Literatur: Marion Heinz, Sidonie Kellerer (Hg.): Martin Heideggers „Schwarze Hefte“, Eine philosophisch-politische Debatte, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2178, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-518-29778-0, 445 Seiten, 20,00 Euro
Es hat nach der Herausgabe der „Schwarzen Hefte“ der Gesamtausgabe von Martin Heidegger aus den Jahren 1933 -1942 im März 2014 eine Reihe von Tagungen gegeben, die die Frage nach der Verwicklung Heideggers in die nationalsozialistische Ideologie und ihr Gesellschaftssystem thematisiert haben.
Der folgende Text ist eine erweiterte Rezension, die aus zwei verschiedenen Blickwinkeln die Dokumentation der Tagung reflektiert, die im April 2015 an der Universität Siegen stattfand.
Christoph Fleischer:
Die Veröffentlichung der sogenannten „Schwarzen Hefte“ hat antisemitische Äußerungen Martin Heideggers in den Vordergrund gebracht und zwar durchaus auch aus der Zeit vor 1945, als er nach seiner anfänglichen Beteuerung sich bereits vom Nationalsozialismus verabschiedet haben will. Wahrscheinlich hat sich der Nationalsozialismus von ihm verabschiedet, bzw. Heidegger hatte anfänglich gehofft, zur weltanschaulichen Fundierung einer Bewegung beizutragen, die man aus heutiger Sicht schlicht eine Barbarei nennen muss. Dass die hier dokumentierten Aufsätze der Siegener Tagung der Heideggerkritischen deutschen Philosophie die Frage stellen, inwieweit die Heideggersche Philosophie antisemitisch durchsetzt und geprägt ist, liegt auf der Hand (vgl. S. 26: „Philosophie und Politik. Untersuchungen zu Martin Heideggers Schwarzen Heften, 23. Bis 25. April, Universität Siegen). Man wird also nun Seite um Seite noch einmal umdrehen, um von daher neuere Erkenntnisse dazuzugewinnen. Im Prinzip ist aber eines klar: Niemand behauptet allen Ernstes mehr, Heidegger sei kein Antisemit oder Nationalsozialist gewesen. Die eigentliche Frage ist umso diffiziler: Warum und inwiefern kann man ihn trotzdem als einen der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnen? Mir persönlich kommt hierbei allerdings die strukturalistische oder dekonstruktive Frage danach zu kurz, welche Motive hierbei von welchem Kontext her zu lesen sind und wie welche Aussagen von welchen Adressaten verstanden werden sollen.
Schon die Einleitung zeigt, in der die zweiundzwanzig Artikel kurz vorgestellt und eingeordnet werden, wieso Martin Heidegger seinen philosophischen Selbstmord an das Ende seiner Gesamtausgabe hat stellen wollen, anstelle die Bücher noch zu Lebzeiten in den Kamin zu werfen. War das wirklich ein Symptom seiner Hybris, wie behauptet wird oder war es schlicht der Erwartung geschuldet, dass Heidegger auch sein eigenes Werk als vergänglich und auch im geistigen Sinn als sterblich darstellen wollte. Ein Problem ist allerdings schon deutlich, dass nämlich die historische Einordnung in den Kontext der nationalsozialistischen Schriften kaum angedacht wird, obwohl diese doch auf der Hand liegt. Wenn z. B. die Ermordung und Vernichtung des europäischen Judentums in einem Zitat als „Selbstvernichtung“ dargestellt wird, so ist doch zu allererst zu fragen, ob das nicht gerade eine Vokabel ist, die der Hitlerschen oder Goebbelschen Rede ähnlich ist und vor dort her adaptiert und in die Philosophie übertragen wurde.
Aus diesem Grund möchte ich zunächst einmal einen der Reue unverdächtigen ehemaligen Nationalsozialisten befragen, den Staatsrechtler Carl Schmitt, wie er denn nach dem Krieg die Position Martin Heideggers empfunden hat. Carl Schmitt war wie Martin Heidegger zwar mit Lehrverbot belegt, was aber dem Erreichen des Ruhestands gleichkam. Eine Entnazifizierung kam für ihn nicht in Frage, da er einerseits seine Parteimitgliedschaft nicht leugnen konnte oder wollte, aber andererseits von schwerwiegenderen Vorwürfen seitens des Nürnberger Gerichts freigesprochen worden ist, wie Beteiligung an Angriffskrieg oder Völkermord. Eine geistige oder ideologische Beteiligung galt wohl damals nicht als Delikt. Carl Schmitt notiert am 14.08.1952: „Dem armseligen Remigranten=Begriff des Come-back haben sich unterworfen: Heidegger, Gottfried Benn und leider auch Ernst Jünger. Welche Armut! Für mich gibt es schon deshalb kein Comeback, weil ich nicht zweimal durch denselben Fluss gehe …“ (Carl Schmitt: Glossarium, Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 – 1958, Neuausgabe, Duncker & Humblodt, Berlin 2015, S. 284).
