert. Die knappen Stichworte sind jeweils mit eigenen Vorstellungen und Beispielen zu füllen. Religion als Praxis des Gebets ist für Jesus keine Sache der Öffentlichkeit mehr. Die christliche Religion wird nach der Bergpredigt im „stillen Kämmerlein“ ausgeübt. Es ist doch klar, dass schon der Inhalt eines Gebets sozusagen unter die Schweigepflicht fällt. Jesus sieht damit jeden einzelnen Menschen als Individuum in einer Beziehung zu Gott, nicht nur ein ganzes Volk. Jedes einzelnen Gebet wird mit den Prägungen jeder einzelnen Person gefüllt. Diese Art von Gebet gehört von daher nicht in die Öffentlichkeit. Was in die Öffentlichkeit gehört, ist also die Versammlung der Christinnen und Christen, eine öffentliche Demonstration ihrer Präsenz und Feier ihrer Gemeinschaft, wie zur Zeit auf dem Kirchentag in Hamburg, der in diesen Stunden zu Ende geht. Die Gebete im Gottesdienst sind die allgemeine Ausgestaltung der Religion. Über die besondere Form und den Inhalt des Gebets entscheidet jeder selbst. Diese sollte allgemein nicht nach außen zur Schau getragen werden. Jesus und die frühe Christenheit weiß also genau, dass die öffentlichen Gebete die konkreten Beispiele des Lebensalltags oft nicht genügend zur Geltung bringen. Das öffentliche Gebet ist darum nicht überflüssig, denn es bearbeitet die Themen, die Christinnen und Christen allgemein und als Gemeinschaft betreffen. Um sich die allgemeine Bedeutung des Gebets bis hin ins Politische vor Augen zu führen, sollte man sich die Worte des Gebets Jesu, des Vater Unser genauer ansehen.

Das Gebet Jesu ist ohne Zweifel in jeder einzelnen Formulierungauf die Botschaft der Bibel zurückzuführen. Auch Jesus war in seiner ganzen Existenz in Wort und Tat Zeuge der Heiligen Schrift. Ihm lagen gerade die radikalen Aussagen der Propheten am Herzen. Er war religiös streng und trotzdem auf die Welt bezogen liberal. Religiöse Riten galten ihm nur so weit, als sie für den Menschen gut und richtig waren. Wenn die Sonntagsheiligung für die Menschen gut und richtig ist, dann ist sie für Jesus richtig, wenn sich aber etwas gegen die Menschen wendet, wie beim Verbot der Heilung oder der Beschaffung von Nahrung, dann lehnt er es ab. Er geht in den Tempel um zu beten, hat aber durchaus etwas gegen die Umwandlung des Tempels in ein religiöses Warenhaus. Die Bitten des Vater Unser sind daher mehr als ein Gebet. Sie sind die Grundprinzipien der Religion Jesu als geschichtlicher Mensch.

Dabei werde ich nun bei der Auslegung des Vater Unser von der gewöhnlichen Reihenfolge abweichen. Ich habe einmal gelesen, wie interessant es sein kann, das Vater unser rückwärts zu deuten.

Das Vater Unser wird mit Amen beendet. Davor kommt die nicht in allen Evangelien überlieferte Formel: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“. Das Gebet eröffnet Raum für Gott in dieser Welt. Wer betet, schafft diesen Raum für Gott in seinem eigenen Leben. Wozu ist es wichtig, im Leben Gott Raum zu geben?  Die Frage wird in dieser Formel beantwortet. Wer Gott Raum gibt, gibt nicht nur, sondern empfängt auch: Gottes Reich, Kraft und Herrlichkeit sind wirksam. Also könnte man diesen Schluss auch als Bekräftigung verstehen, etwa wie bei einer Eidesformel etwa im Sinne von „So wahr mir Gott helfe“. Das Gebet schafft an keiner Stelle eine andere Wirklichkeit als die, in der wir sowieso leben. Aber es stellt die Ansprüche Gottes her. Das Vater Unser ist daher Gebet und Glaubensbekenntnis in einem. Es ist auch jüdisch und christlich zugleich. Es ist ein Beispiel der Einstellung Jesu zum jüdischen Glauben, der die Wahrheit der Gegenwart Gottes bezeugt. Christus „nahm es nicht als einen Besitz, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an“, so wie es im Philipperbrief heißt. Der mächtige Gott verzichtet auf seine Macht, indem er Mensch geworden ist und immer wieder Mensch wird. Er stellt sich allen Menschen gleich und vertraut auf die Wirkung von Kraft, Reich und Herrlichkeit in den Worten der Liebe und des Friedens. Daher heißt es in der letzten Bitte:

