Greta Thunberg: Rede im britischen Parlament, „Wir haben keine Ausreden mehr“

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Anstelle eines passenden Fotos verweise ich auf mit dem Link auf Fotos von Greta Thunberg auf Instagram. Die Veröffentlichung der Rede erfolgt mit Erlaubnis der Blätter für deutsche und internationale Politik.

»Wir haben keine Ausreden mehr«

von Greta Thunberg

Nach ihren viel beachteten Reden auf der UN-Klimakonferenz im Dezember 2018 und beim Weltwirtschaftsforum im Januar 2019 ist die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg zahlreichen weiteren Einladungen für öffentliche Auftritte gefolgt, zuletzt unter anderem bei Papst Franziskus. Wir dokumentieren nachfolgend in deutscher Erstveröffentlichung einen Vortrag, den Thunberg am 23. April im britischen Parlament gehalten hat und in dem sie ihre klimapolitischen Vorstellungen ausführlicher darlegt als bislang. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel. – D. Red.

Mein Name ist Greta Thunberg. Ich bin 16 Jahre alt. Ich komme aus Schweden. Und ich spreche im Namen der kommenden Generationen.

Ich weiß, dass viele von Ihnen uns nicht zuhören wollen – Sie sagen, wir wären bloß Kinder. Aber wir wiederholen nur die Botschaft der vereinten Klimaforscher. Viele von Ihnen scheinen besorgt, dass wir kostbare Unterrichtszeit verpassen. Aber ich versichere Ihnen, wir gehen wieder in die Schule, sobald Sie auf die Wissenschaft hören und uns eine Zukunft geben. Ist das wirklich zu viel verlangt?

Im Jahr 2030 werde ich 26 Jahre alt sein und meine kleine Schwester Beata 23, so wie viele Ihrer Kinder und Enkel. Das ist ein tolles Alter, hat man uns gesagt, wenn man das ganze Leben noch vor sich hat. Ich bin mir aber nicht sicher, dass es für uns so toll werden wird. Ich hatte das Glück, zu einer Zeit und an einem Ort geboren zu werden, wo uns jeder sagte, wir sollten nach den Sternen greifen: Ich konnte werden, was immer ich wollte. Ich konnte leben, wo immer ich wollte. Menschen wie ich hatten alles, was sie brauchten – und mehr. Dinge, von denen unsere Großeltern nicht einmal zu träumen wagten. Wir hatten alles, was wir uns jemals wünschen konnten. Doch jetzt haben wir vielleicht gar nichts.

Jetzt haben wir möglicherweise nicht einmal mehr eine Zukunft. Denn diese Zukunft wurde verkauft, damit eine kleine Zahl von Menschen unvorstellbar viel Geld verdienen konnte. Sie wurde uns jedes Mal gestohlen, wenn Sie sagten, der Phantasie seien keine Grenzen gesetzt und dass man ja nur einmal lebe.

Sie haben uns belogen. Sie haben uns falsche Hoffnungen gemacht. Sie haben uns erzählt, die Zukunft sei etwas, worauf wir uns freuen könnten. Und das Traurigste ist, dass sich die meisten Kinder nicht einmal bewusst sind, welches Schicksal uns erwartet. Wir werden es nicht begreifen, bevor es zu spät ist. Und doch gehören wir noch zu den Glücklichen. Jene, die es besonders hart treffen wird, leiden schon jetzt unter den Konsequenzen. Aber ihre Stimmen werden nicht gehört.

Ist mein Mikro an? Können Sie mich hören?

