Bezug: Dietrich Bonhoeffer: Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft, erschienen in Dietrich Bonhoeffer Werk (DBW) Band 14, S. 655-680, zuerst veröffentlich in der Zeitschrift Evangelische Theologie, Jahrgang 1936, zitiert aus: Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Hrsg. von Christian Gremmels und Wolfgang Huber, Band 3, Entscheidungen 1936-1939, Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2006 (zitiert als: Kirchengemeinschaft).
Bonhoeffers Aufsatz beschreibt einen doppelten Effekt der Bekenntnisorientierung. Nach innen gab es eine Form der Entgrenzung, indem die neue Gemeinschaft im Bekenntnis die bisherigen Unterscheidungen zwischen Lutheranern und Reformierten aufzulösen begann. Eine strikte Abgrenzung dagegen bestimmte das Verhältnis zu allen, die sich der Reichskirche unterstellten und damit faktisch die Übernahme der Kirche durch den NS-Staat mit allen seinen Rassegesetzen duldeten (Kirchengemeinschaft, S. 42ff, vgl.auch dazu: Die Barmer Theologische Erklärung 1934/Einführung und Dokumentation, Hrsg. von Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth, Neukirchen-Vluyn 1983).
Bemühungen des NS-Staates, den Einfluss in den evangelischen Landeskichen zu verstärken trafen dort auf Zustimmung, wo die Gruppe der DC (Deutschen Christen) tonangebend war. Die anderen kirchlichen Kräfte versuchten ein Spagat zwischen Staatsloyalität und binnenkirchlicher Orientierung, z. T. angelehnt an die Vorgaben der Barmer Theologischen Erklärung. Die Bekenntnisorientierung war für Dietrich Bonhoeffer schon vor Barmen wichtig gewesen, als er mit anderen zusammen im Auftrag des Pfarrernotbundes das Betheler Bekenntnis erarbeitete. Aus der Bezeichnung „Bekenntnis“ wird schon deutlich, dass es nicht darum gehen sollte, die aktuelle Bedeutung der konfessionellen Bekenntnisse in der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Konfessionen zu betonen, sondern eher darum, in der durch den politischen Umstand gegebenen Situation ein eindeutiges kirchliches Bekenntnis zu formulieren, um den Unterschied zwischen der evangelischen Kirche und der NS-Ideologie zu markieren, zumal diese Ideologie in Gestalt der Richtung der Deutschen Christen in die evangelische Kirche eingewandert war.
Eine Schwierigkeit tauchte bei der Frage auf, ob die Abgrenzung nur für die Amtsträger gelten sollte oder für alle Kirchenmitglieder. Obwohl die Bekennende Kirche faktisch als eigenständige und selbstorganisierte Kirche fungierte, entstand in vielen Landeskirchen praktisch eine Mischform. So gut die Bekenntnisorientierung die Unterscheidung zwischen Reichskirche und der bekennenden, evangelische Kirche markierte, so wenig war es im Einzelnen möglich, darin schon zwei völlig voneinander getrennte kirchliche Organisationen zu sehen. Die Leitungsformen waren zudem in einzelnen Landeskirchen sehr unterschiedlich und zum Teil von Gemeinde zu Gemeinde verschieden ausgesprägt. Faktisch muss man also aus der Sicht der zeitlichen Entfernung konstatieren, dass die Bekenntnisorientierung zu einer Spaltung innerhalb der Kirche, nicht aber zu einer völligen Abtrennung der deutschchristlichen Orientierung geführt hat.
Aus der Distanz zwischen damals und heute erscheint Bonhoeffers Aufsatz zudem geprägt durch eine Freund-Feind-Begrifflichkeit, die einer politischen Theologie ähnlich ist. Nach Carl Schmitt ist das Freund-Feind-Denken ein Merkmal des Politischen (Anmerkung: Siehe Jan Assmann, Zum Ursprung und Wesen religiöser Gewalt, Vortrag am 11. April 2011 in Münster, als Ton und Video Dokument: http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/video/index.html#Film_Vortrag_Jan_Assmann). Diese Freund-Feind-Begrifflichkeit wird in Bonhoeffers Aufsatz durch eine ausdrückliche Kriegsmetaphorik unterstützt. Beispiele dafür sind Begriffe wie: „Schlacht geschlagen“, „Ort der Entscheidung“, „Kriegslage“, „desertierende Offiziere“, „Kampf“, „Gehorsam“, „Feinde“, „auf der anderen Seite“ (zitiert aus: Kirchengemeinschaft).
