„Schäm dich!“, Predigt zu Römer 1,16a, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

5. Sonntag nach Trinitatis 2021

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben.“ (Luther 2017)

Liebe Gemeinde,

„Schäm dich!“ ist der Imperativ unserer Zeit. Wie, du fliegst noch mit dem Flieger in den Urlaub? Schäm dich! Wie, du isst noch Fleisch? Schäm dich! Wie, du fährst einen Diesel? Schäm dich! Wie, du bestellst bei Amazon? Schäm dich!

Schon in der Geschichte von Kain und Abel spielt die Scham eine entscheidende Rolle. Kain blickte aus Scham zu Boden, als er sah, dass Gott Abels Opfer annahm, seine´s aber nicht würdigte. Mit dieser Scham konnte er nicht umgehen. Sie steigerte sich zur Gewalttat. Kain erschlug Abel. So wurde Scham in Schuld verschoben.

Bis heute ist Scham einer der Gründe für Gewalt, die scheinbar aus dem Nichts kommt, wie bei dem tödlichen Attentat des Somaliers mit subsidiärem Flüchtlingsschutz in Würzburg.

Die Scham hat Hochkonjunktur. Sie grassiert. Sie wächst exponentiell. Nicht die Meinungsfreiheit ist in unserer offenen Gesellschaft in Gefahr, aber viele Menschen haben Angst ihre Meinung offen zu äußern aus Scham vor der radikalen Verurteilung durch die angebliche Mehrheitsmeinung. Political Correctness ist gefragt. Wir haben zwar, Gott sei Dank, keine Scharia, aber eine kaum greifbare Minderheit, die über alle möglichen Kanäle Denk- und Sprachpolizei spielt und dabei die Schamanfälligkeit eines jeden Menschen schamlos ausnutzt.

Die Empörung über ein falsches Wort, über eine ungeschickte Geste, über einen Fehler bleibt nicht aus. Da können Sie sich sicher sein. Es geht um richtig oder falsch. Es scheint, als würde der Mensch in einer immer komplexer werdenden Welt nur noch weiß oder schwarz kennen – unabhängig vom politischen Lager oder der jeweiligen Blasen(um)welt. Vor lauter Scham verurteilt zu werden gilt: lieber nichts sagen und einfach still alles abnicken. Wenn die Schamwelle, die schon da ist, als Tsunami über uns kommt, gehen die Werte der Aufklärung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und der eigenen Erfahrung zu vertrauen, verloren.

Genau da setzt Paulus an. Bei seiner eigenen Erfahrung. Genauer gesagt, bei seiner eigenen Gotteserfahrung. Sie steht für ihn außer Frage, so dass er seine Scham vom Evangelium zu reden überwindet. Er hat Gottes Kraft am eigenen Leib erfahren, und diese Kraft bündelt sich für ihn in der Erkenntnis Jesu Christi, dass er – aber eben nicht nur er – sondern alle, die daran glauben, frei sind. Und das nicht, weil er moralisch richtig handelt oder besonders heilig ist, sondern, weil er in Gottes Augen frei ist, freigesprochen von allem. Von Gott hat der Mensch seine Würde und seine Freiheit. Sie ist unveräußerlich.

Selbst der schuldig gewordene Kain bekommt von Gott ein Schutzmal auf die Stirn gezeichnet. „Gott macht eine Differenz auf zwischen der Handlung und der Würde einer Person.“ (Klaas Huizing)1 Das heißt für Kain: Du brauchst dich nicht zu Tode schämen und niemand darf dir aus Rache oder falsch verstandener Gerechtigkeit das Leben nehmen. Ich schenke es dir. Das ist Rechtfertigung durch Gott. So kann selbst die Schuld, die aus Scham entsteht, in ein neues Leben ohne Selbsthass führen, und dem Lynchmob bietet Gott die Stirn. Gleichzeitig wird Kain aufgefordert, die Sünde zu überwinden und sich sozial zu verhalten (Gen 4,6ff). Aggressionsgefühle lassen sich transformieren. Was für ein Narrativ!

Der Geschenkcharakter des Lebens ist ein hohes Lebensgut, ob wir uns schämen oder nicht. Auch für Paulus war es ein langer Weg, seine Selbstgerechtigkeit zu überwinden, einzusehen, dass sein Hass auf die Christen falsch war. Was sollte er machen, als er das erkannte? Sich auf ewig schämen?