Sondern erlöse uns von dem Bösen.

Es geht um Erfahrungen, die wir das „Böse“ nennen. Der Ausdruck „erlöse uns“ zeigt, wie nahe uns diese Erfahrungen sind. Hier ist von alltäglichen Grenzerfahrungen die Rede, von Trennung und Schweigen, von Trauer, von Tod. Jeder Lebenslauf ist davon geprägt. Die Ursachen dafür sind uns fast egal, aber obwohl wir selbst beteiligt sind, wollen wir diese Erfahrungen los werden. Wir wollen nicht mehr Opfer von Gewalt und Habgier anderer sein. Wir wollen nicht unheilbar krank sein oder von sinnloser Trauer erfüllt sein. Wir haben keine Lust mehr auf Umweltverschmutzung und Unfälle in Atomkraftwerken. Wir sind die Drohung mit Atomwaffen in Korea genauso leid, wie den ununterbrochenen Bürgerkrieg in Syrien und Palästina. Es geht von der großen Politik bis in unser privates Leben. Erlöse uns von dem Bösen. Ich spüre, das geht nicht automatisch, da ist Mitwirkung gefragt. Der Wunsch, das Böse loszuwerden, ist der erste Schritt, darauf müssen Taten folgen. Wir dürfen unser Schicksal nicht einfach hinnehmen. Wir sind beteiligt, also müssen wir auch Schritte zur Überwindung dessen tun, woran wir etwas ändern können. Die Bitte legt nicht alles in Gottes Hand, sondern nur das, was wir wirklich selbst nicht ändern können.

Und führe uns nicht in Versuchung.

Im Wort Versuchung steckt das Wort Suche, das wir auch im deutschen Wort Sucht wiederfinden. Von der Versuchung zur Sucht ist es nur ein kleiner Schritt. Versuchung und Sucht, zwei Worte für die gleiche Erfahrung, von etwas nicht genug zu bekommen, nicht so beachtet zu sein, wie wir es verdient hätten. Das beinhaltet den Wunsch, das Gefühl von Sinnlosigkeit durch eine Erfüllung mit schneller Zufriedenheit aufzufüllen. Der Sinn ist unerfüllt und soll wenigstens für die Gegenwart bestehen. Es geht also zugleich um Egoismus und um das Vertrauen auf eine schnelle und praktikable Lösung von Problemen. Streng genommen steckt ja in diesem Satz die Aussage, dass Gott uns möglicherweise in Versuchung führt. Aber ist Gott darin  nicht einfach ein Spiegel unseres Selbst? Führen wir uns nicht im Prinzip immer selbst in Versuchung, indem wir aus unserer aussichtslose Suche nicht herauskommen? Gott hat uns zu einem freien Individuum gemacht. Wir sollten die Bitte nicht so verstehen, dass die Versuchungen aus Gottes Hand kommen, sondern, dass Gott uns helfen möge, einen Weg in der Welt der Versuchungen zu finden, der gut für uns und die Menschen ist. Die Sucht ist keine Alternative in der Suche nach dem Sinn des Lebens. Manchmal gibt es keine schnellen Antworten. Gott ist keine Formel für die Lösung jedes Problems. In der Bibel ist in diesem Zusammenhang immer von Gottesfurcht oder von Vertrauen die Rede.