Man möchte fragen: Ist das noch der Dietrich Bonhoeffer, der kaum zwei Jahre zuvor das weltweite Konzil des Friedens angemahnt hat (Dietrich Bonhoeffer: Kirche und Völkerwelt, Fanö, 1934: „…weil die Kirche ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Handnimmt und ihnen den Krieg verbietet…“, Dietrich Bonhoeffer Auswahl, s.o. Band 2, S. 92)?
Wie weit ist der Weg zum Bonhoeffer der Schriften und Fragmente aus der Haft in Tegel, der aus seinen Erfahrungen in der Haft nach einem religionslosen Christentum gefragt hat und die Kirche ausschließlich als Kirche für Andere ansehen wollte (Siehe: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW Band 8, Taschenbuchausgabe Gütersloh 2011, hier besonders Texte aus dem Jahr 1944, z. B. S. 511: „Ich will also darauf hinaus, dass man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern dass man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, dass man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‚madig macht‘“…)?
Doch dieser kurze Aufsatz soll sich nicht in der Werkbetrachtung zu Bonhoeffer verlieren, sondern die Diskussion der Kirchengemeinschaft aus heutiger Sicht kritisieren und dekonstruieren.
Heute stellt sich angesichts mancher Diskussionen, die Menschen aus der Kirche ausgrenzen, z. B. in der Beurteilung von Homosexualität die Frage: Was ist eine offene Kirche? Oder pointiert ausgedrückt: Hat die Kirche Grenzen?
Dazu soll ein Zitat aus dem Aufsatz Bonhoeffers ausgewählt werden, in dem es vordergründig um die „Neutralen“ geht. Dieses Zitat wird in einem zweiten Schritt aus dem Zusammenhang des Freund-Feind-Denkens gelöst, um es auf die heutige Situation beziehen zu können.
Dietrich Bonhoeffer schreibt: “Jesus Christus hat über die Neutralen das doppelte Wort gesprochen: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich (Matthäus 12,30) und: Wer nicht wider uns ist, der ist für uns (Markus 9,40). Weder können die Neutralen das zweite Wort für sich in Anspruch nehmen, noch kann die Kirche das erste allein gegen sie wenden. … Wird freilich die Neutralität zum Prinzip erhoben, dann wird die Möglichkeit in Sicht kommen, das erste Wort allen zu sagen. Denn dort ist bereits eine eindeutige Stellung außerhalb der Kirche bezogen und die Grenzen gegen den Anspruch der wahren Kirche deutlich aufgerichtet.“ (Kirchengemeinschaft, Seite: 48).
Zunächst fällt hier erneut die politische Sprache auf, denn Neutralität war in der imperialen Zeit ein staatspolitischer Begriff. Es mag sein, dass der Unterschied zwischen Widerstand und Gefolgschaft in Bezug auf das Nazi-Regime so stark in die theologische Diskussion hineinwirkte. Darüber hinaus zeigte Bonhoeffer auch an anderer Stelle das Gespür für die Notwendigkeit und Möglichkeit einer politischen Theologie. (Es ist z. B. die Frage, inwieweit die Entwürfe zur Ethik aus 1942/43 sich nicht als politische Ethik in einer theologischen Begründung erklären lassen.). Eine gute und ehrliche politische Theologie verdeckt diesen Zusammenhang nicht durch Glaubensformeln, sondern legt ihn offen dar, wie Bonhoeffer selbst es noch 1933 in seinem Radiovortrag „Deutschland vor der Judenfrage“ getan hat (siehe: Dietrich Bonhoeffer Auswahl, s.o. Band 2, S.69-79).
Es scheint, als ob er im vorliegenden Aufsatz zeitbedingt die Gestalt einer politischen Begründungsform gewählt hat, ohne dies ausdrücklich zu markieren und dass er dieser politischen Begründung eine religiöse bzw. theologische Gestalt gegeben hat. Zu konstatieren ist eine Verteidigungshaltung einer jeden an der Menschenwürde orientierten Einstellung, da diese faktisch nicht nur mit Füßen getreten, sondern bis zum Exzess ausgehebelt wurde. Ist Bonhoeffers Argumentation damals also von dieser Extremsituation her zu erklären, so muss sein Aufsatz heute sozusagen gegen die vordergründige Intention des Autors neu gelesen werden, die darin bestand, Intoleranz gegenüber den Intoleranten zu praktizieren.
Sein Umgang mit den beiden Bibelzitaten ist theologisch nicht akzeptabel. Jesus Christus hat darin keinesfalls ein doppeltes Wort gesprochen, sondern in der Tradition seiner Worte finden sich diese beiden völlig gegensätzlichen Aussagen.