Um das Jahr 2030 – in zehn Jahren, 252 Tagen und zehn Stunden von heute aus – werden wir eine irreversible Kettenreaktion jenseits menschlicher Kontrolle ausgelöst haben, die höchstwahrscheinlich zum Ende unserer Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Es sei denn, dass in diesem Zeitraum permanente und beispiellose Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen stattgefunden haben, darunter eine Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 50 Prozent. Beachten Sie bitte, dass diese Kalkulationen von Erfindungen abhängen, die noch nicht in größerem Umfang gemacht wurden, Erfindungen, die die Atmosphäre von astronomischen Mengen an Kohledioxid befreien sollen. Außerdem beinhalten diese Kalkulationen keine unvorhergesehenen Kipppunkte und Rückkoppelungsschleifen wie das extrem starke Methangas, das aus dem rapide tauenden arktischen Permafrost entweicht. Überdies enthalten diese wissenschaftlichen Kalkulationen nicht die verborgene Erderwärmung, die derzeit durch die toxische Luftverschmutzung verhindert wird. Nicht zuletzt fehlt in ihnen der Aspekt der Fairness – oder Klimagerechtigkeit –, der überall im Pariser Klimavertrag deutlich zu finden ist und der absolut notwendig ist, damit das Abkommen global funktionieren kann.

Wir müssen auch berücksichtigen, dass es sich hierbei nur um Kalkulationen handelt. Schätzungen. Das heißt, diese „Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt“ können etwas früher oder später als 2030 auftreten. Niemand kann das sicher wissen. Wir können uns allerdings sicher sein, dass sie etwa in diesem Zeitraum auftreten werden, da diese Kalkulationen keine Meinungen oder ins Blaue hinein geraten sind. Diese Projektionen stützen sich auf wissenschaftliche Tatsachen, auf die sich alle Länder über den IPCC geeinigt haben. Nahezu jede einzelne bedeutsame wissenschaftliche Organisation auf der Welt unterstützt die Arbeit und die Ergebnisse des IPCC vorbehaltlos.

Haben Sie gehört, was ich gerade gesagt habe? Ist mein Englisch okay? Ist das Mikro eingeschaltet? Denn langsam beginne ich mich zu wundern.

In den letzten sechs Monaten bin ich hunderte Stunden mit Zügen, Elektroautos und Bussen durch Europa gereist und habe diese lebensverändernden Worte unzählige Male wiederholt. Aber niemand scheint darüber zu sprechen und nichts hat sich verändert. Tatsächlich steigen die Emissionen nach wie vor. Bei meinen Reisen durch verschiedene Länder wird mir immer Hilfe angeboten, um über die spezifische Klimapolitik spezifischer Länder zu schreiben. Aber das ist nicht wirklich nötig. Denn das grundlegende Problem ist überall das gleiche. Und das grundlegende Problem besteht darin, dass im Grunde nichts getan wird, um den klimatischen und ökologischen Zusammenbruch aufzuhalten – oder wenigstens abzuschwächen –, trotz all der schönen Worte und Versprechungen.

Großbritannien ist allerdings sehr speziell, nicht nur wegen seiner atemberaubenden historischen Kohlenstoff-Schuld, sondern auch wegen seiner aktuellen, sehr kreativen Kohlenstoffberechnung. Seit 1990 hat Großbritannien laut dem Global Carbon Project eine 37prozentige Reduktion seiner territorialen CO2-Emissionen erreicht. Und das klingt sehr eindrucksvoll. Aber diese Zahlen beinhalten nicht die Emissionen aus Luft- und Schifffahrt sowie jene aus dem Im- und Export. Bezieht man diese Nummern ein, liegt die Reduktion laut dem Rechercheverbund Tyndall Manchester bei rund zehn Prozent seit 1990 – oder bei durchschnittlich 0,4 Prozent im Jahr. Und diese Reduktion resultiert nicht zur Hauptsache aus den Konsequenzen von Klimapolitik, sondern eher aus einer EU-Direktive zur Luftqualität von 2001, die Großbritannien im Grunde zwang, seine sehr alten und extrem schmutzigen Kohlekraftwerke zu schließen und sie durch weniger schmutzige Gaskraftwerke zu ersetzen. Der Wechsel von einer desaströsen Energiequelle zu einer etwas weniger desaströsen bringt natürlich sinkende Emissionen mit sich.

