Gewalt als treibende Kraft? Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2020

 

Zu: Peter Handke: Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, Taschenbuch, 160 Seiten, ISBN: 978-3-518-42940-2, Preis: 20,00 Euro

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Das zweite Schwert ist nicht aus Stahl. Es besteht aus Worten. Nicht nur mit dem Titel greift Peter Handke biblische Metaphern auf (Lk 22, 36-38; Hebr 4,12). Der Roman hätte auch „Die Rache ist mein, spricht der Herr“ (5. Mose 32,35) heißen können, aber dieses Zitat hatte schon Leo Tolstoi seiner „Anna Karenina“ vorangestellt. „Das zweite Schwert“erzählt von Rachegelüsten, die den Ich-Erzähler zu einer Reise nötigen. Er bricht auf, um einer Kritikerin den Garaus zu machen. Auch dieses literarische Motiv ist in der neueren Literatur – wie etwa in Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) – bekannt.

So plötzlich die Gewissheit zur Rache über den Protagonisten hereinbricht, so unbestimmt verfolgt er sein Ziel. Der Ich-Erzähler wird immer wieder von seinen Wegen, der Natur und den Begegnungen unterwegs – aber auch von der Muße und seiner Menschenscheue – derart in den Bann gezogen, dass er darüber vergisst, Rache zu nehmen. „Und eine namenlose Freude packte mich, am Nichtstun jetzt, und am weiteren Lassen und Nichtstun, weiter so und lassen, und so weiter, und so fort“ (S.38).

Seine Irrungen und Wirrungen finden an der Endstation eines Schienenersatzfahrzeugs ein Ende. Alle Fahrgäste strömen in die Bahnhofsgaststätte. Auch er. In einem großen Saal wird ein Fest gefeiert. Dort sitzen all jene – und noch mehr – denen der Protagonist auf seinem Weg begegnet ist. Ein buntes Völkchen ist versammelt. Nachdem der Ich-Erzähler sich umgesehen hat, nimmt er zuletzt im hinteren Teil der Gaststube eine Leinwand wahr. Auf ihr flimmert seine Kritikerin mit anderen ihrer Zunft. Niemand der Anwesenden achtet auf die Talkrunde. Seine Kritikerin ist nur zweidimensional zu sehen. Sie ist nicht beim Fest dabei. Sie wird nur an die Wand geworfen. Sie ist ausgeschlossen. Könnte das nicht heißen, so dämmert es ihm, dass das die eigentliche Rache ist? Sie ist beim Fest nicht mit dabei und das ohne sein Zutun. Ein Gefühl der Erleichterung, nicht zum Mörder geworden zu sein, durchströmt ihn. Alle Rachegelüste, die erlittene Kränkung und die unbändige Wut fallen von ihm ab.

Mich hat die Schlussszene sehr an das Gleichnis vom großen Abendmahl bei Lukas (Lk 14,15ff) erinnert. Nicht von ungefähr stellt Peter Handke seinem neuesten literarischen Werk eine ungewöhnliche Stelle aus dem Lukasevangelium voran: „Und Er sagte zu ihnen: Wer jetzt einen Geldbeutel hat, nehme den, ebenso einen Reiseranzen, und wer keins davon hat, verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert!… Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter! Und Er sagte zu ihnen: Das genügt.“ (Lk 22, 36-38).

„Das zweite Schwert“ ist eine geistvolle Lektüre, ein nicht enden wollendes Selbstgespräch, ein wiederholtes Erzählen von Aufbruch – viele Schritte und Plätze sind Handke-Lesern schon bekannt –,  ein immer wieder gründliches Beobachten dessen, was in das Blickfeld gerät, ein Schweben und Eintauchen in Handkes Sprachkosmos, eine in die Natur lockende Frühlingsgeschichte und vieles mehr.

Das Thema Gewalt als treibende Kraft, die scheinbar verwirrend aus dem Nichts hervortritt, ist ein Grundthema bei Peter Handke. Rache wird hier auf frappierende Art und Weise ad absurdum geführt. Das ist hohe literarische Kunst.