Zur weiteren Vorarbeit zum Ausstellungsbesuch in Hamburg habe ich mir etwas Lesestoff unter medimops.de besorgt, u. a. auch ein gut erhaltene Buch aus dem Jahr 1983:
Konrad Oberhuber: Polarität und Synthese in Raphaels ‚Schule von Athen‘, Urachhaus Verlag, Stuttgart 1983, broschiert, 128 Seiten im Großformat, Glanzpapier, 77 Abbildungen, zumeist Schwarz-Weiß, wenige in Farbe, ISBN: 3878383797, Preis: antiquarisch zu erwerben.
Ich beginne mit einem Zitat:
„Noch in den wenige Jahre früher entstandenen Fresken mit den Darstellungen der freien Künste im Appartamento Borgia im Vatikan, die, wie wir noch sehen werden, sicher eine der Voraussetzungen für Raphaels Werk waren, können wir außer durch Bücher, Aufschriften und Attribute die einzelnen Philosophen, Wissenschaftler, Gelehrten oder Künstler nicht voneinander unterscheiden. Auch bei Raphael bieten im Fresko (d. i. „Die Schule von Athen“, der Rez.) Aufschriften und sonstige Attribute wesentliche Hinweise, aber die einzelnen Gestalten sind zum lebendigen Ausdruck ihrer Gedanken geworden, ihre Handlungen kennzeichnen sie auch ohne Bücher als Menschen, deren Leben in der denkenden und einfühlenden Auseinandersetzung mit der Welt und ihren Problemen besteht. Dieses vollkommene Durchdrungensein von der eigenen Idee gibt den Gestalten die Freiheit, die wesentlich zum polyphonen Reichtum der großen Symphonie der Komposition beiträgt. Es ist dies die neugewonnene Freiheit und Individualität des Menschen der Renaissance, der sich in den freien Menschen der Antike wiedererkannte.“ (Ds. S 39)
Die Arbeit von Konrad Oberhuber ist zeitlos aktuell. In der eher unbedeutenden Industrie- und Wirtschaftsmetropole Mailand findet sich neben dem „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci kaum ein bedeutendes Werk der frühen Neuzeit. Eine Ausnahme ist da der sogenannte „Karton“, eine gigantische Vorzeichnung für das og. Fresko.
Der Karton „misst 2745 = 7950 mm und ist aus etwa 210 Papierstücken zusammengesetzt“. Diese Vorlage des Freskos ist schmaler als das Originalfresko, da sie auf die Figuren fokussiert, die sich insgesamt im Mittelteil des (gemalten) Gebäudes befinden. Gebäudeskizzen sind zwar auch enthalten, aber nicht als geschlossene Abbildung.
Die Bilder wurden vom Karton mit einer Durchstechmethode auf das Original übertragen, aber auch in einer gewissen Freiheit. Die Vorlage ist nicht immer mit dem Original identisch.
Im gesamten Buch wird das oben beschriebene Ergebnis detailliert dargestellt und dabei immer wieder der Karton mit dem Original und anderen Werken verglichen. Dazu zählen neben Vorentwürfen auch das zuvor entstandene Fresko, die sogenannte „Disputa“, ein ebenso großes Wandgemälde, das in den vatikanischen Museen der „Schule von Athen“ genau korrespondiert.
Es soll eine theologische Diskussion über das Abendmahl darstellen und zeigt die christliche Religion aufgeteilt in Himmel und Erde.
Mich wundert ja immer, wieso die Diskussionen um Luthers Reformation und gerade der Streit zwischen dem Vatikan und den Fürsten in der Kunst der Renaissance kaum Widerhall findet, doch taucht ganz am Ende der Ausführungen Oberhubers ein Motiv auf, zu dem Luther später Stellung beziehen wird: Im Jahr 1512 (gerade 5 Jahre vor der reformatorischen Entdeckung) wird in Rom ein Dogma beschlossen, die „Unsterblichkeit der Seele“, basierend auf der platonischen Philosophie.
Während bei Raffael noch Platonismus und Aristotelismus zur Einheit zu finden scheint, überwiegen in der damaligen Gegenwart die Gegensätze. Der Aristoteliker Pomponazzi „Über die Unsterblichkeit der Seele“, widerlegte die päpstliche Doktrin, und zeigte so schon den Weg in die Neuzeit auf in ihrer „Herauslösung aus dem einheitlichen religiösen Weltbild des Mittelalters.“ (S. 114).
Hier tritt nach Rudolf Oberhuber Rudolf Steiner auf den Plan und erinnert an eine die Vielzahl einzelner Bestrebungen vereinende philosophische Debatte, wobei Steiner m. W. einen interreligiösen Dialog verfolgt, der auch den Buddhismus und den Hinduismus einbezieht und damit die Debatte eher weitet als neu christlich verengt.
Implizit wird hier also schon der Blick auf die Wirkungsgeschichte Raffaels frei, obwohl es ja zunächst um die Entstehung gehen sollte. Aber diese Entstehung war eben nicht nur die Meisterleistung eines künstlerischen Genies, sondern auch eine gute inhaltliche-philosophische Zeitansage. Im Gegensatz zur „Disputa“ ist der Himmel in der „Schule von Athen“ offen, soweit man es aus dem Gebäude heraus sehen kann. Hier ist eine lebendige Diskussion im Gang, in der dogmatische Festlegungen kaum nützlich zu sein scheinen. Aber ob dieser Hinweis von Papst Julius dem II. und Leo X., seinem Nachfolger, verstanden wurde, müssen wir nicht beurteilen.