Zu: Hanna Kappus: Das Leben ist ein großes, Alzheimer – ein langer Abschied, Gütersloher Verlagshaus Gütersloher, ISBN 978-3-579-06673-8, Preis: 14,99 Euro
„Sein Leben hat keine Struktur und gibt ihm keine Orientierung mehr. Er selbst ist nicht mehr fähig, seine Umwelt zu gestalten. In seiner kleinen Welt braucht er die ständige Rückversicherung, dass alles gut ist, dass er geborgen ist und geliebt wird.“ (Seite 149). Von diesem Zitat her betrachtet wird im Buch von Hanna Kappus einfühlsam geschrieben, wie es bei ihrem Mann, Arzt, 53 Jahre, zur Diagnose Alzheimer kommt. Der erste Teil widmet sich dem Umgang mit der Diagnose, den ersten Anzeichen der Krankheit und den daraus folgenden Lebensentscheidungen. Der zweite Teil schildert die Aufnahme in die eigenständig gegründete Wohngemeinschaft.
Hier wird keine heile Welt der Pflege geschildert, sondern der Alltag. Was vielleicht die Situation der Autorin von den meisten unterscheidet, ist, dass sie als Angehörige noch sehr präsent ist und bleibt. Auf ihr ruht die Betreuung ihres Mannes in der ersten Zeit ganz allein. Sie führt ein Tagebuch, dessen Eintragungen hier in kursiver Schrift manchmal am Ende der Kapitel eingefügt werden. Es reflektiert die eigenen Gefühle als Angehöriger. Die Wohngemeinschaft wirkt fast wie eine Pflegeeinrichtung, obwohl der Pflegedienst ambulant tätig ist. Die Angehörige wohnt zu Hause und hat in der WG ihr Gästesofa, das sie in der Zeit der Eingewöhnung auch noch täglich benutzt.
Das Buch schildert im Wesentlichen das Fortschreiten der Krankheit, die als kontinuierlicher Abschied erlebt wird, sowie die für die Begleitung nötigen Maßnahmen. Dazu werden daneben die Prinzipien der wertschätzenden Begleitung, genannt Validation sowie der Umgang mit Aggression und Depression und andere Fragen berührt. Gegen Ende ist ein etwas umfangreicheres Kapitel eingefügt, in dem die Krankheit Alzheimer und Demenz grundsätzlicher behandelt wird: „Die Weiterentwicklung der Demenz“ (Seite 111).
Der Satz im Titel ist ein Zeichen der Demenz, ein unvollständiger Satz: „Das Leben ist ein großes“ – was, das bleibt offen. Der Demenzkranke kann den angefangenen Satz nicht vollenden. Das Leben ist – auch unter den Bedingungen der Krankheit -ein großes Geschenk oder eher eine große Aufgabe? Wie dieser Satz fortgesetzt wird, ist immer auch von der momentanen Unterstützung abhängig. Daran wird deutlich, dass und wie die Demenz die Beziehungen und eigenen Lebenseinstellungen einbezieht. Hierin liegt nicht nur ein Problem, sondern auch die positive Seite der Erkrankung. Da die Gefühle bis zum Schluss erfahrbar bleiben und auch vom Demenzkranken benannt werden können, ist es ausschlaggebend, wie das Gefühl der Sicherheit in den Beziehungen erlebt wird. Letztlich ist es das Gefühl des Getragen-Seins, was den Sinn des Lebens bis zuletzt ausmacht. Was ist das anderes als Religion, die im Urvertrauen gründet, schon von der Geburt an? Das Buch zeigt keine heile Welt, aber es verdeutlicht Wege und Entscheidungsmöglichkeiten im Umgang mit der Demenz, die auch, soweit es möglich ist, den Kranken selbst einbezieht. Dass dabei manche Träne geflossen ist, wird nicht verschwiegen. Ein Manko ist vielleicht, dass, wenn auch im Titel vom Abschied die Rede ist, die Phase der Sterbens hier noch nicht beschrieben ist, wohl weil sie auch noch nicht erlebt wurde und nur als Beispiel in der Erfahrung anderer Bewohner der Wohngemeinschaft erwähnt wird. Der Abschied ist also noch nicht zu Ende. Wohin führt der Weg weiter? Wo ist Zuhause? Zuhause ist immer da, wo ich mich als geliebt und angenommen erfahre.
Ein Gedanke zu „Wo ist Zuhause? Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2013“