Aber vielleicht ist das gefährlichste Missverständnis bei der Klimakrise, dass wir unsere Emissionen „senken“ müssen. Denn das ist bei weitem nicht genug. Wenn wir unter einer Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad bleiben wollen, müssen wir unsere Emissionen stoppen. Das „Senken der Emissionen“ ist natürlich notwendig, aber es ist nur der Anfang eines schnellen Prozesses, der innerhalb von ein paar Jahrzehnten oder früher zu einem Stopp führen muss. Und mit „Stopp“ meine ich Netto-Null – und dann schnell weiter zu negativen Zahlen. Dann ist der größte Teil der heutigen Politik nicht mehr möglich.

Der Umstand, dass wir über das „Senken“ statt über das „Stoppen“ der Emissionen sprechen, ist vielleicht die größte Kraft hinter dem Business as usual. Großbritanniens gegenwärtige Unterstützung für die neue Ausbeutung fossiler Brennstoffe – beispielsweise Großbritanniens Schiefergas-Fracking-Industrie, die Erweiterung seiner Öl- und Gasfelder in der Nordsee, den Ausbau von Flughäfen sowie die Planungserlaubnis für eine brandneue Kohlenmine – ist mehr als nur absurd. Dieses anhaltende unverantwortliche Verhalten wird in der Geschichtsschreibung zweifellos als eines der größten Versagen der Menschheit erinnert werden.

Die Leute sagen mir und den anderen Millionen Schulschwänzern immer, dass wir stolz auf uns sein sollten, für das, was wir erreicht haben. Aber das Einzige, worauf wir schauen müssen, ist die Emissionskurve. Und so leid es mir tut, aber sie steigt immer noch. Diese Kurve ist das Einzige, worauf wir schauen sollten. Jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung treffen, sollten wir uns fragen: Wie wird diese Entscheidung diese Kurve beeinflussen? Wir sollten unseren Wohlstand und Erfolg nicht länger am Diagramm, das das Wirtschaftswachstum anzeigt, messen, sondern an der Kurve, die die Emission von Treibhausgasen anzeigt. Wir sollten nicht länger nur fragen: „Haben wir genug Geld, um damit weiterzumachen?“, sondern auch: „Haben wir ausreichend freies Kohlenstoffbudget, um damit weiterzumachen?“ Das sollte und muss das Zentrum unserer neuen Währung werden.

Viele Leute sagen, wir hätten keine Lösung für die Klimakrise. Und sie haben recht. Denn wie sollten wir auch? Wie „löst“ man die größte Krise, der sich die Menschheit jemals gegenübersah? Wie „löst“ man einen Krieg? Wie „löst“ man es, zum ersten Mal zum Mond zu fliegen? Wie „löst“ man es, etwas Neues zu erfinden? Die Klimakrise ist sowohl das einfachste als auch das schwerste Problem, dem wir uns jemals gegenübersahen. Leicht ist es deshalb, weil wir wissen, was wir tun müssen. Wir müssen die Emission von Treibhausgasen stoppen. Schwer, weil unsere aktuelle Wirtschaft immer noch völlig abhängig von der Verbrennung fossiler Energieträger ist und damit Ökosysteme zerstört, um immerwährendes Wirtschaftswachstum zu schaffen.