Carl Schmitt betont gleichzeitig, das habe für ihn auch etwas damit zu tun, den „Gegensatz von Freund und Feind“ erkannt zu haben (Ebd. S. 284). Am 08.08.1953 notiert er die Lektüre des bekannten FAZ-Artikels von Jürgen Habermas über Heidegger. Er nimmt diesen gegen den Vorwurf in Schutz, er sei ein „faschistischer Philosoph“ (gewesen), da dieser Begriff ein Sprachgebrauch der DDR bzw. UdSSR sei (war) (Vgl. ebd. S. 300). Andererseits bezeichnet er Heidegger bereits im Jahr 1949 als einen der „großen Ja-Sager von 1933“ (S. 149). Er empfiehlt die „kritische Lektüre“ Heideggers (am 26.04.1949, vgl. S. 178). Am 05.05.1949 bemerkt er, dass eine sich im Besitz von Günter Anders befindliche Ansichtskarte dafür sorgt, Heidegger zu verfolgen. Am 08.02.1950 folgt die Bemerkung: „Heidegger besteht die Probe des Comeback mit dem Prädikat: vollbefriedigend nach beiden Seiten, Gottfried Benn ganz großartig; Erst Jünger fällt elend durch.“ (S. 226, „s“ hinter Comeback fehlt im Text).
Wenn es heute auch in der Auseinandersetzung um die Frage der „Schwarzen Hefte“ um eine Quellenfrage geht, wird man den Beobachtungen Carl Schmitt zugestehen müssen, dass sie aus der Sicht von interessierten Zeitzeugen formuliert sind. Dass dies auch die Lektüre von „Sein und Zeit“ einbezieht, zeigt er an anderer Stelle, wobei der dem Irrtum unterliegt, Martin Heidegger sei ein Protestant (gewesen).
Carl Schmitts Aussagen lassen sich leicht resümieren: Martin Heidegger war 1933 und danach ein Sympathisant und Unterstützer der Nationalsozialisten. Obwohl er nach 1945 ein „Comeback“ hingelegt hat, hat er sein NS-Engagement nicht verleugnen können und wohl auch nicht wollen („zu beiden Seiten“). Andererseits wird man den Namen Heidegger aus den philosophischen Lexika nicht streichen können. Und wen manche Formulierungen der „Schwarzen Hefte“ überraschen, der oder die muss sich z. B. durch Faye und andere sagen lassen, dass die Formulierungen in der Tendenz auch aus anderen Texten bekannt waren (auch in diesem Band: Emmanuel Faye: Kategorien oder Existenzialien, Von der Metaphysik zur Metapolitik, S. 100-121). Die Frage ist natürlich, ob und inwiefern der Antisemitismus Teil der „Seinslehre“ ist, die Heideggers Philosophie bestimmt.
