„Der Widersacher“ ist ein guter Einstiegsroman in den carrèreschen Kosmos, da er zügig und ohne viele assoziativen Sprünge eine (wahre) Geschichte erzählt.
Zwar schleicht sich Carrères Ich auch schon in diesem Roman ein, ja, es ermöglicht ihm überhaupt das Erzählen – man achte auf den ersten Satz des Romans –, aber die existentielle Dramatik seines Ich-Erzählstils ist hier noch längst nicht so weit entwickelt, wie ich sie in „Ein russischer Roman“ oder in „Das Reich Gottes“ schätzen und lieben gelernt habe.
Den „Widersacher“ in der gewohnt guten und inzwischen ebenso vertrauten Übersetzerin Claudia Hamm in den Händen zu halten, ist ein schönes Gefühl, auch wenn es mich gruselt, dass der vielfache Familienmörder Jean Claude Romand inzwischen wieder auf freien Fuß ist. Carrère versteht es, den Leser immer tiefer in seine Geschichte hineinzuziehen. Er zwingt den Leser, sich zu positionieren und den „Widersacher“ in sich selbst wahr zu nehmen.
Bei aller Rätselhaftigkeit der menschlichen Seele, geht es um die Annäherung einen Menschen in seinen Handlungen zu verstehen. Wohlgemerkt es geht nicht um Verständnis und einer etwaigen Stilisierung des Täters zum Opfer. Dieser Balanceakt gelingt Carrère, auch wenn die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass er dem Täter mit dem Buch eine große Bühne verschafft.
Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz, die Erschütterung des Vertrauens, die Sehnsucht danach geliebt zu werden, die Frage nach dem Bösen und dem Guten, der Trost und die Vertröstung des Glaubens sind Themen, die bei Carrère nicht nur im „Widersacher“ zur Sprache kommen. Ein Stoff, nichts für schwache Gemüter, aber die Augen verschließen hilft nicht weiter: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ sagt zurecht Ingeborg Bachmann. In diesem Geist ist „Der Widersacher“ geschrieben.
„Das Reich Gottes“ nennt Carrère sein Hauptwerk. Über sieben Jahre hat der französische Schriftsteller, Regisseur und Filmprodozent an seinem magnum opus geschrieben. Auf über fünfhundert Seiten nimmt Carrère seine Leserinnen und Leser mit in seine Auseinandersetzung über den christlichen Glauben, in gewohnt carrèrescher Manier.
Neben seinem starken Interesse an historischen Prozessen und einem breiten Wissen über die Entstehung des Neuen Testaments in der Antike, gibt er Einblick in seine existentiellen Glaubenskrisen, seine Bekehrung zum Katholizismus und seine Abkehr von demselben. Darüber zu schreiben fällt ihm nicht leicht, er schämt sich seiner katholischen Phase, protokolliert jedoch seine Hinwendung zum Glauben und sein altes wie sein neues Ich überzeugend.
Auch wenn der Glaube an die Auferstehung an seiner Vernunft abprallt, spürt er der Faszination der Erzählung der ersten Christinnen und Christen nach. Dort, wo der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte vom distanzierten Bericht über die Gründung der ersten christlichen Gemeinde ohne Ankündigung in einen Erlebnisbericht als Mitreisender auf Paulus Missionsreise wechselt, klinkt der Schriftsteller Carrère sich ein und sein Interesse wird entfesselt.
Einfühlsam zeichnet er die Biographie des hellenistisch gebildeten Lukas nach. Neben seiner – fast möchte ich sagen heimlichen – Liebe zu Lukas, den er auch dem Jakobusbrief als Verfasser zuordnet, nähert er sich dem größten frühen Theologen der Christenheit, Paulus, in all seiner Widersprüchlichkeit an. Die Konflikte der judenchristlichen Gemeinde mit der paulinischen Lehre treten plastisch zutage – besser als in jeder neutestamentlichen Vorlesung. Zu seinem Verfahren bemerkt Carrère süffisant, dass alle Bibelexegeten die Schriften auf ihre Weise lesen und interpretieren.
Dass „Das Reich Gottes“ nicht nur eine gut lesbare Einführung in die Entstehung einer neuen Religion ist oder gar in historischen Betrachtungen stecken bleibt, kommt durch Carrères Drang nach existentieller Wahrheit und seinem Gegenwartsbezug. „Das Reich Gottes“ ist eine radikale Verschränkung und Durchdringung von Historie, Erzählung und einem endlichen, modernen Ich.
