Als Dichter nur Narren? Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018

Zu: Katharina Grätz, Sebastian Kaufmann (Hrsg.): Nietzsche als Dichter, Lyrik-Poetologie-Rezeption, Unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller, Milan Wenner, in: Andreas Urs Sommer u. a. (Hrsg.): Nietzsche Lektüren, Band 1, De Gruyter, Berlin/Boston 2017, gebunden, 488 Seiten, ISBN 978-3-11-051888-7 (print), Preis: 129,95 Euro

Die Tagung der „Klassik Stiftung Weimar“ zum Thema „Nietzsche als Dichter“ war als 2. Forum Junger Nietzscheforschung ausgeschrieben und fand vom 23. bis 28. März 2015 in Oßmannstedt bei Weimar statt. Das Tagungsprogramm findet sich im Internet unter http://www.klassik-stiftung.de/uploads/tx_lombkswmargcontent/2._Forum_Junger_Nietzscheforschung___Nietzsche_als_Dichter.pdf.

Die Einführung des Buches geht ganz auf inhaltliche Aspekte ein und lässt Fragen der Edition bzw. einen Rückblick auf die Veranstaltung außen vor. Das Buch enthält 20 Aufsätze, von denen sechs im Tagungsprogramm nicht enthalten sind. Auch ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren mit einer Kurzinfo zur Person fehlt. Am Ende des Buches findet sich allerdings ein Namensregister.Sebastian Kaufmann gibt eine allgemeine Einführung zum Lyrikschaffen Friedrich Nietzsches. Erstaunlich ist bei einer beachtlichen Anzahl von Gedichten im Nachlass und auch verstreut in den Prosawerken, dass Nietzsche nur zwei Lyrikbände selbst ediert hat, die „Idyllen aus Messina“ (1882) und die „Dionysos-Dithyramben“ (1889), wobei letztere erst nach seinem Zusammenbruch erschienen sind.

Obwohl schon während seiner Demenz und auch posthum weitere Gedichtbände erschienen, bleibt umstritten, ob sich Nietzsche selbst als Lyriker verstanden hat. So schreibt Thomas Mann, „Nietzsche sei kein ‚echter‘ Dichter gewesen, weil er dafür zu sehr Denker war.“ (Zit. n. Grätz/Kaufmann, S. 10). Andererseits ist auffällig, dass Nietzsches philosophisches Werk von literarischen und lyrischen Elementen geprägt ist. Gedichte selbst finden sich in Briefen, Entwürfen, Schriften und mehr. Nietzsche hat seine Lyrik der philosophischen Arbeit untergeordnet und ggf. sogar abgewertet, wie er im Gedicht „Nur Narr, nur Dichter“ Lyrik als „lügnerische Wortbrücken“ bezeichnet (vgl. S. 19).

Trotzdem ist er zeitlebens von Lyrik fasziniert und eifert seinem Vorbild Heinrich Heine nach. Von romantischer Jugendlyrik über spöttische Sprüche und Lieder findet er in der letzten Zeit seines Wirkens zur Sprachartistik.

Jugendlyrik, Sprachartistik

Der zweite Beitrag der Mitherausgeberin Katharina Grätz am Ende des Buches widmet sich der Wirkungsgeschichte Nietzsches als Dichter. Viele Literaten des frühen 20. Jahrhunderts sind von Nietzsche begeistert, grenzen sich aber auch von ihm ab. Nietzsches Dichtung gibt Impulse zum Expressionismus, Symbolismus und anderem. Es gibt inzwischen zwei umfangreiche Standardwerke, die die Wirkung Nietzsches in der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert beschreiben. Auffällig ist hierbei, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Lyrik in Mode war, nach 1945 hingegen fast in Vergessenheit geraten ist. Um 1900 galt Nietzsche als Genie, nicht als Denker, während er heute vor allem als Philosoph gilt. Als sein bedeutendstes dichterisches Werk gilt „Also sprach Zarathustras“. Dennoch: Theodor Däubler, Kunstkritiker und Dichter, setzte ihm in seiner „Hymne an Friedrich Nietzsche“ um 1900 ein Denkmal und bezeichnet ihn als Nachfolger des Orpheus.