„Wie genau lösen wir das also?“, fragen Sie uns – die Schulkinder, die für das Klima streiken. Und wir sagen: „Das weiß niemand genau. Aber wir müssen aufhören, fossile Energieträger zu verbrennen, und die Natur wiederherstellen und viele andere Dinge tun, die wir noch nicht ergründet haben mögen.“ Dann sagen Sie: „Das ist keine Antwort!“ Also sagen wir: „Wir müssen anfangen, die Krise wie eine Krise zu behandeln – und handeln, selbst wenn wir noch nicht alle Lösungen haben.“ „Das ist immer noch keine Antwort“, sagen Sie. Dann sprechen wir über Kreislaufwirtschaft und Renaturierung und die Notwendigkeit eines gerechten Übergangs. Und dann verstehen Sie nicht, worüber wir reden. Wir sagen, dass niemandem alle benötigten Lösungen bekannt sind und wir uns deshalb hinter der Wissenschaft versammeln müssen und diese Lösungen auf dem Weg finden müssen. Aber Sie hören nicht darauf. Denn dies sind die Antworten zur Lösung einer Krise, die die meisten von Ihnen nicht einmal vollständig begreifen – oder begreifen wollen.

Sie hören nicht auf die Wissenschaft, weil Sie sich nur für Lösungen interessieren, die Sie in die Lage versetzen, weiterzumachen wie bisher. So wie jetzt. Und diese Antworten gibt es nicht mehr. Weil Sie nicht rechtzeitig gehandelt haben.

Um den Zusammenbruch des Klimas zu verhindern, braucht es ein Kathedralen-Denken: Wir müssen den Grundstein legen, obwohl wir noch nicht genau wissen, wie genau wir das Dach bauen sollen. Manchmal werden wir einfach einen Weg finden müssen. Sobald wir uns entscheiden, etwas zu erfüllen, können wir alles erreichen. Und ich bin mir sicher: Sobald wir uns verhalten, als hätten wir einen Notstand, können wir die klimatische und ökologische Katastrophe vermeiden. Die Menschen sind sehr anpassungsfähig: Wir können das immer noch in Ordnung bringen. Aber die Möglichkeit dazu wird nicht mehr sehr lange gegeben sein. Wir müssen heute beginnen. Wir haben keine Ausreden mehr.

Wir Kinder opfern nicht unsere Ausbildung und unsere Kindheit, damit Sie uns sagen, was Sie für politisch möglich halten, in dieser Gesellschaft, die Sie geschaffen haben. Wir gehen nicht auf die Straße, damit Sie Selfies mit uns machen und uns erzählen, dass Sie wirklich bewundern, was wir tun.

Wir Kinder tun dies, um Sie, die Erwachsenen, aufzuwecken. Wir Kinder tun dies, damit Sie Ihre Differenzen beiseite schieben und endlich so handeln, wie Sie es in einer Krise tun würden. Wir Kinder tun dies, weil wir unsere Hoffnungen und Träume zurückhaben wollen.

Ich hoffe, mein Mikrofon hat funktioniert. Ich hoffe, Sie alle konnten mich hören.

(aus: »Blätter« 6/2019, Seite 59-63)

 

Wir müssen die Wissenschaft schützen! – Intellektuelle Unredlichkeit am Beispiel der neusten Debatte über die Gefahren der Luftverschmutzung, Lars Jaeger, Freiburg 2019

Foto: Niklas Fleischer, Ort des Fotos ist Hamburg

Wie wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit einem Mal in das Zentrum einer heftigen politischen Diskussion geraten, erlebten wir jüngst mit der Debatte um die gesundheitlichen Folgen von Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxiden. Ausgelöst wurde sie durch die Publikation eines Positionspapiers des Pneumologen (Lungenforschers) Dieter Köhler zusammen mit dem lange in der Automobilindustrie tätigen Ingenieurwissenschaftler Thomas Koch vom 22. Januar 2019.

