Predigt Himmelfahrt 2023, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Foto aus der ehemaligen Abteikirche Essen-Werden, Christoph Fleischer 2023

„Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben.“  Apostelgeschichte 1,9a

Liebe Himmelfahrtsgemeinde,

heute feiern wir, dass Jesus Christus in den Himmel gefahren ist. Seine Sendung auf Erden hatte ein definitives Ende, mit seiner Auferstehung beginnt sein himmlisches Leben im Reich des Vaters. Dort im Himmel ist Gottes Herrschaft schon errichtet, auf Erden aber noch nicht. Daher fragen ihn seine Jüngerinnen und Jünger, wenn du zum Vater gehst, wird dann Gottes Herrschaft in Israel errichtet werden? Jesus antwortet ihnen: Dafür braucht ihr weder Zeiten noch Fristen zu kennen (V.7). Den Zeitpunkt hat allein der Vater festgelegt. Ihr aber wartet auf den Heiligen Geist, dieser wird euch mit Kraft erfüllen und euch den Weg weisen.

Das Fest der Himmelfahrt Jesu

Aus dieser Erzählung, die die Apostelgeschichte überliefert, ist das Fest Christi Himmelfahrt geworden. Mit der Himmelfahrt Jesu ist der Glaube verbunden, dass Jesus mit seinem Vater im Himmel regiert, das Reich Gottes schon aufgerichtet ist, und dass der Geist Gottes uns beten lehrt: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“

Reich Gottes, Es ist bereits da und wird doch noch erwartet

In dieser Spannung leben wir heute. Wir wissen, was Gottes Wille ist und wie wir leben sollten, aber wir tun es nicht. Wir können das Reich Gottes nicht aus eigener Kraft auf dieser Erde errichten, aber ernstlich anstreben und darum bitten, das ist unsere Aufgabe. Richtschnur unseres Handelns sind dabei die Gebote Gottes und das Leben Jesu. Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns, und doch muss es immer wieder kommen, bis es sich an Jesu Wiederkunft vollends durchsetzt. Nicht mit Macht und Gewalt, sondern mit Liebe und einer neuen Sicht auf den Menschen und Gottes Schöpfung.

Heute beginnt das Himmelfahrtswochenende. Für viele eine Auszeit von Beruf und Verpflichtungen. Der Freitag wird als Brückentag genommen und viele fahren ins Blaue, genießen das frische Grün und den malzigen Maibock.

„Himmelfahrtskommando“ – Warum dieses Wort wieder aktuell ist.

Für Soldaten und Söldner am Dnipro setzt sich aber am Himmelsfahrtwochenende das Himmelfahrtskommando fort. Sie werden in den Krieg geschickt, Rückkehr mehr als ungewiss. Viele Tausende sind schon im Russland-Ukrainekrieg gestorben, viele Familien bangen um ihre Söhne und Töchter. Für die einen sind es Heldinnen und Helden für das Vaterland, für die anderen bloßes Kanonenfutter.

Liebe Gemeinde,

leider kann ich Ihnen heute am christlichen Himmelsfahrttag, der doch unsere Hoffnung und Freude ausdrückt – dass Gott das Regiment hat – nicht verhehlen, dass statt eines weiten blauen Himmels, sich der Himmel verengt hat, statt der zwitschernden und paarungsbereiten Vögel an Kriegsorten die Drohnen ausschwärmen.

Immer noch nicht wurden unsere Gebete erhört, dass die Waffen niedergelegt werden und ernsthaft Friedensverhandlungen angestrebt werden, ja überhaupt gewollt werden. Es ist kein Wille zum Frieden da. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Das ist ein Skandal!

Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Im Reich Gottes aber gibt es keine Gewöhnung an Gewalt und Unrecht.

Warum wir an den Frieden glauben.

An Christi Himmelfahrt glauben heißt, sich nicht an den Krieg und die Waffenlieferungen zu gewöhnen, sondern sich an den Auftrag zu erinnern, dass es auf Erden sein soll wie im Himmel. Wir aber glauben an den Krieg. Wir glauben an die Macht des Stärkeren. Wir glauben – so falsch es klingen mag – dass der Friede allein durch Waffen hergestellt werden kann. Wer etwas anderes glaubt, liegt falsch, ist naiv und wird kurzerhand aus dem Diskurs ausgegrenzt und mundtot gemacht.

Liebe Gemeinde,

Christi Himmelfahrt ist kein verstaubtes Fest. Der Glaube an die Herrschaft der Liebe ist nichts für bürgerliche und romantische Gemüter, er ist so radikal wie Jesu Leben selbst.

Dieses Zeugnis Jesu sind wir der Welt schuldig, die wieder auf Gewalt, Rüstung und Militär setzt als gebe es kein Morgen.

Es ist derselbe Jesus, der in den Himmel gefahren ist, wie der, der auf Erden lebte. Es ist Jesus mit seiner Botschaft: „Liebet eure Feinde!“ Darin liegt schon der Keim der Überwindung der Institution des Krieges. Doch wer glaubt daran? So gut wie niemand.