Scham ist ein starkes Gefühl, aber wie jedes andere Gefühl auch können wir es mit Übung ausbalancieren. Scham ist auch nützlich. Eine schamlose Gesellschaft will niemand.

Paulus aber möchte mit seinem Statement: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ Mut machen, die eigene Scham, vom Glauben und von der Kraft Gottes zu reden, zu überwinden. Paulus nimmt es in Kauf, verlacht zu werden, und nicht nur das, sogar verspottet, verurteilt, geschlagen und zuletzt getötet zu werden, weil er die Kraft Gottes erfahren hat. Diese führt ihn zu einer Freiheit im Glauben gegenüber Menschen, Herrschern und sonstigen Kräften zwischen Himmel und Erde.

Wer glaubt, ist nicht frei von Scham, aber der glaubende Mensch weiß um eine Freiheit, die größer ist als alle Scham, Furcht oder Tod.

In der letzten Woche habe ich mit einem Flüchtling gesprochen. Er kam als Minderjähriger in die Städteregion. Er hat mir von der Hölle seiner Kindheit erzählt, aber auch von der Erfahrung der Bewahrung durch Gott auf seiner monatelangen Flucht. Er hat die Kraft Gottes gespürt. Das waren seine Worte, und ich musste an Paulus denken und an die vielen Fluchtgeschichten in der Bibel. Er war dem Islam durch seine Kindheitserfahrungen entfremdet und hat im christlichen Glauben seine Heimat gefunden. Er hat eine Tochter mit einer deutschen Partnerin. Seine Tochter möchte er taufen lassen. Oft wird er von Muslimen angesprochen, ob er Muslim sei. Dann sagt er, er sei Christ, und alle Muslime wenden sich von ihm ab. Er hat sich ein Kreuz auf den Unterarm tätowieren lassen. Er ist noch jung und voller Scham, aber das Kreuz auf seinem Unterarm ist seine Art, sich nicht seines Glaubens zu schämen und mit Gott in Verbindung zu sein.

Philipp Mickenbecker war mit seinem Bruder erfolgreicher Youtuber. Er ist mit 23 Jahren gestorben. Drei Mal war er schwer an Krebs erkrankt. In dieser Zeit hat er sich intensiv mit Gott beschäftigt. Nie wollte er fromm sein. Er hat Gott herausgefordert und um Zeichen gebeten. Diese hat er bekommen. Über seine Erfahrungen hat er ein Buch geschrieben: My Real Life Story. Es ist ein Spiegel- Bestseller und verbreitet sich rasch. Philipp hat die Kraft Gottes erfahren und schämt sich seiner Zweifel und seines Glaubens nicht.

Wir sind nicht Paulus. Wir sind nicht der Flüchtling. Wir sind nicht Philipp Mickenbecker. Wir haben unsere eigene Glaubens- und Schamgeschichte. Wir drücken auf unsere ganz eigene Art und Weise aus, dass wir uns unseres Glaubens nicht schämen. Nicht alles muss öffentlich gezeigt werden. Weniger ist oft mehr. Vieles muss auch bewahrt und geschützt werden. Gott wirkt auch durch das Verborgene, durch das Stille, durch das Geheimnis.

Eugen Drewermann sagte in einer Radiosendung2 zum Thema Scham: „In der Liebe darf man sich auf den anderen beziehen, wie man ist. Hintergrund ist ein liebevoller Blick, voller Akzeptanz, voller Zugewandtheit. Dafür steht in der Bibel Gott. Was passiert, wenn dieser Bezug verloren geht?“

Könnte es sein, dass in einer Gesellschaft, die den Gottesbezug zunehmend verliert, Beschämung und Ausgrenzung ein leichteres Spiel haben, da das gnädige Angesicht Gottes immer mehr in den Hintergrund gerät? Wenn das richtige Tun immer mehr in den Fokus gerät, gerät der Mensch dann nicht in ein Dilemma aus dem er nicht mehr herauskommt? Wo bleibt die Freiheit? Wo bleibt die Unterscheidung von Handlung und Person?

In einer fragilen und gewaltbereiten Schamgesellschaft ist das öffentliche oder stille unverschämte Gottesbekenntnis ein wichtiger Beitrag, gesellschaftliche Freiheit zu leben und zu gestalten.

