Zu: Wilhelm Gräb, Lars Charbonnier (Hg.): Individualität, Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin University Press 2012, ISBN 978-3-86280-036-0, Preis 39,90 Euro
Charakteristisch an der hier von Lars Charbonnier und Wilhelm Gräb von der Humboldt-Universität Berlin vorgelegten Arbeit ist ihre interdisziplinäre Breite. Die zweifellos modern klingende Kategorie der Individualität geht nach Untersuchungen des vorliegenden Bandes auf eine breite Spur europäischer, wenn nicht sogar globaler Geistesgeschichte zurück. Das Projekt der Humboldt-Universität zum Individuum befasste sich zunächst mit der näheren Bestimmung von „Individualisierung“, zu der es von denselben Autoren bereits einen ähnlichen Vortragsband wie den zu besprechenden gibt (Individualisierung – Spiritualität – Religion: Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive). In den Jahren 2009 und 2010 wurde es nun in mehreren Vortragsreihen zur „Individualität“ fortgesetzt.
Hierbei arbeiten Theologie und Philosophie so zusammen, indem sie zunächst spätantike Quellen auf die Frage nach Individualität untersuchen. Diese Vortragsreihe wurde 2010 in Oxford durchgeführt. Hier ist besonders die Arbeit des dort lehrenden Theologen Johannes Zachhuber zu nennen, der die Spuren der Individualität in der spätantiken Dogmengeschichte verortet, und zwar im Zusammenhang mit der Trinitätslehre und Christologie, Themenfelder also, die sonst nur unter religiöser Hinsicht betrachtet, von Zachhuber hingegen strukturell untersucht werden. Christoph Markschies, Kirchenhistoriker aus Berlin, zeigt hingegen die Abhängigkeit der spätantiken Dogmengeschichte von der neuplatonischen Philosophie, womit der eher philosophische Ursprung der Individualität aufscheint. Mark Edwards beschreibt die Grundentscheidung antiker Mönche als vom Begriff her zu deutende bewusste Vereinzelung, womit in der Entscheidung zum Mönchsein ein Schritt zur Anerkennung und Bewusstmachung der Individualität vollzogen wird.
Der zweite Teil des Buches dokumentiert den vorangegangenen Teil der Vorlesungsreihe im Jahr 2009. Hier wird die Kategorie der Individualität in den Kontexten der europäischen Philosophie aufgezeigt: Leibniz (Birgit Sandkaulen), Michel de Montaigne (Birgit Recki), Smith und Rousseau (Elena Pulcini) und Ernst Cassirer (Oliver Müller). Im dritten und vierten Teil wird im Anschluss an Schleiermacher das Konzept der „Individualität als ethisch-religiöses Konzept humaner Selbstdeutung“ dargestellt (Wilhelm Gräb, Volker Gerhardt, Jörg Dierken, Arnulf von Scheliha und Georg Pfleiderer).
Die Beiträge von Wilhelm Gräb in diesem Band beziehen sich auf das im Titel genannte Thema und lassen sich aber auch im Zusammenhang lesen. Als Fazit wäre vorläufig zu formulieren: Obwohl die Frage der Individualität sowohl zu den Grundfiguren des christlichen Glaubens, als auch zur humanen Selbstdeutung im Horizont der europäischen Geistesgeschichte gehört, ist sie in praktisch-theologischer Hinsicht eher eine Problemanzeige. Wenn die Menschen im Kontakt mit der Kirche immer weniger das Gefühl haben, dass ihre Individualität gefragt ist, wird sich auch die Distanz zur kirchlichen Botschaft weiter verstärken. Individualisierung dagegen steht seit der Entwicklung zum Kapitalismus, so von Ernst Troeltsch am Ende des 19. Jahrhunderts gesehen, im Kontext der Vermassung unter Marktgesichtspunkten und trägt letztlich zum Abbau von Individualitätsgefühlen bei.
Speziell der Glaube an Gott als eine Möglichkeit der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zeigt auch im modernen Kontext den Weg der persönlichen Sinnsuche und Sinnfindung im Bewusstsein von Identität: „Aus der religiösen Begründung der Individualität erwächst der Widerstand, den die Individualität einer in sich haltlosen relativistischen Weltauffassung ebenso entgegensetzt wie der Suggestivkraft eines ökonomischen Systemzwanges, der sich mit seiner nivellierenden, Individualität zerstörenden Kraft in allen Bereichen durchsetzen will.“ (Wilhelm Gräb, S. 142).
Zum Buch ist zu sagen, dass der erste Teil manchmal schwer zu lesen ist, aber dennoch die Auseinandersetzung lohnt. Es ist ein Buch mit gedanklichem Tiefgang und klarer Botschaft, das man nicht schnell zur Seite legt.