Carrère spürt wie ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher dem Essentiellen nach und bringt es zu Tage. Daher überzeugt mich auch der Titel des Werks, denn es geht Carrère letztlich um die Liebe, um das Verhältnis zum Gegenüber, zum Nächsten und zur Welt. Der Roman ist eine große Würdigung der (Liebes-)Kräfte, die im Glauben schlummern und sich immer wieder entfalten.
Carrère ist – wenn man so will – ein warmer Agnostiker, der mit seiner Ratio nicht nur seziert, sondern um die Kraft der Erzählung weiß und deshalb nicht aufhört zu erzählen. Am Ende des Buches berichtet Carrère, wie er der Einladung einer kleinen christlichen Kommunität folgt, die am Gründonnerstag das Ritual der Fußwaschung vollzieht. Es ist eine Kommunität, die es sich im Geist des Evangeliums zur Aufgabe gemacht hat, ihr Leben mit Menschen mit Behinderungen zu teilen. Hier gibt es nicht oben und unten, gebildet oder ungebildet, reich oder arm, hier gibt es nur Kinder Gottes.
Carrère fasst sein Erlebnis, einander die Füße zu waschen, so zusammen: „Und obwohl ich es etwas peinlich finde, finde ich es auch schön, dass Leute zu diesem Zweck zusammenkommen, um dem so nahe wie möglich zu sein, was das Bedürftigste und Verletzlichste in der Welt und in ihnen selbst ist. Das ist Christentum, sage ich mir.“(505) Und er erkennt, „dass ich an diesem Tag einen Augenblick flüchtig erahnt habe, was das Reich Gottes ist.“(526)
Wer „Das Reich Gottes“ zur Hand nimmt, braucht einen langen Atem. Der Roman hat etwas von einem Dedektivroman und ist doch viel mehr: Es ist ein Buch voller Weisheit, es ist ein Ringen um Wahrheit. Ich hoffe, es wird ein Klassiker. Das Zeug dazu hat es.
Bevor ich meinen kurzen Bericht starte, möchte ich mich kurz bei Greta entschuldigen: Es tut mir leid!
Spaß beiseite, nachdem ich meine Blogger-Akkreditierung erhalten hatte und mehrtätige Ausflüge wegen notwendiger Hunde-Betreuung unmöglich waren, bin ich heute zur Frankfurter Buchmesse gefahren.
Daneben tut es mir leid, da dieser Bericht nicht wirklich zu einem Religionsblog passt. Den Ständen der entsprechenden Verlage habe ich leider weniger Beachtung geschenkt. Es handelt sich eher um einen allgemeinen Bericht über die Messe.
Zurück zum Inhalt
Wieso entschuldige ich mich also bei Greta? Nicht etwa wegen Papier und Tropenholz, sondern weil ich mit dem Auto gefahren bin. Leider gibt es zwischen Dortmund und Frankfurt noch keine ICE Direktverbindung (~4 Stunden Bahn vs. 2 Stunden Auto). Von den Ticket-Kosten ganz zu schweigen – davon hätte ich den Tank mehr als füllen können, vermutlich zweimal. Für eine Strecke von eigentlich nur 200 Kilometern völlig überzogen. Vielleicht wird in einigen Jahrzehnten ja doch nochmal eine Schnelltrasse zwischen dem Ruhrgebiet und Frankfurt gebaut… Eigentlich bin ich der Bahn nicht abgeneigt, wenn Preis und Fahrtzeit stimmen.
Die Ankunft
Nach etwa 2 Stunden komme ich also am Parkhaus an. Zufahrt und Verkehrsführung funktionierten reibungslos, und schon nach wenigen Minuten mache ich mich vom Auto in Richtung des Shuttle-Bus auf. Zu meiner freudigen Überraschung stelle ich am Ausgang des Parkhauses fest, dass ich als Blogger keine Parkgebühren zahlen muss. Ein sehr feiner Zug! Der Bus steht schon bereit, und es geht zu den Hallen los. Schon im Bus fallen die Massen an Cosplayern auf. (Wem das nichts sagt: Menschen, meist Jugendliche oder junge Erwachsene, die sich wie ihre Lieblings-Zeichentrickhelden kostümieren. Einige Kostüme waren sehr gut gemacht, andere Cosplayer beeindruckten eher durch ihren Mut…)
Halle 3
Nach kurzer Einlasskontrolle ging es direkt mit Halle 3 los. Und wie… Ich neige nicht zu Klaustrophobie oder Panikattacken, bin nach der Loveparade in Dortmund aber etwas vorbelastet (in Duisburg war ich damals – Gott sei Dank – nicht). Jedenfalls war die Halle bedenklich überfüllt und es herrschten Subtropische Temperatur und Luftfeuchtigkeitsverhältnisse.