Amen

 

 

 

 

1 Huizing, Klass: Die Scham als Tugendlehrerin, in: Anders handeln, Hg.: Andere Zeiten e.V., Neumünster, 1/2019, S. 8-9

2 Drewermann, Eugen: in Radio Bremen in der Sendung Redefreiheit  zum Thema Scham vom 28.04.2014

 

 

Sünde coachen? Rezension von Joachim Wehrenbrecht, Herzogenrath 2019

Zu:

Klaas Huizing: Schluss mit Sünde! (Gebundene Ausgabe), Warum wir eine neue Reformation brauchen, Kreuz Verlag, Freiburg 2017, Gebunden, 128 Seiten, ISBN: 978-3-946905-08-0, Preis: 15,00 Euro

Link: https://www.herder.de/religion-spiritualitaet-shop/schluss-mit-suende!-gebundene-ausgabe/c-38/p-15310/

Im Büchlein „Schluss mit Sünde“ will Klaas Huizing endlich mit der „Sündenverbiesterung“ im Christentum brechen. Seiner Meinung nach hemmt das alte christliche Menschenbild jegliche Emanzipation und Entwicklung. Luther hat mit seiner Elitenkritik und kraft der Freiheit seines Gewissens, gebunden an das Wort Gottes, die Tür zu Freiheit und Partizipation (Priestertum aller Gläubigen) weit geöffnet, gleichzeitig aber unkritisch – so Huizing – die Erbsündenlehre Augustins weiter tradiert. Ferner: Mit seinem Simul-Justus-et-Peccator-Konzept bürstet Luther viele alttestamentliche und neutestamentliche Texte gegen den Strich. Er wird ihnen nicht gerecht.

In Folge von Luther, Calvin und anderen Reformatoren bleibt der Protestantismus trotz Aufklärung und Postmoderne einem negativen Menschenbild verhaftet. Das ist heute nicht mehr vermittelbar. Der „literaturfromme“ Klaas Huizing wählt eine andere Lesart der biblischen Geschichten. Anhand der Kain- und Abel-Geschichte zeigt er überzeugend, wie Scham sich in Schuld verschiebt.

Es geht gerade nicht um die Aussage, dass wir Menschen der Sünde verfallen sind und den Tod verdienen, sondern das Kainsmal schützt Kain. Die Geschichte evoziert ein Nachdenken, Scham nicht in Schuld umkippen zu lassen.

Huizing liest die Bibel als Weisheitsbuch. Sie ist für ihn kulturgeschichtlich gesehen ein großer Bildungsroman, Gott ein Weisheitslehrer und Jesus von Nazareth der größte Weisheitscoach aller Zeiten.

„Schluss mit Sünde“ enthält viele nachdenkenswerte Passagen und Anstöße, insgesamt ist es mir jedoch zu eklektisch und zu dünn in der Argumentation. Auf Augustins Erbsündenlehre wird rumgehackt, jedoch fehlt eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit paulinischer Schluss-mit-Sünde-Theologie, wo bekanntlich mit Christus endlich Schluss mit Sünde ist und ein Leben aus dem Geist die Sünde überwindet.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Autor und Verlag zum 500. Reformationsjubiläum schnell noch etwas Reißerisches auf den Markt bringen wollten. Einige durchaus lesenswerte Kapitel scheinen ungeschickt als Füllmaterial ins eh schon dünne Büchlein gerutscht zu sein.

Fazit: In „Schluss mit Sünde“ bleibt Huizing ironischerweise seiner calvinistischen Herkunft – die er als Kulturprotestant hinter sich lassen will – treu. Er ersetzt den Überwachungscalvinismus, der zum Ziel hatte, dass in der christlichen Gemeinde endlich Schluss mit Sünde sei, durch einen Bildungscalvinismus, der nicht mehr vom Sünder reden, sondern Sünde nur noch coachen will.
Vielleicht brauchen wir eine neue Reformation, wie es im Untertitel des Buches „Schluss mit Sünde“ heißt, aber das schmale Bändchen ist nicht annähernd eine Reformationsstreitschrift im Kaliber der Schriften Luthers 1517. Es darf bitte etwas mehr begründete Theologie sein.