In ihrem zweiseitigen Papier, das eher die Form einer Presseerklärung als einer wissenschaftlichen Stellungnahme oder gar Forschungsstudie hat, behaupten die Autoren keck, dass die von diversen Gesundheitsorganisationen (darunter die Weltgesundheitsorganisation WHO) geteilten Ansichten zu Gesundheitsgefährdungen durch Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxide einer soliden wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Die vielen Studien zu den Gefahren von Luftverschmutzung hätten grosse Schwächen, die herangezogenen Daten seien einseitig interpretiert worden, und ganz generell seien die Stickoxidforscher parteiisch, so die Autoren. Harter Tobak. Wäscht hier endlich mal jemand der wissenschaftlichen Gemeinschaft den Kopf und erklärt uns, wie es wirklich ist? Die aufgestellten Behauptungen wiegen derart schwer, dass man erwarten sollte, dass sie auch mit entsprechend validen und starken Argumenten, bestenfalls harten wissenschaftlichen Belegen untermauert werden. In diesem Fall wäre eine solche Stellungnahme wünschenswert und würde der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Debatte in dieser wichtigen Frage sehr helfen. Schliesslich ist das Thema um die mit dem Verkehr verbundenen gesundheitlichen Belastungen im Auto-Land Deutschland und den jüngsten Manipulationsskandalen von VW und Konsorten besonders brisant. Doch hier herrscht leider komplette Fehlanzeige: Statt der erwarteten wissenschaftlichen Belege begeben sich die Autoren in eine peinliche Scheindebatte mit teils haarsträubenden Begründungen, die doch sehr an die Argumentationsmuster von Klimawandelleugnern und Tabaklobbyisten erinnern. Betrachten wir sie im Folgenden im Einzelnen.

Als erstes ziehen Köhler und Koch das banale Argument heran, dass Korrelationen keine Kausalitäten darstellen. Wir kennen diese Aussage aus anderen wissenschaftsskeptischen Zirkeln. Was sie für viele Menschen so verführerisch macht, ist, dass sie wahr ist, auch wenn sie gar keine Anwendung findet. Natürlich können wir aus einer Datenstudie, die uns Korrelationen aufzeigt, niemals ganz sicher auf Kausalitäten schliessen. Wer das behauptet (oder als Kritikpunkt an einer bestehenden Auffassung anführt), hat das Wesen der Wissenschaft nicht begriffen. So wie eine wissenschaftliche Theorie niemals mit dem Anspruch auf letzte Wahrheit auftreten kann, sind Beobachtungen und Daten niemals letztbegründend für kausale Verbindungen. Allerdings darf durchaus von einer Kausalität ausgegangen werden, respektive von der Richtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie (auch wenn sie nicht 100% sicher ist), wenn 1. die Effekte in vielen verschiedenen, voneinander unabhängigen und mit unterschiedlichen Methoden durchgeführten Studien beobachtet worden sind, und 2. es dazu einen glaubhaften Mechanismus oder eine plausible Theorie gibt. Beide Bedingungen sind hier ohne Weiteres erfüllt: Es gibt Zehntausende von Studien zu Luftschadstoffen und ihrem Einfluss auf unsere Gesundheit, und die Verbindung von Feinstaub bzw. Stickoxiden und Entzündungen in der Lunge ist sehr plausibel (Stickstoffdioxid ist ein ätzendes Reizgas). Und selbst wenn sich diese Erkenntnis trotz all der Studien irgendwann mal als falsch herausstellen sollte (eine gewisse – wenn auch sehr geringe – Wahrscheinlichkeit dafür besteht immer, wie auch dafür, dass der Klimawandel tatsächlich nicht menschenverursacht ist), so gebietet es die Risikoethik bis dahin, das Augenmerk auf die Möglichkeit sehr schädlicher (im Fall des Klimawandels gar apokalyptischer) Entwicklungen zu richten.

Ein sehr ähnlicher (eigentlich der gleiche) Punkt ist der, den die Autoren als zweites „Argument“ aufführen: Es gibt zahlreiche andere Faktoren, die Krankheitshäufigkeit und Lebenserwartung beeinflussen. Auch das ist reichlich banal, kann aber kaum geeignet sein, einen bestehenden Konsens über die Schädlichkeit von Luftverschmutzung für unsere Gesundheit zu widerlegen. In Anbetracht des zum ersten Argument Gesagten erübrigt sich eine weitere Entgegnung zu diesem Punkt.