Mal ein ernstes Wort: Gut besucht ist ja toll, der Füllstand ging aber leider in Richtung „unverantwortlich“. Bei einem Knall oder einem Unfall mit Messestand-Requisiten hätte es leicht Verletzte und Tote geben können. Ab einem gewissen Füllstand gehören Hallen meiner Meinung nach abgeriegelt – oder Besucherströme müssen besser geführt werden – zahlende Standbesitzer hin oder her.
Dennoch nahm ich allen Mut zusammen und machte mit meiner Besichtigungsrunde weiter.
Der goldene Haufen
Halle 3 hatte auch direkt das erste Skurrile Highlight:
Ein japanischer Schulbuchverlag warb in Halle 3, wo normalerweise Belletristik, Comics und Kinderbücher gezeigt werden, mit einer Schulbuch-Reihe, in der sich alles um Haufen dreht. (Also die, die man auf der Toilette lässt.)
Kindern mit Spaß zum Lernen zu animieren halte sich eigentlich für eine gute Idee – das geht für meinen Geschmack dann aber doch eine Spur zu weit. Highlight des Standes war ein goldener Haufen. Das Titelbild möchte ich Euch ebenso nicht vorenthalten, ebenso wie den goldenen Haufen:
Mal im Ernst, an mir nagen ersthafte Zweifel, ob das auch ein Modell für deutsche Grundschulen ist. Die japanischen Standbetreiber scheinen von dem Konzept aber überzeugt zu sein, der Stand ist durchaus groß und in exponierter Lage, fast einen Steinwurf von großen Verlagen wie Carlsen entfernt. Ich möchte dennoch den Mut der Betreiber würdigen – das hätte ich mich nicht getraut, weder in ökonomischer Hinsicht, noch in irgendeiner anderen.
Langsam wurde es mir in Halle 3 dann doch zu voll. Ähnlich wie samstags auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt versuchte ich also weitestgehend mit dem Strom zu einem der Ausgänge zu schwimmen.
Die Agora
Auch im Innenhof bemerkte man die Besucherströme, durch die größere Fläche verlief die Massen sich aber ein wenig. Die Warteschlangen an Ständen und Versorgungsstationen waren aber beachtlich. Wieder wurde deutlich, wie sehr Cosplayer inzwischen das Bild der Messe prägen, obwohl Comics bei den Bücherständen eher schwach repräsentiert waren. Die Currywurstbude lockte zwar schon, ich entschied mich aber trotzdem erstmal für Halle 4.
Halle 4.0
Wie üblich hatte ich noch leichte Orientierungsprobleme und meinte deshalb, Halle 4 über Halle 3 betreten zu müssen, anstelle 200 Meter weiter den direkten Eingang zu benutzen… nach einem kurzen Schlenker über Halle 3.1 ging es also mit Halle 4 weiter. Dort waren in diesem Jahr asiatische Verlage, Druckdienstleister und der Cosplay-Bereich angesiedelt. Wieder wurde man von Menschenmassen geradezu erschlagen, todesmutig stürzte ich mich dennoch erneut hinein. Den Papeterie-Bereich empfand ich als etwas klein geraten. Eigentlich gehören Schreibwaren für mich zur Literatur dazu, das scheine ich aber offenbar alleine so zu sehen. Beim Stand des Leuchtturm-Verlages (ist ein Hersteller von Notizbüchern eigentlich ein Verlag?) gab es ein paar gute Angebote, sodass ich zwei Notizbücher mitnahm. Eines der Bücher soll mit Hilfe einer App die Digitalisierung der Seiten erleichtern – das werde ich einmal ausprobieren müssen. Weiter ging es zu Asiatischen Verlagen und dem Comic-Bereich. Hier wurde es mir jedoch langsam zu voll – der Füllstand, speziell in diesem Bereich, übertraf noch einmal den von Halle 3. Langsam fing mein Magen an zu knurren, ich schlenderte also in Richtung der Agora zurück.