Anmerkung: Die Rezension ist erschienen im Deutschen Pfarrerblatt 1/2020

Warum schämen, frei von Schuld? Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016

 

Zu: Ulrike Link-Wieczorek (Hg.): Verstrickt in Schuld, gefangen von Scham? Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung, Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn 2015, Softcover, 210 Seiten, ISBN: 978-3-7887-2942-4 (Print), Preis: 39,00 Euro

Link-Wieczorek - Verstrickt in Schuld

Die Jahrestagung 2015 der „Gesellschaft für Evangelische Theologie“ wird hier in Gänze dokumentiert, Haupt- und Einleitungsvorträge, Diskussionsbeiträge zur Gruppenarbeit, ein Grußwort und eine Predigt. Ein vorläufiger Eindruck: Das Thema „Scham“ ergänzt die Bearbeitung des Wortpaares „Schuld – Sünde“, verschiebt die anthropologische Perspektive der Theologie, ohne sie davon zu lösen. „Warum schämen, frei von Schuld? Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016“ weiterlesen

Scham, Gefühle auszudrücken, auch im Alltag, schriftlich, nonverbal oder mündlich, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016

Zu: Monique Honegger (Hg.): Schreiben und Scham, Wenn ein Affekt zur Sprache kommt, Psychosozial-Verlag, Gießen 2015, ISBN: 9783837924701, 215 Seiten, Preis: 29,90 Euro, Link: http://www.psychosozial-verlag.de/2470

Reihen-Umschlaggestaltung für den Psychosozial-Verlag, Gießen Info zu Hintergrund Raster-Bild: Raster für Fond: Covermotiv in Fläche von ca 25 x 25 cm einbauen und in Bitmap wandeln. Einstellung Bitmap: Halbtonraster 10 p per inch Winkel 45°

„Ich merkte, dass ich mich für den Wunsch schämte, mich mit intimen und persönlichen Gedanken dem Leser auszuliefern und um seine Anerkennung zu werben.“ (S. 47). Markus Fäh schildert das Phänomen der Scham beim Schreibprozess anhand seiner eigenen Erfahrung beim Abfassen des Artikels „Hölle und Glückseligkeit, psychoanalytische Überlegungen zur Scham beim Schreiben“ (S. 47 – 66). Die Schreibhemmung ist ein weiter verbreitetes Phänomen, als man wohl annimmt. Es ist ein Arbeitsschwerpunkt der Pädagogischen Hochschule Zürich, sich damit zu befassen. Das Autorenteam setzt sich zusammen aus Monique Honegger, Stefan D. Keller, Daniel Perrin, Geri Thomann, Professoren an der PH Zürich und tätig als Schreibexperten oder Schreibberater, Matthias Jäger, Dr. und Psychiater, Elena Ibello, Andrea Keller, MA Education und Journalistinnen und Michael Saschi, lic. Phil. Lehrer und Autor.      „Scham, Gefühle auszudrücken, auch im Alltag, schriftlich, nonverbal oder mündlich, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016“ weiterlesen

Diskretion im Umgang mit Gott, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015

Zu: Kristian Fechtner: Diskretes Christentum, Religion und Scham, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, ISBN 978-3-579-08146-5, Preis: 17,99 Euro

Diskretes Christentum von Kristian Fechtner
Diskretes Christentum von Kristian Fechtner
Laut Vorwort hat der Mainzer Theologieprofessor im Fach Praktische Theologie sein Projekt, ein Buch über „Religion und Scham“ zu schreiben, zunächst nicht vollendet und aufgeschoben. Doch das Buch ist nun erschienen, und die Frage ist, welches Thema es eigentlich behandelt. Ist das hier als Untertitel angegebene Thema „Religion und Scham“ mit dem Haupttitel „Diskretes Christentum“ eigentlich identisch, und inwiefern unterscheiden sich diese beiden Fragerichtungen auch?

Es könnte um die Seelsorge gehen, denn „Seelsorge hat mir Scham zu tun“ (S. 147). Doch das Buch konzentriert sich nicht auf die Seelsorge, sondern spürt dem Thema auch in den Bereichen Gottesdienst, Kasualpraxis und Religionspädagogik nach. Die Frage ist also berechtigt, ob diese Grundfrage nach „Religion und Scham“ zur Wahrnehmung eines gewiss relevanten Querschnittsthemas führt, oder ob, wie das Buch denn nun benannt wird, diese Fragerichtung zur Wahrnehmung eines Phänomens führt, das mit einem recht kurzen Schlusskapitel (S. 173 – 179) zum Thema Diskretion in der Religionsausübung führt. Wo das Buch zum eigentlichen Thema kommt, scheint es abzubrechen. Wohin wird der Leser, die Leserin gelenkt, dazu, Diskretion kompetent aufzudecken und zu kritisieren oder als eine berechtigte Gestalt gelebten Glaubens zu akzeptieren? „Diskretion im Umgang mit Gott, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015“ weiterlesen