Vergangenheit als Aufgabe, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2013

Zu: Ann Brashares: So nah und doch so fern, Roman, Aus dem Amerikanischen von Sylvia Spatz, carl´s books München 2013, ISBN 978-3-570-58517-7, Preis: 14,99 Euro

Brashares_So nah und doch so fernAnn Brashares ist amerikanische Autorin (www.annbrashares.com) und stellt mit diesem Roman die Frage, was „Erinnerung“ für unser Leben bedeutet („My Name is Memory“, 2010). Bekannt geworden ist sie durch einige Jugendbücher, in denen es jeweils um Schwestern-Beziehungen geht („Sisterhood“) und durch den Roman „Unser letzter Sommer („The Last Summer“). Doch die Geschichte von „So nah und doch so fern“ ist mehr als ein Jugendbuch, auch wenn es ebenfalls hineingestellt ist in die Suche nach Zukunft, Identität und Orientierung. Die Frage – Ist er er (sie) der (die) richtige für´s Leben? – dürfte eine der Hauptfragen unseres Lebens sein. Lucy stellt sich eben diese Frage. Sie ist als College-Absolventin einem jungen Mann begegnet, der sie fasziniert, zugleich aber auch verunsichert. Daniel hat sie bei ihrem Treffen völlig unpassend außer mit Lucy noch mit einem anderen Namen angeredet, mit Sophia. Er ist sich ganz sicher, dass Lucy die Richtige für ihn ist, da sie Sophia entspricht, der Frau aus seinen anderen Leben. Lucy dagegen kommt völlig verblüfft vom Besuch einer Wahrsagerin, die sie nicht mit allgemeinem Horoskopgerede belastet hat, sondern ganz konkret von Daniel gesprochen hat, obwohl sie ja niemals von ihm gewusst haben konnte.

Die Frage, was Wirklichkeit ist, wird nun dadurch noch weiter entfaltet, dass die früheren Leben Daniels im Roman nach und nach im Stil je einer Episode geschildert werden, schön erzählerisch gestaltet im jeweiligen geschichtlichen Kontext: Nordafrika 541, Nicäa, Kleinasien 552, Konstantinopel 584 usw.. Nicht die Frage, welchen Schuldkomplex Daniel zu bearbeiten hat, ist das Thema, da von Anfang an klar ist, dass Daniel Sophia im Jahr 541 im Zuge einer Kriegshandlung in Nordafrika getötet hat, sondern vielmehr die Frage, wie ihn dieses Problem in unendlich vielen Leben hindurch bewegt. Die einzelnen Episoden seiner Leben werden in der Erzählung immer wieder auf eine Begegnung mit „Sophia“ fokussiert. Die Frage ist also, was die Auffassung von Wiedergeburten für unser heutiges Leben bedeutet und wie man diese Vorstellung praktisch entfalten könnte. Dabei geht es Daniel nicht um Religion im Sinn von Himmel und Hölle, da es der Zyklus der Leben selbst ist, der ihn vor immer neue Aufgaben stellt. Dabei, so erkennt er ebenfalls deutlich, kann es keinen wirklichen Fortschritt geben, ja es ist vielmehr umgekehrt, dass die Erfahrungen der Geschichte zeigen, dass Fortschritt eine Illusion ist.

Daniel erzählt in der Ich-Form die Geschichte seiner Leben und sagt: „Manchmal möchte ich den Faden meiner sich verändernder Leben einfach loslassen. Es wird mir zu anstrengend, mich daran festzuhalten und mich als Person nicht aufzugeben. Ich habe das Gefühl, dass die Vergangenheit und die Zukunft, Ursache und Wirkung, wiederkehrende Muster und Verbindungen ein riesiges kompliziertes Konstrukt sind…“ (S.81). Wie kann Lucy den Panzer dieser Konstruktionen aufbrechen und wie kann sie sich selbst aus ihrem eigenen Konstrukt lösen, das eher von Familie, Freundin und Gesellschaft vorgegeben ist? Ist die Aufgabe überhaupt lösbar oder geht es darum, sich einander in der jeweiligen Eigenwelt zu akzeptieren? Vielleicht hat die Autorin etwas zu viel vom Gewicht ihres Philosophiestudiums in den Roman gelegt, so dass die Formulierungen der Reflektion, wie oben zitiert, den Erzählfluss lähmen könnten. Wem allerdings die gestellte Aufgabe wichtig ist und wer merkt, dass sie etwas mit dem eigenen Leben zu tun hat, wird interessiert weiter lesen, um die exemplarische Lösung dieses Problems zu erwarten. Ist Wirklichkeit nicht immer ein wenig abhängig von der Phantasie, die wir in ihr entfalten?

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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