Als nächstes sprechen die Autoren über Schwellenwerte und die Frage, durch welche Mechanismen genau die Luftverschmutzung auf den menschlichen Körper wirkt („Toxizitätsmuster“). Tatsächlich lassen sich die Auswirkungen von Stickoxiden auf unsere Gesundheit nur schwer isoliert betrachten. Hierzu gibt es unzählige epidemiologische Studien mit oft Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern und vielen Hunderten Variablen und entsprechend komplexen statistischen Modellen. Dabei wird das Risiko von Verzerrungen in den Studien so weit wie möglich reduziert, indem Forscher den Einfluss anderer bekannter Faktoren herausrechnen. Absolute Sicherheit gibt es allerdings nie. Dennoch gilt die schädliche Wirkung des Feinstaubs als eindeutig nachgewiesen, bei Stickoxiden sind die Unsicherheiten etwas grösser, gehen aber nichtsdestotrotz in eine eindeutige Richtung. Hier einen einzigen, alles zusammenfassenden Schwellenwert anzugeben, ab welcher Konzentration Feinstaub und Stickoxide definitiv schädlich sind, ist nahezu unmöglich. Doch daraus zu folgern, dass „alle diese Studien eine konstante Störgröße (Bias) messen“, ist geradezu irrsinnig. Mit der gleichen Argumentation könnte man sagen, wir verstehen nicht ganz genau, wie der steigende CO2-Gehalt in der Atmosphäre das globale (und lokale) Klima beeinflusst, also müssen wir schlussfolgern, dass es diesen Einfluss gar nicht gibt. Mit einem derartigen Argument die wissenschaftliche Arbeit hinter tausenden Studien als fehlerhaft oder gar interessegeleitet zu erklären, ist sehr bedenklich.

Die haarsträubendste Argumentation, ironischerweise im Papier als „das stärkste Argument gegen die extrem einseitige Auswertung der Studien“ aufgeführt, bewahren sich die Autoren jedoch für den Schluss auf. Hier werden die Raucher herbeigezogen, die ja „quasi freiwillig an einer riesigen Expositionsstudie teilnehmen“. Aus der bekannten Tatsache, dass Rauchen die Lebenserwartung um ca. zehn Jahre verkürzt, schliessen Köhler und Koch wagemutig, dass Raucher, die mit jeder Zigarette einhundert bis 1000-fach so viel Stickoxide und Feinstaub einatmen, „nach wenigen Monaten alle versterben müssten“. Da sie das offensichtlich nicht tun, müssen die Studien falsch sein. Das ist natürlich kompletter Unsinn, worauf Experten längst hingewiesen haben. Dies beruht auf einer Variation des logischen Denkfehlers, auf den die Autoren in ihrem ersten Argument in derart polemischer Absicht hinweisen. Denn so gilt natürlich auch, dass aus einer fehlenden Korrelation in einem Zusammenhang nicht auf eine fehlende Kausalität in einem anderen, ggfs. damit verwandten Zusammenhang geschlossen werden kann. Nicht zuletzt rauchen die meisten Raucher nicht 24 Stunden und ebenso wenig als Schwangere, Babys und Kinder, wohingegen sie alle Abgase einatmen.

Die Autoren weisen zuletzt darauf hin, dass alle gängigen Informationen über Schadstoffbelastungen „im Wesentlichen aus der gleichen Quelle“ stammen. Das ist eine grobe Falschaussage, in klareren Worte eine glatte Lüge, die schon an „Trump‘sche“ Verhältnisse heranreicht. Unzählige unabhängige Forschungsstudien haben zu dem wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage beigetragen, der sich über viele Jahre herausgebildet hat. Keiner der beiden Autoren hat im Übrigen an dieser Forschungsarbeit je teilgenommen: Köhler hat in seiner Karriere keine einzige „peer-reviewte“ Studie zu Stickoxiden oder zu den medizinischen Auswirkungen von Feinstaub in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht, nur einen Aufsatz im nicht begutachteten Ärzteblatt, das eher ein offizielles Mitteilungsorgan der jeweiligen Kammer ist als ein akzeptiertes Wissenschaftsjournal. Und Koch ist ein Ingenieur, der weit entfernt von der medizinischen Forschung ist.