Es ist nicht die große Zahl, die berufen ist, Jesus nachzufolgen und sein Kreuz auf sich zu nehmen. Doch ohne Nachfolgerinnen und Nachfolger, die Gewaltlosigkeit wie ihr HERR leben, sind die Gläubigen kein Licht und kein Salz mehr in dieser Welt.

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen den Himmelfahrtstag nicht versalzen, ich will auch nicht Salz in die Wunden streuen, ich will Geschmack auf das Salz der Himmelsherrschaft machen, dass unser Leben Würze bekommt, dass wir uns sehnen, dass der Himmel auf Erden kommt, und dass wir dem Frieden nachjagen.

Amen

Predigt „Wer teilt, gewinnt.“ (Joh 6,1-13) Konfirmation am 6. und 7. Mai 2023 in der Markuskirche, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Bronzekreuz (Quelle:http://www.Christliche-Kunst-Bauer.de , der eigentliche Rechteinhaber ist unbekannt)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Festgemeinde,

bei der Einsegnung wird euch ein Bronzekreuz umgehängt. Darauf sind fünf runde Brote und zwei Fische zu sehen und die Worte: „Wer teilt, gewinnt“ treten reliefartig hervor. Das Kreuz fand ich von Anfang an für euch Konfirmandinnen und Konfirmanden schön: eine handfeste und bleibende Erinnerung an eure Konfirmandenzeit in der Lydia-Gemeinde und an eure Einsegnung. Mit den Worten habe ich mich schwerer getan, da sie für mich etwas zu einfach die christliche Botschaft auf den Punkt bringen. Sie klingen für mich, wie die zahlreichen Titel der in jeder Bahnhofsbuchhandlung erhältlichen Ratgeberliteratur oder die vielen moralisierenden Appelle, die uns in den Medien täglich präsentiert werden. Was wir nicht alles zu tun oder zu lassen haben! Davon ist euer Leben eh schon geprägt, und je sensibler ihr veranlagt seid, desto mehr wächst der Erwartungs- und Anpassungsdruck.

Moralisierender Zeitgeist

Wir sind nicht erst seit Corona – und diese Zeit mit den vielen Einschränkungen und Verunsicherungen hat euch ganz schön gebeutelt – zu einer sehr moralisierenden Gesellschaft geworden. Um überhaupt einigermaßen den Durchblick zu behalten, werden komplexe Zusammenhänge zunehmend vereinfacht, und längst überwunden geglaubtes Schwarz-Weiß-Denken ist mit Macht zurückgekehrt. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Sprach- und Denkverbote durch die Medien geistern, und viele haben das Gefühl, sich nicht mehr frei äußern zu können und sagen lieber nichts zu umstrittenen Themen. Gleichzeitig verbreitet sich das Phänomen, bekenntnishaft durch Sprache und Handeln zu zeigen, ich stehe auf der guten und richtigen Seite. Wir wollen zu den Guten gehören, die anderen aber liegen nicht nur falsch, sie handeln auch falsch und müssen deshalb permanent erzogen werden. Darunter leidet das Gespräch, das Aufeinander-Hören, der Austausch der Argumente und das, was uns alle miteinander verbindet: das Menschsein.

Narrative der Hoffnung contra Appellbotschaften

Was ist dem entgegenzusetzen oder wo finden wir in diesen verwirrenden Zeiten Orientierung und Hoffnung? Sicherlich nicht in Handlungsanweisungen, sondern in Geschichten, die uns Mut machen angesichts apokalyptischer Szenarien, die an die Wand gemalt werden und inzwischen fast in jeder Nachricht vorkommen. Wir leben von den tradierten großen Geschichten und Erzählungen – manche stehen neuerdings wieder auf einem ungeschriebenen und sich stets erweiternden Index, weil sie angeblich ein Menschenbild transportieren, das heute nicht mehr tragbar ist. Wir leben aber von Erzählungen, die weitererzählt werden. Sie enthalten Wesentliches, das weit über die Vernunft oder einer reinen Pflichtethik hinausgeht. Erzählungen sind menschlich und sie sprechen zu uns als Menschen, ob sie nun Märchen, Mythen oder biblische Geschichten sind.

 Essen und Trinken stiftet Gemeinschaft

Die Erzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen ist dafür ein gutes Beispiel. Es wird von einer großen Mahlzeit berichtet. Menschen lassen sich nieder und teilen das, was sie empfangen haben. Wer miteinander isst, kommt sich nah. Kaum etwas schafft so viel Vertrauten und Gemeinschaft, wie gemeinsames Essen und Trinken. Und wenn wir ein Fest planen, nimmt das gemeinsame Essen und Trinken einen großen Platz ein. Alles will gut vorbereitet sein. Die Einladenden sind angespannt, ob es auch gut schmeckt und das Gespräch in Gang kommt. Ist es ein gelungenes Fest, überkommt die Gastgeberinnen und Gastgeber ein wohliges Gefühl. Die Gemeinschaft ist gestärkt und erneuert worden.