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsren Schuldigern.

Während in den letzten beiden Bitten die anderen Menschen und die Schöpfung nur indirekt im Blick sind, geht es hier nicht ohne sie. Selbstbewusstsein ist auch immer ein Schuldbewusstsein im Blick auf Andere. Indem wir handeln, machen wir uns auch immer schuldig, da müssen wir gar nicht suchen. Das Wort Schuld darf nicht im Sinn von Beschuldigung gebraucht werden. Wir müssen zuerst anfangen, anderen zu vergeben, dann können wir auch uns selbst vergeben und die Vergebung von Gott. Hier ist keine schnelle Rechtfertigung gemeint, wie es später verstanden wurde. Man könnte auch vorsichtiger sagen: Schuldvorwürfe sind immer gefährlich, weil die eigene Bereitschaft zur Vergebung auf dem Prüfstand steht. Besser ist es, sich nicht zu beschuldigen. Jesus bindet die Vergebung durch Gott an die Bereitschaft der Menschen, den anderen zu vergeben. An dieser Stelle kann nicht von einer billigen Gnade gesprochen werden, wie es Dietrich Bonhoeffer ausdrückte. Gott will unser Leben nachhaltig ändern und gibt uns nicht einfach religiöse Bestätigung für das, was wir sowieso tun. Darin bestand ja auch ursprünglich einmal der Sinn der Beichte, dass man einen Weg fand, sich selbst in seinen Alltagsbezügen zu ändern. Andererseits kann man den Satz im Sinn der Liebe Gottes auch umdrehen: Wer anderen vergibt, dem ist auch von Gott selbst vergeben. Er braucht damit nicht auf die Vergebungsbereitschaft anderer zu warten, wie wir das ja sonst so oft tun und damit eben nicht aus unseren Konfliktkonstellationen herausfinden. Die Schuld der anderen ist nicht unser Problem. Soweit sie uns betrifft, vergeben wir ihnen, um frei zu werden. Wozu brauchen wir das Gebet? Wir sprechen es vor Gott aus, um uns selbst daran zu binden, um aus dem Vertrauen zu Gott die praktischen Konsequenzen für unser tägliches Leben zu ziehen.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Das Vorbild für diese Aussage ist die Gabe des Mannas in der Wüste an das Volk Israel. Dieses Lebensmittel stand nur an dem Tag zur Verfügung, an dem es gesammelt wurde. Am nächsten Tag war es bereits verdorben. Der Kirchentag stand unter der Losung „soviel du brauchst“ und erinnerte damit an die Bedeutung dieser Bitte des Vater Unser. Was passiert bei uns mit Lebensmitteln, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist? Wie viele Lebensmittel werden schon in den Läden weggeschmissen? Wie viele kommen aus Haushalten, Restaurants und Kantinen hinzu? Der Hunger in der Welt, die vielen Toten durch Mangelernährung und Auszehrung sind global ein Riesenproblem. Auch wenn man daran als einzelner nicht viel ändern kann, sollten wir uns die Bitte des Vater Unser vor Augen halten. Es geht immer nur um das tägliche Brot, um das, was wir für heute brauchen. Wie sagt schon der Jakobusbrief: „So Gott will und wir leben werden wir dies oder das tun.“ Wir haben es nicht in der Hand.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.

Die Überleitung ist nun schon klar. Religiös ausgedrückt ist unser Leben von Gottes Willen abhängig. So brauchen wir uns eigentlich um nichts zu sorgen, als um den heutigen Tag. Wir sollten uns mehr bemühen, aus Dankbarkeit für alles Leben in der Gegenwart zu leben. Und noch eines kommt hinzu: Gottes Wille soll auf der Erde gelten. Gott der Schöpfer will das Leben der Erde. Er beauftragt den Menschen, sein Bild auf der Erde zu sein und das Leben zu schützen und zu bewahren. Dass wir die Erde sinnlos ausbeuten, ist nicht Gottes Wille.