Anstatt ihre Zweifel und ihre Kritik in wissenschaftlichen Fachkreisen darzustellen und darüber mit Experten zu diskutieren und so zu einem konstruktiven wissenschaftlichen Austausch beizutragen, wählten die Autoren den Weg über die Öffentlichkeit. Offensichtlich geht es ihnen mehr um Effekthascherei, Selbstbestätigung, Lobbyismus oder die Verbreitung von Ideologien als um eine „Versachlichung der Diskussion“. Sie wollen Zweifel an wissenschaftlichen Aussagen säen, womit sie Verunsicherung erzeugen, die sich dann politisch instrumentalisieren lässt. Bei einem so bedeutenden Thema wie der Luftverschmutzung und der Gefährdung unserer Gesundheit ist das Argumentieren mit falschen Fakten und Lügen jedoch nicht nur unangebracht, sondern zutiefst unredlich. Wissenschaft ist nach wie vor die effektivste Methode gegen alternative Fakten. Deshalb diskreditieren und bekämpfen Populisten wie Köhler und Koch ihre Erkenntnisse mit so vehementen Worten. Dass sie damit teilweise sogar Erfolg haben, ist umso schlimmer. Tatsächlich hat eine unheilige Allianz aus Politikern von CSU, FDP und AfD sowie dem Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe ihre Aussagen schnell begrüsst und fordert entsprechende Gesetzesänderungen. Spätestens bei der Aussage von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dass der Vorstoss „Sachlichkeit und Fakten in die Dieseldebatte“ bringe, muss die Zivilgesellschaft aufstehen und sich wehren, um gegen die Verunglimpfung der Wissenschaft durch skrupellose Populisten vorzugehen. Dies ist auch die Aufgabe einer aufgeklärten Presse, welche die Aussagen der Grenzwertkritiker teils erschreckend unkritisch wiedergab und damit erst dafür sorgte, dass diese populistische Streitschrift gegen etablierte wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt mediale Aufmerksamkeit erhielt. Dies ist zuletzt eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Und diese ist das Fundament unserer offenen Gesellschaft.

Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. Im August 2017 erschien „Supermacht Wissenschaft“ beim Gütersloher Verlagshaus und sein neuestes Buch „Die zweite Quantenrevolution“ erschien im August 2018 bei Springer.

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Halbwelten, Rezension von Niklas Fleischer, Dortmund 2015

Zu: Christopher De La Garza (Produzent 6 Autor), Simon Pape (Concept Artist), sascha Grusche (Illustrator): Hemispheres – Corpus Separatum, Aurum in J. Kamphausen Mediengruppe, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-95883-057-8, Preis: 19,95 Euro

image002Viele Menschen verbinden Comics und Cartoons immer noch ausschließlich mit Donald Duck – Action und Unterhaltung – vielfach wurde versucht, dem Comic den Status als Literatur oder Kunst abzuerkennen.

Tatsächlich lohnt aber vielfach auch eine genauere Betrachtung und Differenzierung. Geschichten wie die „Maus“-Serie von Art Spiegelmann zeigen, dass Comics sich gewandelt haben und auch ernste Themen durchaus ansprechen können, ohne die jeweiligen Themen ins lächerliche, ins komische zu ziehen und somit wichtige Botschaften überbringen können. Art Spiegelmann nutzte diese Erzählweise beispielsweise, um dem Leser auch graphisch und visuell ungeschönt, aber abstrahiert die Schrecken des Holocaust vor Augen zu führen. „Halbwelten, Rezension von Niklas Fleischer, Dortmund 2015“ weiterlesen