Mit Jesus wird es ein gelungenes Fest. Auf wundersame Weise wird der Mangel gestillt. Alle werden satt. „Nur auf Wunder ist Verlass“, dichtet Mascha Kaléko und sie hat recht. Denn wir können noch so viel tun, noch so gut ein Fest vorbereiten und an alles denken, ob es aber ein schönes Fest wird, liegt nicht in unserer Hand.

Gesegnete Mahlzeit

Die Mahlzeit von der Johannes berichtet, ist mehr als eine Mahlzeit. Sie weist über sich hinaus. Sie steht für ein gelingendes Leben. Die fünf Brote und zwei Fische werden zu Symbolen der Hoffnung. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“(Mt 4,4)

Das Gemeinschaftsmahl beginnt mit einem Gebet. Jesus empfängt die fünf Brote und die zwei Fische von einem Kind und dankt Gott dafür. Gott ist mit im Spiel. Gott ist der Geber aller guten Gaben. Das auszudrücken und diesem eine Gestalt zu geben ist Religion. Das ist der Mehrwert eines Lebens aus dem Glauben und aus dem Vertrauen, dass Gott es gut machen wird.

Oder, um es anders zu beschreiben: Im Glauben geschieht eine Hinwendung zu dem Urgrund allen Lebens und gleichzeitig eine Erfahrung, miteinander verbunden zu sein und aufeinander zu achten. Die Verbindung mit Gott, verbindet uns mit allem, was lebt. Erst dann entfaltet der Satz: „Wer teilt, gewinnt“ seine religiöse Tiefendimension.

Alles Leben ist Hingabe

Alles Leben ist Hingabe. Die frühen Kirchenväter und -mütter haben sich das so vorgestellt: Die Schöpfung ist aus dem Überfließen der Energie Gottes und seiner Sehnsucht nach einem Gegenüber entstanden. Und wenn der Mensch selbst von dieser Energie erfasst wird, dann antwortet er mit seinem Leben selbst, mit Hingabe und Liebe. Der Mensch wird selbst zur Schöpferin und zum Schöpfer des Guten und erlebt sich als Teil eines Ganzen.

Ihr werdet heute eingesegnet, mit der Kraft Gottes verbunden. Ihr werdet beauftragt mit euren Fähigkeiten selbst schöpferisch tätig zu sein. Das ist ein überaus spannender und auch ambivalenter Prozess, da wir Menschen sind. Wir können nicht nur Gutes schöpfen, wir können auch zerstörerischen Kräften in uns Raum geben; wir können durch viele äußere Ursachen und Einwirkungen auf unserem Weg stecken bleiben oder uns verlaufen; wir können versucht und verführt werden; wir können auch eine Zeitlang gar nicht wissen, was wir wollen, oder abschätzen, ob das, was wir tun, gut ist für uns und andere.

Die Erzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen gibt uns aber Hinweise, wie ein erfülltes Leben trotz Mangel gelingen kann.

In der Gemeinschaft bleiben

Das Wichtigste in eurem Leben sind zurzeit eure Freundinnen und Freunde. Das ist das Feld, wo ihr euch ausprobiert, wo ihr unglaublich viel über euch selbst und auch über euch selbst lernt. Hier seid ihr verletzlich und es schmerzt riesig, wenn Freundschaften zerbrechen oder ihr spürt, ihr gehört gar nicht mehr richtig dazu. Hier seid ihr aber auch stark und habt Erlebnisse, die euch glücklich machen. Das sind die kleinen und großen Geschichten, die ihr euch erzählt.

Auch wenn es nicht so läuft, wie ihr es euch wünscht, zieht euch nicht zurück, wagt es weiter Freundschaften einzugehen, euch mitzuteilen, euch auszudrücken, von euch zu erzählen was euch wirklich bewegt. Und wenn es nicht mehr passt, sucht neue Kontakte, bleibt nicht an der Oberfläche, tauscht euch über Wesentliches aus.

Oft begleitet euch unterschwellig die Angst, nicht gemocht zu werden. Wisst ihr, diese Angst hat jede und jeder. Haltet ein wenig aus und ihr werdet merken, dass ihr so wie ihr seid, dazu gehört. Und wenn ihr das Gefühl habt, ihr gehört nicht mehr dazu oder ihr müsst euch so sehr anpassen, dass ihr euch verbiegt und ein schlechtes Gewissen habt, dann ist es Zeit, sich von einer Gruppe oder einer Person zu trennen.

Sich hingeben

Ihr habt von der Erfahrung berichtet, dass ihr euch selbst vergesst, wenn ihr euch einer Aufgabe, einem Menschen oder einem Tier ganz widmet. Dann erfahrt ihr eine Resonanz, die euch spüren lässt, hier bin ich genau richtig. Das ist Glück. Glück hat mit sich selbst geben und sich selbst empfangen zu tun.