Da „Also sprach Zarathustra“ sowohl dichterisch als auch philosophisch von Bedeutung ist, sollen im Folgenden einige Aufsätze referiert werden, die dieses Buch zum Thema haben.

Jan Kerkmann untersucht in einem sehr ausführlichen Aufsatz, der nicht Teil des Tagungsprogramms ist, eine literarische Figur im Buch „Also sprach Zarathustra“, im Folgenden kurz „Zarathustra“ genannt, die Figur des Wahrsagers. Einleitend zeigt er die Bedeutung von Figuren im Frühwerk Nietzsches auf, wie „der Heilige, der Künstler und der Philosoph“ (S. 245) und andere. So auch im „Zarathustra“: „Auf diese Weise werden dynamische Elemente integriert, die es erlauben, die Antagonisten und Mitstreiter Zarathustras als Wankelmütige, Schauspieler und Doppeldeutige zu inszenieren, sie als Teilhaber an einem Stimmungsgeflecht […] auftreten zu lassen.“ (S. 247). Der Wahrsager ist einer der „höheren Menschen“, die bereits im 2. Teil eingeführt werden. Dessen Lehre scheint nihilistisch geprägt: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war.“ (Friedrich Nietzsche, Za II., hier S. 251).

Schon recht früh wird von diesem Nihilismus her durch den Wahrsager die Idee des Guten in Frage gestellt. Statt sich auf die Fiktion zu fixieren, sollen die Menschen der Erde treu bleiben, so sollte man die Botschaft dieser Figur zusammenfassen.

Der Aufsatz referiert den entsprechenden Artikel sehr ausführlich, wobei den Träumen und dem „Nothschrei“ eine gewisse Bedeutung zufällt. Hier tritt der Wahrsager als Gegner Zarathustras auf. Er will ihn entlarven, da er jeden Sinn leugnet. Während Zarathustra als Wassertrinker bezeichnet wird, spricht der Wahrsager vom Lebenselixier des Weins. Im Abschnitt „das Zeichen“ will der Wahrsager Zarathustra zu einer letzten „Sünde“ verführen, also seiner Askese abzuschwören.

Jeder Augenblick ist nur die Zeit, die den Sinn des Lebens erfüllt. Interessant ist, dass nun bei Zarathustra aus „Mitleid“ „Entschlossenheit“ wird. (Vgl. S. 270)

Der Schluss ist ein Paukenschlag, die die Deutung des „Zarathustra“ von den Figuren her ermöglicht. Die Figur des Wahrsagers ist laut Kerkmann eine Anspielung auf Arthur Schopenhauer. Der Wahrsager tritt für Lebensbejahung ein. Er ist der erste Nihilist Europas (Vgl. Ebd.). Dass Jan Kerkmann mit dieser literarischen Deutung des „Zarathustra“ zugleich die Tür zur Philosophie öffnet, die sich in der Figur des Wahrsagers verkörpert, macht tatsächlich ein literarisches Werk zu einem philosophischen, wobei durch die Unterscheidung von Figuren und deren Entwicklungen die Philosophie ein Nebeneinander von Positionen zulässt.

Natalie Schulte und Christina Kast nehmen beide ein Gedicht im Blick, dass unter dem Stichwort „Nur Narr, nur Dichter“ in den Dionysos-Dithyramben veröffentlicht ist, aber zugleich, nur wenig verändert, im „Zarathustra“ steht. Natalie Schulte bespricht das Gedicht im Kontext des „Zarathustra“, wo es „Lied der Schwermuth“ heißt. Wozu „Schwermuth“? Ist es der Verlust des „alten Gottes“ (Vgl. S. 275) oder die „Frage, ob ein Dichter an der Wahrheit scheitern muss“ (S. 276), die zur „Schwermuth“ führt?