Ist Heideggers Philosophie insgesamt wie auch der Nationalsozialismus als Gegensatz zum Marxismus zu verstehen, wie Anna Pia Ruoppo meint (S. 349 – 365)? Heidegger wäre nie anders als subjektivistisch zu lesen und die Gesellschaft ausblendend. Seine Ontologie sei eine religionslose Predigt. Es ging ihm nicht um eine Veränderung der Lebensbedingungen. Es sei vielmehr eine säkulare Theologie, die in der Argumentation Martin Luther folgt, der meinte, man müsse Aristoteles abschwören. Er meint vielmehr, der Mensch müsse die Nähe des Todes spüren, ein neuer Mensch zu werden. Daraus folgt die Annahme des eigenen Schicksals. Heideggers Philosophie habe keine Affinität zur Demokratie. Seine „fundamentalontologische Begrifflichkeit“ sei „anfällig“ für ein „faschistisches Politikverständnis.“ (Vgl. S. 365)
Gregory Fried hingegen argumentiert wie damals Jürgen Habermas „mit und gegen Heidegger“ (S. 366 – 382). Heidegger schließt sich 1933 dem Antisemitismus an, der dem Konzept seiner Seinsgeschichte entsprach, indem sie die Geschichte des Krieges ist. Die Seinsfrage, so Fried, sei die Bedeutungsfrage. Die Quelle von Bedeutung ist der Kampf: „Heideggers Dasein ist essentiell polemisch (in einem höheren Sinn des Wortes), weil es seine Welt ständig rekonstruieren muss in einem Interpretationskampf mit ihrer endlichen Bedeutung, die Menschen als vollkommen zeitlichen Wesen geschichtlich zugewiesen ist …“ (S. 372). In diesem Fall erinnert Fried an die zynische Bemerkung Heideggers, „… dass die „Juden ihre Vernichtung selbst herbeigeführt hätten“ (S. 374). Immerhin ist diese Aussage außer in den unter Verschluss gehaltenen Schwarzen Heften in keiner Veröffentlichung enthalten, sonst wäre es doch unverständlich, wie Heidegger mit Vertretern des Judentums nach dem 2. Weltkrieg zusammentreffen konnte, wie Martin Buber oder Paul Celan. Immerhin meint Fried, Heideggers Denken führe nicht notwendig zum Faschismus, ja er geht sogar so weit festzustellen, der Faschismus gehöre zur Erbschaft westlichen Denkens und könne jederzeit wieder aufflammen.
Auch Maurizio Ferraris (Die Katze aus dem Sack lassen, S. 383 – 396) meint mit einer Bemerkung Heideggers zu seinem Assistenten, dass die „Schwarzen Hefte“ die Katze aus dem Sack lassen. Interessant ist schon die Frage, wieso Heidegger selbst die spätere Veröffentlichung dieser Hefte angeordnet hat, am Ende seiner Werkausgabe. Dass er dabei mit einer Rückkehr des Nazitums rechnet, halte ich allerdings für überzogen. Auch hier wird vermerkt, dass der Nazismus, wie Derrida meinte, im europäischen Geist verwurzelt wäre und Heidegger hiermit nicht singulär auftrat. Die Behauptung Peter Trawnys, es handele sich um einen „metaphysischen Antisemitismus“ wird von Ferraris zurückgewiesen, da der Antisemitismus mit NS-Denken tief verknüpft sei und somit von dieser Vorlage auch nicht zu trennen ist (Vgl. S. 388). Schon Levinas habe Heidegger einen Philosophen des Militarismus genannt. In der Metaphysik Heideggers taucht die „Dekonstruktion der Seinsgeschichte“ (S. 391) auf, die zu Kritik der Religion und der Rückkehr des letzten Gottes führe. Mit Metaphysik wird durch Heidegger jede Macht gerechtfertigt.
In der Nachkriegszeit wurden die bis daher bestehenden Ausgaben im Werk Heideggers sprachlich entnazifiziert, wozu hier Beispiele angeführt werden. In diesem Zusammenhang fehlt mal wieder der Aufweis des Kontextes, von einer allgemeinen Kampfrhetorik abgesehen (Anmerkung dazu: Ein Comeback wäre doch wohl ohne eine solche Entnazifizierung in der Nachkriegsgesellschaft kaum möglich gewesen. Ich lese auch immer nur, wann Heidegger die Widmung für Husserl aus „Sein und Zeit“ gestrichen hat, aber nicht, wann er sie erneut hineingesetzt hat. Wann kann sich die Philosophie auch unabhängig von marxistischen Denken unbefangen dem Kontext widmen, der doch alles Philosophieren immer mitbestimmt?)
Ersatzweise solle wohl eine Zeitlang die Psychoanalyse dafür sorgen, dass wenigstens ansatzweise ein Kontextbezug möglich war. Diese Sichtweise wird nicht nur in diesem Band, sondern auch in der Literatur von Anton M. Fischer vertreten, der das Buch „Martin Heidegger – der gottlose Priester, das Psychogramm eines Denkers“ (Zürich 2008) veröffentlicht hat.