Wer teilt, gewinnt. Wer sich mitteilt, gewinnt. Wer etwas von sich gibt, bekommt mehr zurück als er gibt. Lasst euch aber nicht ausnutzen. Das merkt ihr daran, wenn ihr ausgesaugt und ausgelaugt seid.

Christus hat sich uns hingegeben, auf eine Weise, die uns noch heute glücklich macht. Wenn ihr gleich Brot und Wein empfangt, werdet ihr das spüren.

Amen

 

Joachim Leberecht, Karfreitagspredigt 2023, Herzogenrath 2023

 

Ich bin der wahre Weinstock Johannes 15,1-5+8-16

Predigttext            :

Der wahre Weinstock

1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. 2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.

Das Gebot der Liebe

9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. 11 Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. 13 Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. 15 Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.

Vom Bleiben in der Liebe

Liebe Gemeinde,

was ich euch heute sage ist ein Geheimnis, gerichtet ganz allein an Jesu Jüngerinnen und Jünger. Wir können uns das gar nicht mehr vorstellen, weil wir die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium schon oft gehört haben, aber vielleicht begreifen wir etwas mehr von dem Geheimnis oder nähern uns ihm erneut an, wenn wir von Freude und Liebe erfüllt werden.

Wenn wir uns die Ich-Bin-Worte Jesu in ihrer Reihenfolge anschauen, können wir eine Steigerung feststellen.

In den ersten fünf Ich-Bin-Worten wendet sich Jesus an alle Menschen. Er macht seinen Anspruch geltend und fast traditionelle Bilder und Hoheitstitel, wie etwa Christus oder Sohn Gottes weiter als die synoptischen Evangelien. Johannes entwickelt die Christologie weiter und umfassender. Es sind ja gerade die starken Bilder, die Jesus selbst benutzt, die uns ansprechen und die immer wieder neu in uns lebendig werden. Sie sind Stützpunkte und Sehnsuchtsbilder für unseren täglichen Glauben. Jesus verheißt mit ihnen Lebensgewinn, ja Sinn.

  1. Ich bin das Brot – Einladung

Wer zu Jesus kommt, wird satt.

  1. Ich bin das Licht der Welt – Ruf in die Nachfolge

Wer von Jesus gekostet hat, kann die Entscheidung treffen, ihm nachzufolgen.

  1. Ich bin die Tür – Konversion

Wer Jesus nachfolgt, tritt in einen neuen Raum ein.

  1. Ich bin der gute Hirte – gemeinsam unterwegs

Wer Jesus folgt, hört auf seine Stimme.

  1. Ich bin die Auferstehung – Teilhabe am ewigen Leben

Wer Jesus glaubt, hat schon heute Teil am ewigen Leben.

Nach diesen fünf Ich-Bin-Worten wendet sich Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern zu. Jesus teilt sich ihnen in besonderer Weise mit. Es sind seine letzten Worte, bevor er am Kreuz erhöht wird und zu seinem Vater geht. Es sind Worte in einer Situation von Trauer und Angst. Es sind sehr intime Worte. Beide Ich-BIN-Worte haben seine innige Verbindung mit dem Vater zum Inhalt. Diese Einheit mit seinem göttlichen Vater wünscht sich Jesus auch mit seinen Jüngerinnen und Jüngern damals und heute. Nach seiner Erhöhung am Kreuz ist das das Bleibende in der Beziehung zu denen, die zu Jesus gehören.

Daher sagt Jesus uns heute am Karfreitag:

  1. Ich bin der Weg – zum Vater

Ich bin der Weg zu Gott dem Vater. Mein Weg führt jetzt über das Sterben in die Gemeinschaft mit dem Vater. Ich kenne keinen anderen Weg. Dieser Weg ist auch für euch der einzige Weg.

  1. Ich bin der wahre Weinstock – mein Vater der Weingärtner

Das siebte ICH-BIN-WORT: Ich bin der wahre Weinstock zeigt auf, wie die Beziehung zu Jesus gelebt werden kann, was der Grund der Beziehung ist und was die Aufgabe derer ist, die erkannt haben, dass Jesus das wahre und ewige Leben ist.

Vertraut darauf: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Dieses Bild prägt sich tief ein. Jesus, der wahre Weinstock, der Vater der Weingärtner und die mit Jesus verbundenen sind die Reben.

Das Gleichnis aus der Natur ist ein altes biblisches Bild. Jesaja hat eindrücklich darüber ein Weinberglied gedichtet. (Jesaja 5,1-7) Gott hat diesen Weinberg angelegt, aber der Weinberg ist verwildert und bringt keine Frucht. Das Weinberglied ist eine prophetische Zustandsbeschreibung zur Zeit Jesajas für das Volk Gottes (Israel). Gott „wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei und Schlechtigkeit“(V.7), wie Luther lautmalerisch das Hebräische ins Deutsche überträgt. Jesus greift diesen bekannten Vergleich auf und transformiert ihn auf die Beziehung zu seinen Jüngerinnen und Jüngern.