Gary Hall, Detlev Cuntz (Hg.): Das Menschenbild als Abbild Gottes bewahren, Beiträge zu Thomas Merton, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, Paperback, 148 Seiten, ISBN: 978-3-7365-0219-2, Preis: 20,00 Euro
Dieses Buch über die Thomas Merton-Tagung im Januar 2019 in Münsterschwarzach ist vollständig sowohl in deutscher als auch englischer Sprache erschienen. Die englischen Beiträge sind in der deutschen Ausgabe übersetzt und umgekehrt die deutschen in der englischen Ausgabe. Die Tagung erinnerte an den 50. Todestag des amerikanischen Ordensgeistlichen Thomas Merton (1915 – 1968), der am 10.12.1968 im Alter von 53 Jahren plötzlich und unerwartet an einem Stromschlag gestorben ist, den er sich in einem Hotel in Asien zuzog. Erst im Jahr 1965 ist der bekannte Schriftsteller und engagierte Geistliche aus dem Kloster und in eine Einsiedelei eingezogen.
Obwohl sich Thomas Merton in den 1960er Jahren in der Antikriegsbewegung und der Bürgerrechtsbewegung einen Namen gemacht hat, ist er u. E. relativ unbekannt geblieben. In der Literatur taucht allerdings auf, dass er die Theolog*innen Dorothee Sölle, Ernesto Cardenal und andere Theologen der Befreiungstheologie beeinflusst hat. Ein weiterer politisch engagierter Theologe, der aber zu Lebzeiten keinen Kontakt zu Thomas Merton hatte, war Karl Barth, dessen Todestag ebenfalls auf den 10. Dezember 1968 fällt. Barth ist im heimatlichen Basel in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember im Alter von 82 Jahren friedlich verstorben.
Das Jahr 1968 ist weiterhin das Jahr des Todes von Martin Luther King und eines der meisten Aktionen der internationalen Studentenbewegung.
Zu: Frank Voigt, Nicos Papadakis, Jan Loheit, Konstantin Baehrens (Hg.): Material und Begriff, Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins, Argument Sonderband Neue Folge AS 322, Argument Verlag Hamburg 2019, 319 Seiten, Softcover, ISBN: 978-3-86754-322-4, Preis: 24,00 Euro,
„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.”(Walter Benjamin, Passagenwerk)
Mit Benjamin unterwegs – zu Orten, Personen, Literaturen, in die Geschichte. Auf den Spuren Benjamins – buchstäblich und sinnbildlich: auf dem Weg und Methode. Was am Wegesrand vorzufinden ist: Geschichte(n), Literatur, Gespräche als Material – buchstäblich und sinnbildlich: inmitten von Text-Gebirgen und Montagen. Sagen oder zeigen, inventarisieren oder verwenden, das ist der Gegensatz von Deuten und Sehen, von Auf-den-Begriff bringen und anerkennen, von Aneignen und Zu-ihrem-Recht-kommen-lassen. Das Material hat seine eigene Sprache – das Ästhetische hat seine eigene Rationalität – die sich entzieht, die widerspenstig ist, die die Lücke markiert zum Begriff, zum nicht einholbaren Rest, der wieder und wieder nicht aufgeht im Begriff. Vor der „Anstrengung des Begriffs“ kommt bei Benjamin das „Materialstudium“. Es geht ihm um eine „historisch-kritische Materialgerechtigkeit“, um eine „Entfaltung des Begriffs am Material“ – eine Konzeption von Utopie, in der das Abwesende im Anwesenden zur Sprache kommt. So wird in der Montage des Materials die Konstruktion sichtbar und in der Konstruktion der Bruch zwischen Material und Begriff. Und mit Benjamin unterwegs sein und dem Material eingedenk sein heißt, den Bruch zwischen Biographischem und Historischen sichtbar machen im wechselseitigen Prozess zwischen Individualisieren und Historisieren.
Mit Benjamin auf dem Weg sein, seiner Spur folgen, sich im Vorübergehen zuwenden – und eine Parallele zwischen Passage und Pessach scheint auf: „Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll für euch ein Zeichen sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen, wenn ich das Land Ägypten schlage.“ (2. Mose, 12,13) – vom Kopf auf die Füße gestellt, kann der nicht vorübergehen, der nicht das Blut sieht, der nicht Leid, Schmerz und Gewalt eingedenk ist. Benjamins Arbeit ist die Arbeit dessen, der dem eingedenk ist. (MC.)
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