Ist man bei Heidegger auf der richtigen Spur, wenn man die Argumentationslinie des allseits bekannten Freund-Feind-Denkens erneuert? Da gibt es einerseits „selbsternannte Heidegger-Sekundanten“ (S. 316), so von Anton M. Fischer bezeichnenderweise in der Sprache des Duells ausgedrückt: Die Martin-Heidegger-Gesellschaft, die Heidegger Familie und die meisten Mitherausgeber der Martin Heidegger Gesamtausgabe beim Verlag Vittorio Klostermann in Frankfurt, während hier in den Teilnehmer_innen und Referent_innen der Siegener Tagung über die „Schwarzen Hefte“ die „kritische Heidegger-Forschung“ (S. 428) versammelt ist.
Da wird etwa daran erinnert, dass seitens der Familie die Herausgabe des Briefwechsels von Fritz und Martin Heidegger blockiert wird, inzwischen als auszugsweise Vorausausgabe zusammen mit einigen Aufsätzen zu Heideggers Antisemitismus im Freiburger Herder-Verlag erschienen (Rezension folgt). Da werden antisemitische Sätze, die von Martin Heidegger in der Neu-Ausgabe der Holzwege gestrichen wurden, nicht in der Gesamtausgabe dokumentiert, wodurch das Werk seinen Wert als kritische Edition einbüßt. Fischer bezieht sich hier ausdrücklich auf die Mitherausgeberin Sidonie Kellerer. Peter Trawny, seinerseits Mitherausgeber der Gesamtausgabe als Editor der „Schwarzen Hefte“ wird als Kronzeuge dafür zitiert, da er im Interviewe mit der Zeitschrift „Hohe Luft“ zugibt, selbst einen antisemitischen Satz in der Gesamtausgabe („Geschichte des Seyns“) ausgelassen zu haben (Link: http://www.hoheluft-magazin.de/2015/02/moralische-schuld-ist-in-heideggers-philosophie-nicht-moeglich/).
Anton M. Fischer resümiert: „Die schmerzliche Einsicht in die Ambivalenz alles Menschlichen steht noch aus.“ (S. 436). Doch wie kaum anders zu erwarten, gilt diese Aussage im Freund-Feind-Denken immer der Gegenseite. In einer Hinsicht ist der Artikel von Anton M. Fischer der weitreichendste, denn er verzichtet auf den Eiertanz zwischen dem guten und dem bösen Heidegger. Doch in die Falle einer Polarisierung, in der er auf der Seite des Guten und Heidegger auf der anderen ist, tritt er erst am Schluss des Artikels. Er sagt, Heidegger habe sich ja nicht nur als Antisemit, sondern das noch überbietend als „Menschenfeind“ erwiesen, als er darauf hinwies, „dass die Vollendung der Technik“ als letzter Akt dazu führen würde, „dass sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet“ (S. 438f). Diese Argumentation ist in zweifacher Hinsicht unsinnig, zum einen, weil ein Menschenfeind dann ja auch gegen sich selbst ist und zum anderen, weil die Aussage, dass sich die Menschheit selbst in die Luft sprengt, absolut realistisch und sachgemäß ist.
Dieser Untergang der Menschheit ist keine Lösung für die Seinsgeschichte, denn wo das Nichts alles ist, ist auch das Sein zu Ende, nicht nur das Seiende. Die Argumentation Fischers gegen die Heideggersche Philosophie implodiert also. Dass es eine frappante Masche Heideggers war, in jeder Fragestellung eine ontologische Ebene zu sehen, hatte schon Carl Schmitt erkannt: „Heideggers Holzwege S. 205 (Über Nihilismus) Die Oberflächlichen und Geistreichen bleiben gedankenlos solange sie es unterlassen (höre genau zu:) ‚an die Ortschaft des Wesens der Menschen zu denken und sie in der Wahrheit des Seins zu erfahren.’ Die Ortschaft. Er hütet sich, einen Ort zu nennen…“ (aao. Schmitt S. 236f).
Die Kritik Anton M. Fischers ist dementsprechend eine Konfrontation der Heideggerschen Sprache mit der historischen und gesellschaftlichen Erfahrung: „Während der gewöhnliche Antisemit erklärt: ich hasse die Juden, schiebt Heidegger hingegen die Verantwortung ab. Wenn ihm zufolge das Seyn den Juden das Seinsgeschick verordnet hat, ‚die Entwurzelung alles Seins als weltgeschichtliche Aufgabe’ zwecks ‚Machtentfaltung’ zu übernehmen und sich als ‚international agierender Repräsentant der Technik’ (Trawny) im Krieg dann erstaunlicherweise selber zu vernichten, so hegt es genau dieselben Vorurteile wie Heidegger selber.“ (S. 436).