Bei Jesus geht es nicht um eine Frucht, die alles aus sich selbst leisten muss. In dem so oft missverstandenen Wort: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (V.5b) liegt gerade nicht eine Beschneidung der Autonomie des Menschen, sondern für den Menschen, der mit Jesus verbunden ist, liegt darin eine große Freiheit, eine Freude, ein am Lebensstrom und der Kraft Jesu angeschlossen sein. Ja, sogar ein Wechselspiel der Kräfte im gesamten Organismus Weinstock:

„Ein Weinstock ist kein Weinstock, wenn er nicht in seinen Blättern atmen kann, und er findet seine Erfüllung nicht, wenn er nicht Frucht ansetzt, sich weiterzuzeugen. Die Reben sind nicht das Produkt des Weinstocks, sie sind die Art, wie der Weinstock selbst lebt; ohne sie wäre er selbst buchstäblich nichts.“ (Eugen Drewermann, Das Johannesevangelium, Zweiter Teil, Seite 154)

Einheit mit dem Weinstock

Es ist die lebendige Einheit mit dem Weinstock, die die Reben reifen lässt und umgekehrt. Auch der Weinstock braucht die Reben. Das ist das Geheimnis, das Jesus den Seinen anvertraut. Der Weingärtner beschneidet die Reben, dass sie mehr Frucht bringen. Alles, was keine Frucht bringt, wird weggeschnitten und anschließend verbrannt. Wenn wir das ganze Bild vom Weinstock, Reben und dem Weingärtner auf uns wirken lassen, wird uns die Schönheit dieses Bildes guttun. Wir sind, wenn wir bei Jesus bleiben, am göttlichen Lebensstrom angeschlossen und mehren ihn.

Wer so nah am Lebensstrom ist, lebt gefährlich. Die größte Gefahr und das größte Übel sind in der christlichen Religion immer von den Menschen ausgegangen, die sich selbst mit dem Weingärtner verwechselt haben, statt einfach sich am Weinstock und Jesu Vorbild zu halten.

Was aber nun ist die Frucht, die die Reben hervorbringen? Natürlich der Wein, der Freude schenkt. Jesu Gleichnis geht aber über das ästhetische Verständnis weit hinaus, obgleich wir bei der Freude schon richtig liegen. Schon Johannes gibt im Gespräch Jesu mit der Samariterin im vierten Kapitel seines Evangeliums eine Deutung der Frucht. „Wer erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf das sich miteinander freuen, der da sät und der da erntet.“ (Joh 4,36)

Die Liebe ist die reife Frucht

Jetzt, ja erst jetzt, kommen wir zum Höhepunkt des Gleichnisses vom Weinstock und den Reben. Es ist recht gesehen eine echte Karfreitagsbotschaft: Freude in und an der vollkommenen Liebe. Die Liebe ist die reife Frucht, die Freude bringt.

Jesus liebt seine Jüngerinnen und Jünger: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.“ (Johannes 15,9) Das sagt er nur ihnen, der kleinen Schar. Im Johannesevangelium ist Jesus mit Worten über die Liebe sehr sparsam, aber ohne die Liebe Gottes zur Welt: „Und also hat Gott die Welt geliebt“ (3,16a) ist Jesu Sendung in die Welt nicht zu verstehen. Und Jesus ist nicht zu verstehen ohne seine Liebe zu den Seinen. Jesus setzt auf Liebe. „Bleibt in meiner Liebe!“(V.9) „Das habe ich zu euch gesagt, dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.“(V.11)

„Ihr seid meine Freunde!“(V.14a) „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“

Karfreitag.

Und Jesus geht sogar noch einen Schritt weiter. Er gibt seinen Jüngerinnen und Jüngern ein neues Gebot mit auf den Weg. Eine Weisung, wie sie leben sollen. „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“ (V.12)

Es geht um Gemeinschaft. Um dazugehören. In dieser Gemeinschaft gilt nicht mehr Herr und Knecht, da ist jeder Statusunterschied aufgehoben, das ist wahre Egalität, da dient einer dem anderen, da lässt sogar einer für den anderen sein Leben, da ist der Unterschied zwischen Gott und Mensch aufgehoben. In der wahren Liebe ist nichts Trennendes mehr.

Amen

 

Literatur:

Eugen Drewermann: Das Johannes Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Verlag Patmos, 2003, S.134-150

Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloher Verlagshaus, Dritte durchgesehene Auflage 2003, S. 261-278

Der schwache Glaube, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2023

Zu: John D. Caputo: Die Torheit Gottes, Eine radikale Theologie des Unbedingten, Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2022, Softcover, 167 Seiten, ISBN 978-3-7867-3298-3, Preis: 19,00 Euro,

Mit einer aktuellen Einleitung des Autors und einem Nachwort von Helena Rimmele, Herbert Rochlitz und Michael Schüßler

Aus dem Englischen von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz

Link: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/die-torheit-gottes-303298.html

Zuvor:

Über meine Lektüre von Jacques Derrida und Gianni Vattimo und deren „schwaches Denken“ kam ich vor ca. 20 Jahren auf den Begriff vom „schwachen Glauben“, nach dem auch diese Homepage benannt ist. Erst später entdeckte ich Schriften von John D. Caputo, dessen Religionsphilosophie eine ähnliche Begrifflichkeit erforscht. Ich muss gestehen, dass ich kaum in der Lаge gewesen wäre, ein Buch von Caputo im Original zu lesen, obwohl ich es immer wieder versuche, da sie in einem anspruchsvollen Englisch formuliert sind. Umso mehr freut es mich, dass jetzt mit diesem Band eine deutsche Übersetzung vorliegt. Das Buch „The Folly of God“ greift in der Tat die Fragestellung des schwachen Glaubens in besonders Maß auf. Leider warten noch mehrere weitere Werke Caputos auf deutschsprachige Übersetzungen, die ich sehr begrüßen würde

Die Torheit Gottes.

Obwohl der Titel etwas schroff oder rätselhaft klingt, ist er ganz passend und bietet zugleich eine Chiffre, die sowohl zur Philosophie als auch zur Theologie passt. Sie greift ein Bibelzitat aus dem 1. Korintherbrief auf, das vielleicht gar nicht so wörtlich gemeint ist, wie es hier klingt, heißt es nämlich: „Das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen.“ (1. Korinther 1, 25). Da fragt sich ja kaum jemand, was die Torheit Gottes eigentlich ist. Aber das sollte man.

Möglichkeit und Grenze der Ontologie.

John D. Caputo greift zuerst auf Paul Tillich zurück, um sich aber an späterer Stelle wiederum von diesem deutsch-amerikanischen Theologen abzugrenzen. Für Tillich ist Gott das Unbedingte, das Sein selbst. Derrida, ein weiterer für Caputo wichtiger Philosoph, trennt zusätzlich das Unbedingte von jedem Machtanspruch, spricht von einer Macht ohne Allmacht. Diese Eigenschaft kann auf Gott übertragen werden.

Was meint Dekonstruktion?

Hierbei ist mit Derrida häufiger von Dekonstruktion die Rede. Das Unbedingte ist etwas, das nicht dekonstruierbar ist. Das heißt, das Unbedingte ist nicht mehr auf menschliche, gedankliche Konstruktion zurückzuführen. Dekonstruktion ist somit eine ideologiekritische Analyse.

Im weiteren Ablauf der Argumentation wird hier deutlich, dass auch die Ontologie z. B. bei Tillich oder Heidegger als Konstruktion entlarvt wird. Deren Gottesbegriffe klingen vielleicht schwach, sind es aber nicht. Mit dem schwachen Denken wird der Atheismus genauso entlarvt wie der Theismus. Caputo schreibt: „Die Religion des höchsten Wesens … ist eine spirituelle Kindheit, die in der Angst vor ewigen Strafen durchlebt wird.“ (S. 97).

Wer nun meint, Caputo wiederhole lange Bekanntes sollte weiterlesen. Denn die zentrale Aussage Caputos besteht darin, die Existenz Gottes zu bestreiten. Damit wird aber die Rede von Gott nicht sinnlos, sondern nur anders. In eigenen Worten würde ich (d. Rez.) das Gelesene so zusammenfassen: Gott ist nicht, Gott geschieht, Gott ereignet sich, Gott insistiert. Gott lässt sich auch als Name beschreiben: „Der Name ‚Gott (-es)‘ ist symbolisch, aber er umschreibt das ganze Bedeutungsfeld.“ (Caputo, S. 107)

Hierbei zeigt der von Hause aus katholische Religionsphilosoph, dass die Theologie oft mehr auf Aristoteles aufbaut als auf die Bibel. Dagegen hatte, so bemerkt der Katholik Caputo, schon Martin Luther protestiert.

„Theopoesie“ statt religiöses Wissen.

Schon auf den ersten Seiten des Buches begegnet der Begriff der „Theopoesie“. Später wird dann deutlich, dass dieser Hinweis die theologische oder religionsphilosophische Beschreibung des Gottesbegriffs ersetzt. (Das geht schon auf das schwache Denken von Vattimo und Derrida zurück. Diese meinen, Wissen sei Interpretation. D. Rez.)

Wer meint, Gott genau zu kennen, verbaut das mögliche Ereignis seines/ihres Geschehens. „Theopoetische Sprache,“ wie es Caputo nennt, „ist auf das Unbedingte zugeschnitten und passt genau zu dem Ereignis“ (des Namens Gottes, d. Rez., S. 118f.).

Arbeit mit der christlichen Sprache in der Gegenwart.

Ich fasse es für mich zusammen in den Worten Caputos: „Das Reich Gottes wächst mitten aus der Welt, es kommt nicht auf uns von oben herab.“ (S.137) Diese Erfahrung beinhaltet gleichzeitig auch eine Abgrenzung gegen eine starke Systematisierung: „Das Reich Gottes braucht keine königlichen Bevollmächtigten, es braucht, ja es erträgt keine Absicherung, keinen Grund, keine Ursache, kein Ziel.“ (S. 139f). Dabei solle man aber auch nicht auf eine zu starke negative Theologie im Sinn der Mystik hereinfallen, die lediglich eine alternative Ontologie bietet.