Vor allem die zweite Strophe scheint den Gegensatz von Dichtung und Philosophie zu verdeutlichen. Dem Dichter unterstellt Zarathustra nur „Buntes“ zu reden, als chaotisch durcheinander. Der Dichter zeigt einen falschen Himmel auf Erden, wird in der dritten Strophe gar zur Raubkatze, in der vierten zum Adler. Der Adler stürzt sich auf die Gläubigen, die „Lämmer“-Seelen. In der sechsten Strophe wird die Religion auf das „Schafmässig(e)‘ im Menschen‘“ zurückgeführt und als „Projektion“ entlarvt (vgl. S. 289).

In der Zusammenfassung wird das Gedicht durch Natalie Schulte zur Deutung des „Zarathustra“ herangezogen: Der Zauberer im Gedicht wird als Verführer und schwermütiger Teufel bezeichnet. Zarathustra nennt den Mut, nicht die Furcht als treibende Kraft des Lebens. Der Zauberer hingegen entlarvt Zarathustra als „lügnerischen, verzweifelten“ Dichter (Vgl. S. 294). Auch er selbst verfügt über Wahrheit. Die Wahrheit aber bleibt auch nach Zarathustras Reden fragwürdig und wird wohl nie mehr objektiv sein können.

Die These von Christina Kast besteht darin, dass im Gedicht „Nur Narr, nur Dichter“ Nietzsche die Philosophie als Dichtung zu begründen versucht. Dies erfolgt in drei Schritten: 1. Destruktion des abendländischen Wahrheitsbegriffs, 2. Umwertung der Wahrheit zur Wahrhaftigkeit und 3. Bezeichnung der Dichtung als Philosophie. Nach diesen drei Schritten folgt eine detaillierte Analyse des Gedichts „Nur Narr, nur Dichter“.

Es sollen nun nur einige Stichworte herausgegriffen werden: So heißt es zu „Wahrheit und Lüge“, dass der Mensch an die Vernunft im Leben glaubt. Wird darin der Glaube an Gott verloren gehen, ist die Wahrheit selbst eine selbstbezogene Illusion geworden. „Aus dem Erkennenden ist ein Schaffender geworden.“ (S. 380). Aus Wahrheitssätzen werden nun Metaphern. Der Mensch muss sich mit dem Leben auf der Erde begnügen. Die Wahrheit ist nicht mehr eine vorhandene Lehre, wie etwa von Gott, sondern kann nur an ihrer Lebensförderlichkeit gemessen werden.  (Vgl. S. 385).

Das Dionysische im Werk Nietzsches ist die Vorstellung der Lebensbejahung, die bedingungslose Annahme des Lebens. (Vgl. S. 387). Unter dieser Voraussetzung wird Dichtung zur Philosophie und Philosophie zur Dichtung. Deren Wille zur Wahrheit ist der Wille zur Macht. (Vgl. S. 392). Zugespitzt muss gesagt werden: Die Dichtung der „Dionysos Dithyramben“ sind Nietzsches philosophisches Hauptwerk.

Nach der Analyse des Gedichts, die nun folgt, zeigt Christina Kast, wie im Gedicht „das innere Durchleben der existentiellen Widersprüchlichkeit“ dargestellt wird (S. 398). Das Prinzip des Lebensbezugs ist der Wille zur Macht. Das Wissen um die Fiktionalität der geglaubten Wahrheit liegt nicht nur in der Religion, sondern in diesem Wissen selbst und wird durch die Dichtung sachgemäß dargestellt. Insofern ist die Dichtung nun Philosophie und umgekehrt.

Zur Rezension: Der Zarathustra ist Philosophie und hat doch mehrere Stimmen. Was ist dabei Nietzsche selbst? Das lässt sich nicht leicht entscheiden. Oder anders gesagt: Zarathustra ist eine künstliche Figur, die nicht notwendig die Meinung Nietzsches wiedergibt.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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