Mir scheint die Argumentation, die sich an Heideggers Antisemitismus festbeißt, nicht die Aktualität der teilweise fast prophetisch ausgedrückten Technikkritik ungeschehen machen zu können. Berechtigt finde ich es, eine kritische Heidegger-Forschung zu fordern, falls das nach der (Selbst-)Zerstörung des Mythos „Heidegger“ noch nötig ist. Die Kritik an den Heidegger-Bemerkungen selbst greift zu kurz. Warum etwa hätte er sich weiterhin zum Antisemitismus bekennen sollen, wenn er sich doch, gewiss schweigend, davon gelöst hat? Es gab offensichtlich in der Nachkriegszeit einen dritten Weg zwischen dem öffentlichen Schuldbekenntnis und dem stillen Verbleiben in alten Spuren. Wer von den Schriftsteller_innen wie Dorothee Sölle, Günter Grass und anderen hat nicht auch lange Zeit darüber geschwiegen, selbst einmal ein Nazi-Anhänger_in gewesen zu sein?
Mein vorläufiges Fazit ist schlicht die Frage: Warum ist die Geisteswissenschaft anfällig für ein Freund-Feind-Denken, das im Zweifelsfall zum Rassenhass führen kann? Liegt es daran, dass man meint, man müsse die Erkenntnisse sozusagen im Kampf um die Wahrheit erringen, anstelle sie sich kooperativ zu erarbeiten? Damit soll sicherlich allem Dünkel und aller Vetternwirtschaft, wie sie für die Universität nicht selten waren, nicht das Wort geredet werden.
Markus Chmielorz:
„Verliebe Dich nicht in die Macht!“ (Michel Foucault) – Wo anfangen? Ohne je etwas von Heidegger gelesen zu haben, sitzt der 27jährige Student, der ich 1994 war, in einem pädagogischen Hauptseminar mit dem Titel „Bildsamkeit und Endlichkeit“. Es waren Michel Foucault und seine Texte, denen meine Aufmerksamkeit damals galt – jenem französischen Philosophen, der 1984 an den Folgen von AIDS gestorben war und dessen erstes größeres Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ sich der Sozialgeschichte der Psychiatrie widmete. 1990 hatte ich während eines Praktikums in einer psychiatrischen Klinik einen Menschen kennengelernt, der dort seit 1933, seit Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft lebte und diese überlebt hatte. Und: 302.0 –Homosexualität- war noch 1990 die Diagnose, die der International Codex of Desease in seiner 9. Revision für Menschen wie mich und Foucault vorsah. Ein Jahr nach dessen Tod begann ich mit dem, was in unserer westeuropäisch-nordamerikanischen Kultur „Coming-out“ genannt wird. Wie also kann ein Essay aus Anlass der Veröffentlichung eines Tagungsbandes zu Martin Heideggers „Schwarzen Heften“ mit einer biographischen, zufälligen, beliebigen, kontingenten Erzählung beginnen?
Foucault begann mit der Analyse, der arché-ologie (in einem höheren Sinn des Wortes) von gesellschaftlichen Oppositionssystemen, die er auf den modernen Gegensatz von Vernunft und Wahnsinn zurückführte. Es geht ihm quasi um eine Ethnologie unserer Rationalität der Moderne, um eine Kritik der Humanwissenschaften, um eine Kritik humanistischer Ideologien als eine Kritik des Subjektes. Denn: Was zugrunde liegt, kann auch buchstäblich zu Grunde liegen. Mit der Aufklärung verschwindet die Idee Gottes, und Foucault wird nun ein Berichterstatter des Verschwindens der Idee der Menschheit: „… dass es keine Erkenntnis gibt, die nicht auf Ungerechtigkeit beruht.“ Dieser Rezension also liegen drei Aspekte von Erkenntnisinteresse zugrunde; Biographisches, Professionelles und Politisches sind miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig.