Fazit

Ich denke (d. Rez.), dass der Begriff „Torheit Gottes“ nicht zuletzt geklärt werden kann. Ist es mehr als der Teil eines Sprachspiels? Ist die Schwäche Gottes seine wahre Stärke, dann wäre eben genau dies eine Metaphysik durch die Hintertür (wie oben an der Mystik gezeigt). Was jedoch auf jeden Fall deutlich wird, wenn auch meiner Meinung nach zu wenig, dass die Bibel in weiten Zügen Beispiele für eine schwache Theologie enthält, z. B. die Kreuzestheologie. Dass aber auch andere Machtvorstellungen in Bezug auf Gott vorkommen, dürfte nicht überraschen. Caputo zeigt die Am Beispiel von Matthäus 25, dem Gleichnis vom Weltgericht.

Die Provokationen der „radikalen Theologie“ Caputos, in denen m. E. die frühe Dorothee Sölle nachklingt, sind aktuell. Die Verbindung zur Dekonstruktion lässt sich auch mit Husserls Phänomenologie und den Untersuchungen von Emanuel Levinas verbinden. Dass hier kein religiöser Subjektivismus gemeint ist, zeigen die biblischen Zitate und Anspielungen, die m. E. noch verstärkt werden könnten. Der Machtverzicht Gottes ist in vielen Texten der Bibel im Alten und Neuen Testament mit Händen zu greifen. Hier meine ich auch Spuren Jürgen Moltmanns politischer Theologe zu entdecken. Die Machtlosigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung kann somit nicht als Verlust, sondern als Chance begriffen werden.

Predigt Matthäus 9,9 – 13, Kirche und Resonanz, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Septuagesimae 2023

9Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.

13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Zitat Hosea 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Luther 2017, Predigttext s.o.)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus antwortet denen, die an einer reinen Lehre und Praxis festhalten: „Nichtdie Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ (V.12).

Zwei Entwürfe von Soziologen, die sich auch mit der Frage nach der Kirche in unserer Gesellschaft beschäftigen, drängen sich mir angesichts der Berufungsgeschichte des Matthäus auf: Der eine ist Hartmut Rosa, er setzt der zunehmenden Beschleunigung aller Lebensbereiche in der heutigen Gesellschaft Resonanzerfahrungen (1) entgegen und stellt in einem gut lesbaren Buch die These auf: Demokratie braucht Religion.(2) Der andere heißt Franz-XaverKaufmann und legt eine Kirchenkritik vor mit den interessanten von Karl Marx geliehenen Worten: „…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“ (3)

Die „eigene Melodie“, die die Kirchen zum Tanzen bringt, ist im Evangelium zu finden. Genauer gesagt: In den Worten und den Berichten von Jesus. Was ist eine Berufungsgeschichte anderes als die Erzählung einer starkenResonanzerfahrung? Jesus ruft den Zöllner Matthäus vom Zoll weg in seine Nachfolge. Der Zöllner steht auf und verlässt seine Arbeit, lässt alles stehen und liegen und folgt Jesus. Vorher noch lädt er Jesus in sein Haus ein, teilt mit ihm Brot und Wein. Hier geschieht eine Konversion und den Frommen ist es nicht fromm genug. 

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Hartmut Rosa sieht – vereinfacht gesagt – wie die Zentrifugalkräfte der Spätmoderne den Menschen entwurzeln. Auch die Demokratie selbst ist gefährdet, da die Beschleunigung – verstärkt durch die Krisenanhäufung(!) – Prozesse des Nachdenkens, des Innehaltens und des Abwägens, der fruchtbaren Auseinandersetzung, nicht mehr zulassen. Die politische Klasse ist selbst eine Getriebene, möglichst schnell Probleme zu lösen. Dabei kann selbst schon einmal schnell das Grundgesetz außer Kraft gesetzt werden (siehe Coronamaßnahmen) oder die Entspannungspolitik von einem zum anderen Tag gekippt werden (Zeitenwende: 100 Milliarden Sondervermögen verankert im Grundgesetz). Es muss halt schnell gehen. Der Zwang zur Beschleunigung führt zu einer weiteren These Rosas: Wenn dem Einzelnen und insgesamt der Gesellschaft der „Burnout“ drohe, steigt die Aggression gegenüber allen und jedem, der politisch andersdenkende Mensch wird zum Feind. Demokratie aber funktioniert im „Aggressionsmodus“ nicht.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

In seinem Buch: Demokratie braucht Religion, weist Rosa darauf hin, wie wichtig Räume und Resonanzerfahrungen für das soziale Miteinander sind. Gerade eine Gemeinschaft (Institution), wie sie die Kirchen mit ihren Gottesdiensten, Ritualen, Räumen der Stille und der Begegnung bieten – jenseits von Funktionalität oder einem reinen Wellnessbetrieb – sind ein guter Boden für Resonanzerfahrungen. Kirchliches Leben könnte ein notwendiges Gegengewicht zur Beschleunigungs- und Aggressionsspirale sein und den Menschen Halt und Sinn geben. Die Kirchen geben mit ihrer Botschaft ein „Resonanzversprechen“: „Am Grund meiner Existenz liegt…eine Antwortbeziehung.“ Der Staat kann dieses Resonanzversprechen nicht geben, vielleicht bedingt die Kultur, aber von ihrem Wesen her die Religion, einfacher gesagt: der Glaube an Gott.

