Das Schwere leicht nehmen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017

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Zu: Joachim Wehrenbrecht: Die Schwere, Mein langer Weg mit Depressionen zu leben, Buchwerkstatt bei Frieling und Huffmann, Berlin 2017, Taschenbuch, 98 Seiten, ISBN: 9783946467342, Preis: 8,90 Euro

Der Titel „Die Schwere“ wird am Ende des Buches im Nachwort aufgegriffen: „Wenn ich nicht länger auf meine Schwere fixiert bin, sondern danach frage, womit ich in der Schwere verbunden bin, und was die Schwere mir schenkt und was ich trotz der Schwere noch alles kann, dann nehme ich mich anders wahr.“ (S. 95) Die Stärke des Buches besteht in seiner reflektierend erzählenden Qualität, die in der ersten Person, aber nicht ohne die nötige Distanz zum Geschehen geschrieben ist. Kurze, tröstliche Texte sind als kleine Gedichte eingeschoben. Während die Lyrik die Trostseite vertritt, ist die biografische Erzählung Darstellung des Problems und in der Leiderfahrung wie in divergierenden Therapieversuchen und -ergebnissen.

Während Joachim Wehrenbrecht hier durchaus bei sich selbst und seinem Umfeld ist, scheint mir doch der ständige Therapiewechsel, die pastoraltheologischen Fortbildungen eingeschlossen, mehr ein Teil des Problems als der Lösung zu sein. Sicherlich hat das Buch darin auch eine Stärke, so auf die verschiedenen Möglichkeiten von Heilung und Bewältigung hinzuweisen. Ich stelle mir während der Lektüre folgende Fragen, die auch Veränderungen im sozialen Umfeld betreffen: Geht die Ehe wirklich in die Brüche, weil einer der beiden Partner an Depressionen leidet, oder hat es nicht auch systemische Gründe für den Ehebruch im Pfarrhaus gegeben? Welche Rolle spielt der zunehmende Leistungsdruck im Pfarramt, also die beruflichen Erfahrungen und Arbeitsbedingungen? Wie geht man im Pfarramt professionell mit traumatisierenden Erfahrungen um, wie dem tödlichen Unfall einer Konfirmandin während einer Freizeit?

Ich teile persönlich die Arbeits- und Leidenserfahrungen des Autors, bin aber nicht so stark wie er an spirituellen Impulsen und geistlichen Fortbildungsangeboten interessiert. Während ich früher auch Kirchentage oder ähnliche Events als eine Art Glaubenstankstelle empfand, bin ich heute eher der Meinung, dass manche ganz einfachen Dinge aus der Vielfalt der Gemeindearbeit, auch spirituelle Alltagserfahrungen von und mit Nichtprofis etwa auch religiöse Kraftquellen sind. Ich habe mich am Ende der Lektüre gefragt, warum nicht diese Frage der Kraftquelle und der Resilienz aus der expliziten Gotteserfahrung ausdrücklich thematisiert worden ist. Oder wäre dafür eine wiederholte Lektüre nötig, weil ich diese Inhalte zunächst zugunsten der Problemorientierung überlesen habe?

Auch wenn ich die Erfahrung der „Schwere“ mit der Diagnose „Depression“ verbinden kann, fehlen wir einige typische Aspekte dieser Erkrankung. Es fehlt mir im Buch die Neigung depressiver Patienten zum Suizid, die nicht thematisiert wird. Dabei wäre es schon nützlich, Menschen die an Depression erkrankt sind, zu zeigen, wie ein gläubiger Mensch mit Suizidgedanken umgehen würde. Ich kann mich auch nach der Lektüre nicht daran erinnern, das Wort „Burnout“ gelesen zu haben. Was aber je von etwas anderem die Rede?

Die Krankheit Depression kann meiner Meinung nach nicht allein auf die Symptomatik der „Schwere“ reduziert werden. Der positiv klingende Schluss (siehe Anfangszitat) und niederdrückenden Zeiten gehören vermutlich beide zur Erkrankung. Aber wie kann ein Mensch, der in einem Käfig lebt, ein Buch über Freiheit schreiben oder beim Lesen solche Freiheit empfinden?

Der Schluss des Buches ist trotz aller Bündelung im Nachwort im Grunde offen. Das wird gerade mit einem Gedicht von Hilde Domin verdeutlicht, das zeigt: Das Leben will immer neu gelebt werden. In all dem ist explizit und implizit die Frage nach Gott gestellt und sie wird nicht mit religiösen Formeln zugedeckt. So macht Joachim Wehrenbrecht mit seiner autobiografischen Reflexion anderen Mut zu einem schlichten und alltagstauglichen Glauben.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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