Dem vorliegenden Tagungsband geht es ja um den Stand der Philosophie „im Horizont einer reflexiv gewordenen Moderne“ (S. 12) und zwar um das Freilegen der „intrinsischen (sic!) Verbindung von Heideggers Philosophie mit Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus“ (S. 10) und die Kritik „postmoderner Versuche, der aufgeklärten Moderne und ihrer Geltendmachung von Vernunftprinzipien im Feld der Theorie und Praxis durch Dekonstruktion zu begegnen“ (S. 13). Das Erkenntnisinteresse der Autor_innen des Bandes ist dabei ausdrücklich emanzipatorisch und politisch. Günter Mensching widmet sich in seiner Analyse der Texte Heideggers zunächst der Moderne und der Metaphysik. Er untersucht die Relation von Intelligiblem und der Erfahrung. Seine These ist, „dass Heideggers Feindschaft gegenüber der Metaphysik ohne die nominalistische Liquidierung der objektiven Wesenheiten und ihres obersten Begriffs, des Seins nicht möglich wäre“ (S. 60). Er kann so Heideggers politische Intentionen und dessen philosophische Argumentationsrichtung verlinken. Der Moderne immanent ist, so haben es Horkheimer und Adorno beschrieben, die „Dialektik der Aufklärung“. Wie also kann eine Kritik des Positivismus und des technischen Fortschritts formuliert werden? Bei Heidegger endet dies, so Mensching, in Barbarei. Dazu zeichnet der Autor eine Linie nach, die im Hochmittelalter beginnt und bei Kant einen Zwischenhalt einlegt: Wie verhalten sich Empirie und Begriff zueinander? Wie beziehen sich sprachliche Zeichen und eine „innere Verfasstheit der Dinge“ aufeinander? Und wovon wäre in der Philosophie noch zu sprechen, wenn „der Begriff (…) als Zeichen nur dem Intellekt an(gehört)?“ (S. 63). Das kantsche, transzendentale, innerhalb der Welt angesiedelte, verstandes- und vernunftbegabte Subjekt wird von Heidegger suspendiert, an dessen Stelle tritt das Dasein, selbstreferentiell zum Sein und existenziell in seiner Struktur. Mensching stellt diesen Paradigmenwechsel bei Heidegger heraus: „Aus der Autonomie des Subjektes und der Menschheit überhaupt wird die Heteronomie des Seinsgeschicks“ (S. 66). Die Enttäuschung des autonomen Subjekts führt in eine totalitäre Heteronomie. Hier wird ein zweites Erkenntnisinteresse des Autors deutlich, Aufklärung über faschistische Denkweisen. Umberto Eco hat es schon 1995 in seinem Aufsatz „Urfaschismus“ formuliert: „Die Aufklärung, das Zeitalter der Vernunft gilt als Beginn moderner Entartung.“ Zur Kritik an der Postmoderne später mehr.
Goran Gretić nimmt Heideggers Kritik am Humanismus auf; seine These ist, „… dass der Antihumanismus Heideggers und seine Befürwortung des ‚geistigen’ Nationalsozialismus zusammengehörende Bruchstück einer Philosophie sind, die sich (…) später als Seinsgeschichte ausprägt“ (S. 173). Auch Gretić untersucht Heideggers Revision der Metaphysik und dessen Kehre zum „Seyn“, der die Ablehnung des Humanismus als metaphysisch ebenso immanent ist, wie die nachfolgende Dispensierung eines modernen Begriffs vom Subjekt. Der Autor nimmt Heideggers „philosophischen, seinsgeschichtlichen Antsemitismus“ (S. 181) in den Blick, indem er seziert, wie Heidegger eine Linie zieht vom jüdisch-christlichen Monotheismus zur Aufklärung und diese Erzählung verwirft zugunsten eine Konzeptes vom Menschen als „Gründer und Wächter des Da-Seins“ (S. 179).
Heidegger setzt mit seinem Bezug zu Hölderlin Athen gegen Jerusalem. Doch bei Heidegger wird die Sentenz des griechischen Dichters Sophokles, „Ungeheuer ist viel / doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“ aus eben jener Tragödie, in der Antigone gegen das Verbot ihres Onkels Kreon ihren Bruder Polyneikes beerdigt, zu einem Faszinosum, das Gewalt affirmiert, indem „Ek-sistenz“ immer Grenzüberschreitung fordert. Eine Grenzüberschreitung, die keiner Erlaubnis bedarf und bei Heidegger deshalb a-moralisch und geboten zugleich wird.