Hartmut Rosa schmeichelt den Kirchen und der Kraft der Religionen, letztlich funktionalisiert er soziologisch Religion als Stabilitätsfaktor – hier der Demokratie. Das ist mir zu kurz gesprungen.

Wenn ich mir die Berufungsgeschichte des Matthäus anschaue, dann führt ja die Resonanzerfahrung – Ich, Ich, Matthäus – werde von Jesus herausgerufen gerade nicht zu Stabilität in seinem Leben, sondern zu Abbruch, Aufbruch und jede Menge Widerspruch. Auch die gesamte Geschichte Jesu ist davon geprägt: Resonanz mit dem göttlichen Vater – Widerspruch zur Welt und den herrschenden (religiösen) Verhältnissen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Außerdem gilt es nüchtern festzustellen, dass die Kirchen (in Deutschland) selbst in einer großen Krise oder positiv gesagt in einem Transformationsprozess stecken, von dem noch nicht abzusehen ist, wohin die Reise geht.

Der Soziologe und katholische Christ Franz-Xaver Kaufmann konstatierte schon vor vielen Jahren, dass die Kirchen „den Kontakt zur Seele“ der Menschen verloren hätten. Sie stoßen zunehmend auf „taube Ohren.“

In seinem neuen Buch über die Zukunft des Christentums – wohlgemerkt mit einem Fragezeichen versehen! – beklagt er die Unfähigkeit zur Veränderung der (katholischen) Kirche (ich ergänze: der Kirchen!) und benennt unter anderem die „Struktur- und die Glaubenskrise“. Gerade die Glaubenskrise gilt es wahrzunehmen und ihr etwas entgegenzusetzen. Vereinfacht gesagt: Der Blick ins Evangelium und die Ausrichtung des Glaubens an die Botschaft Jesu hilft, wieder die „eigene Melodie zu finden“ und die versteinerten Verhältnisse aufzubrechen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Was heißt das für uns, die wir in einer „überdrehten“ Gesellschaft leben? Selbst nicht gefeit vor Burnout und Resignation? Was heißt das für uns als Lydia-Gemeinde?

Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Wie Jesus auf Matthäus zugegangen ist, sollten wir neu den Mut haben auf die Menschen zugehen, wo sie sind und sie herausrufen, einladen mit uns Gottesdienst zu feiern und gemeinsam Erfahrungen des Glaubens zu machen. Denn nur wer Erfahrungen des Glaubens macht, z.B das Singen von geistlichen Liedern Freude macht, wird einen eigenen Zugang zum Glauben finden.Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Es gilt die Kraft der Worte wieder zu entdecken, aber auch die befreiende und heilende Dimension des Lebens Jesuund der Liturgie. Die Frage nach der Berührung spielt da eine Rolle. Wie können wir Formen entwickeln, einander heilend zu berühren? Ab und an salben wir Menschen im Gottesdienst. Da ist beides gegeben. Rituelle Distanz und Berührung, auch die Feier des Mahls mit Brot und Wein ist sinnlich erfahrbar. Wir machen uns auf den Weg zu einer neuen gemeinsamen Liturgie, einer Liturgie ohne große Schwellen.

Etwas Neues wagen oder etwas Altes neu entdecken, Altes aufgeben, Raum schaffen und gewähren von neuen Formen gemeindlichen Lebens ist eine gemeinsame Suchbewegung. Es gibt auch Herausforderungen in der Nachfolge Jesu, die nicht verschwiegen werden dürfen. Die Hilfe und das Dasein für andere – wie für die Flüchtlinge in unserer Stadt – und aktuell ein besonderer Stachel: Jesu Gewaltlosigkeit und sein Gebot der Feindesliebe. Wie sind wir Gemeinde auf dem Weg zu einem gerechten Frieden? Wie lösen wir untereinander Konflikte?

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Die Berufung von Matthäus in die Nachfolge Jesu ist nicht nur eine alte Geschichte, sie ist offen für uns – heute, hier und jetzt – sie lädt ein, Jesus nachzufolgen. Wer Jesus nachfolgt, der lebt in Resonanz mit Gott, dem Geheimnis des Lebens, hofft und arbeitet wider aller Resignation auf ein besseres Leben bis Gott wird sein Alles in allem (vgl. Römer 11,36).