 

Dein Reich komme.

Ist unser Leben von Gottes Gegenwart geprägt oder kommt alles nur aus unserem eigenen Willen? Wenn wir unser Leben dem lebendigen Gott öffnen, dann haben wir Zugang zu den Ursprüngen des Lebens in uns selbst. Ich persönlich sehe keinen großen Unterschied zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung. Wenn wir von Gottes Reich reden, dann denken wir doch gleichzeitig an die Herstellung der Schöpfung aus Gottes Gegenwart. Wie kann das Geschehen um den Willen Gottes wieder in Ordnung gebracht werden? Damit ist auch gemeint, dass wir nicht so tun, als müsste der Wohlstand immer so weitergehen wie bisher. Es gibt Menschen, die eine persönliche Krise durchgemacht haben oder an der Grenze des Todes standen, die haben oft eine ganz andere Einstellung zum Leben, als nur die einfache und schnelle Konsumorientierung auszuleben Es geht dabei dann auch um die Frage, wen und was und wessen Namen wir heiligen und verehren.

Dein Name werde geheiligt.

Wenn wir auf diesem Weg bei dieser ersten Bitte ankommen, dann wird uns bewusst, dass die Heiligung des Namens noch nicht einmal sehr viel damit zu tun hat, wie wir den Namen Gottes aussprechen. Heiligung ist die umfassende und ganzheitliche Entsprechung gegenüber Gottes Gegenwart. Wir machen uns auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. Wir finden keine simple, schlüssige Antwort, aber uns begegnen Erfahrungen, die wir wichtig finden und aus denen wir etwas lernen können. Die Nähe Gottes in seinem Namen hat etwas von einem Geheimnis. Der Philosoph Sokrates war dafür bekannt, dass er sagte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Das ist eine Art und Weise, vom unbekannten Namen Gottes zu sprechen. Es gibt keine schnellen Wahrheiten, sondern es gibt den Respekt, der dem Menschen eben nicht alles zutraut. Dazu gehört die Wahrnehmung der Grenzen des Menschen, dazu gehört die Gegenwart des Unverfügbaren und des Lebendigen. Der Name Gottes wird in dieser Welt geheiligt, indem wir Gott mehr vertrauen als den Menschen.

Unser Vater im Himmel

Die Anrede ist auf unserem Gang durch das Glaubensbekenntnis die Zusammenfassung. Sie leitet gleichzeitig zum Glaubensbekenntnis über, das eben diesen Namen Gottes zu allererst nennt. Ich glaube an Gott den Vater. Die Anrede Vater stammt von Jesus selbst. Jesus ist bescheiden, kein Angeber. Jesus prahlt nicht mit seiner göttlichen Herkunft. Wenn das so ist, dann ist die Anrede Vater zu Gott symbolisch gemeint, dann bedeutet Vater Ursprung oder Schöpfer. Wenn wir Gott als die Quelle des Lebens anreden und respektieren, erfahren wir Gottes Gegenüber und Gottes Nähe. Gott ist uns ein Geheimnis, wenn wir nach dem Sinn fragen, und ist zugleich die Lebendigkeit der Schöpfung, wenn wir nach dem Leben der Welt fragen. So gibt sich Gott uns in Jesus Christus zu erkennen, so treten wir in Kontakt mit der Quelle des Lebens.

Jesus greift bestimmt einige Bibelverse dabei auf, wenn er das Vater Unser betet. Vielleicht hat er auch einige Aussagen abgewandelt oder verändert. In allem Glauben hat er erfahren, dass Gott nahe ist und sein Leben mit uns teilt.

Amen.

Die Predigt ist auch hier zu lesen: http://www.kanzelgruss.de/index.php?seite=predigt&id=3963

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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