Daniela Helbig untersucht die textuelle Form der „Schwarzen Hefte“. Ihre These ist, dass die Kritik des Inhalts eine Auseinandersetzung mit dem formalen Anspruch erfordere. Auch in ihrer Analyse wird der „Übergang von der Philosophie zur Seinsgeschichte“ (S. 313) zum Dreh- und Angelpunkt. Heidegger verknüpfe die Frage, was Denken sei mit der Frage der formellen, textuellen Darstellung des Textes. (Vgl. S. 324) Aus Gedankengängen werden bei Heidegger „Gänge des Denkens, die ergangen (…) sich nicht zu ‚Werken’ verfälschen (dürfen), sondern (…) die Spur sein und deren Verborgenes bewahren (müssen)“ (S. 315). Die von ihm gewählte Form der Tagebücher bezeichnet die Autorin als „serielles Liegenlassen“ (S. 314), das bloße Autobiographie überschreite und den Anspruch vertrete, nur so sei Denken überhaupt auszudrücken. Eine Spur sein, Verborgenes bewahren – es bleibt auch hier die Frage nach dem Subjekt des Satzes offen. Heideggers bewusste textuelle Inszenierung jedenfalls produziert eine andere Art von Text als ein wissenschaftliches Genre, der „auf die Bewegung eines Stoßes des Seyns“ (S. 318) zielt.
Tagebücher setzen Individuum und Kollektiv ins Verhältnis unter dem Anspruch von Authentizität. Damit wird ein Spannungsverhältnis in Bezug auf Textkritik ebenso deutlich, wie in Bezug auf Geltung – zwischen Fragmentarischem und Wahrem. Die funktionale Analyse der „Schwarzen Hefte“ zeigt vor allem auf, in welcher Weise Heidegger seine Leser_innen adressiert und Bekenntnisse einfordert für das eine oder das andere, für Wahrheitsanspruch oder Kritik. Die aktuelle philosophisch-politische Debatte, die nicht zufällig gerade in dem Moment entsteht, da die letzten Opfer und Augenzeugen der Shoah sterben, zieht die Bewegung vom Wahrheitsanspruch zur Kritik nach und wird dort nicht stehenbleiben, sie wird auch Positionen formulieren, bei denen beides oder keins von beidem möglich wird.
Richard Wolin widmet sich in seinem Beitrag der „Vernunftkritik nach den Schwarzen Heften“. Seine These ist, dass der französische Strukturalismus, verbunden mit den Autoren Derrida und Foucault, auf parallele Weise in eine politische Sackgasse geführt habe, wie der bei Heidegger zu findende Antihumanismus. Es geht ihm um die ethischen, politischen und kulturellen Implikationen einer Vernunftkritik, die auf Heteronomie statt Autonomie setzt. Heideggers „kriegslüsterne und zivilisationsfeindliche Haltung“ (S. 405) verknüpft Wolin mit Nietzsches Absage an eine humanistische Ethik und arbeitet die „aggressiven, nihilistischen Dimensionen“ (ebd.) des Denkens Heideggers heraus, das in dem Moment reaktionär geworden sei, in dem dieser das vernunftbegabte Subjekt der Aufklärung suspendiert habe. Das Kriterium der Bewertung ist also ein ethisches, das dort gefordert ist, wo Heidegger sich einer „namenlosen höheren Gewalt“ zuwende, „jenen mysteriösen ‚Schickungen des Seins’“ (S. 408). Mit dieser Bewegung weg von Autonomie und Verschiebung hin zu Heteronomie verbindet sich auch die Kritik Wolins an der postmodernen französischen Vernunftkritik und nimmt damit eine Diskussion auf, die auch Günther Mensching geführt hat. Derridas Absage an normative Aussagen, die Dekonstruktion, seine „permanente Auflösung aller Ansprüche an Bedeutung“ (S. 412) setzt Wolin in eins mit Heideggers Absage an normative Begründungen von Ethik. Wolins Metakritik der Kritik der Vernunft trifft in derselben Weise auch Foucaults Genealogie und dessen Kritik der Macht.
Die notwendige Kritik an Heideggers Texten – Christian Geulen weist präzise und zu Recht daraufhin, diese „als Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus zu lesen“ (280) – kann jedoch schlechterdings nicht hinter die Erkenntnisse einer „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno) zurückgehen. Und es ist bemerkenswert, wie stumm die Nachfolger_innen der Kritischen Theorie bei dieser Siegener Tagung blieben. Eingedenk des Leids der Ausgegrenzten und Verfolgten, besteht die Aufgabe, Vernunft kritisch zu reflektieren. Das bedeutet auch, die anthropologische Grundbedingung in den Blick zu nehmen, nach der menschliches Leben heteronom beginnt.
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