Der erste Satz (Matthäus 12,30) begrenzt den Wirkungsbereich des Wortes Gottes mit den Beschreibungen von Zustimmung und Ablehnung. Die Zugehörigkeit wird durch die ausdrückliche Zustimmung markiert. Allen anderen wird damit faktische Ablehnung unterstellt, auch in dem Fall, in dem diese eine Ablehnung bewusst gar nicht äußern oder sogar nicht damit konfrontiert sind. Hier im Matthäusevangelium scheint die Missionsgeschichte des ebenfalls bei Matthäus überlieferten Wortes auf: „Machet zu Jünger alle Völker…“ (Matthäus 28,19). Dieser Satz gehört in einen ideologischen Zusammenhang, in dem die Zugehörigkeit zur Kirche durch die Unterscheidung von wahr und falsch markiert wird. (Dazu siehe Jan Assmann und die Diskussion um seine Positionen: http://www.perlentaucher.de/blog/282__die_monotheismusdebatte_-_editorial.html.)
Ausschließlich der zweite Satz aus der Tradition des Markus-Evangeliums (Markus 9,40) zeigt eine offene Linie der Zugehörigkeit, die nicht durch den Unterschied von wahr und falsch markiert wird. Allein die faktisch vollzogene Ablehnung desjenigen, der sich vom Christentum abwendet setzt eine Grenze, die jedoch jederzeit durch eine Meinungsänderung aufgehoben werden kann. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch kann in dieser von Markus her geprägten Kirche keine Grenze markieren. Es ist interessant, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Formen dieser offenen Kirche in der Barmer Erklärung ebenfalls angesprochen werden, etwa, indem die „Gnade Gottes“ auszurichten ist an „alles Volk“ und indem innerhalb der Kirche die Ordnung nicht durch eine Form der Herrschaft gestaltet wird, sondern ausschließlich demokratisch. (Quelle: Barmer Theologische Erklärung, s.o.). Eine Kirche, die sich zwar von Gottes Autorität her versteht, aber nicht selbst eine autoritäre Struktur ausführt, ist die passende Gestalt zu einer Botschaft, die eine freie Gnade an alle Menschen ausrichtet.
Da Bonhoeffer seinen Aufsatz als dialektischen Besinnungsaufsatz gliedert, schildert er passende Kriterien der Kirche im ersten Teil (Position, These). Schon der erste Satz ist in dieser Hinsicht der weitestgehendste: „Die Reformation hat die Frage, was die Kirche sei, gelöst von der Frage, wer zur Kirche gehöre.“ (Kirchengemeinschaft, Seite 31). Weitere Argumente Bonhoeffers sind: Die Zugehörigkeit selbst ist Gottes „Geheimnis“ und kann nicht durch den Unterschied von wahr und falsch markiert werden. Die Mitglieder werden nicht abgezählt, Heuchler nicht entlarvt. Es findet keine Absonderung der Gerechten und der Ungerechten statt (siehe zu diesen Aussagen: ebd. S. 32ff). Hier zeigt sich, dass Bonhoeffer das Wesen der Kirche klar unterschieden wissen will von der Struktur einer rassistischen oder ideologischen Grenzziehung. Es heißt sogar: „Die Kirche verfügt nicht über ihre Grenzen und ihren Umfang.“ (Kirchengemeinschaft, Seite 35). Es ist gewiss die Frage, ob diese klaren Aussagen nicht in der folgenden Diskussion der Bekenntnisfragen aufgelöst werden, so dass Bonhoeffer faktisch bei einem Lager-Denken landet. Seine inhaltliche Debatte verliert sich im Lavieren und löst sich darin auf, wo auch er nicht vom Freund-Feind-Denken lassen kann und Kriegsmetaphorik explizit und, in der Wortwahl auch implizit, verwendet.
Wenn ich also den ersten, an einer offenen Position interessierten Teil seines Aufsatzes stark mache gegen den abgrenzenden, bekenntnisorientierten zweiten Teil, komme ich zu einem anderen Ergebnis als Dietrich Bonhoeffer 1936. Die Einteilung der Beziehung zur Kirche in die Kategorien Glaube, Unglaube und Neutralität ist vom Freund-Feind-Denken geprägt und der Verkündigung Jesu Christi auch im Sinn der Barmer Theologischen Erklärung nicht angemessen. Was bleibt, ist also nicht die Frage, wie die Bekenntnisorientierung auf Grenzziehungen reagiert und welche Grenzen sie dann faktisch doch setzt, sondern wie der von Bonhoeffer zitierte zweite Satz Christi (Markus 9,40) einzig als der erkannt wird, der in der Bedeutung der offenen Grenzen die Wiedergabe des Evangeliums von der Gnade Gottes erkennt.