Predigt zu Joh 18, 28 am 20.03.2020 in der Markuskirche, Pfarrer Jochen Remy*
Liebe Gemeinde,
„mich dürstet.“
über dieses kurze Wort aus dem Johannesevangelium möchte ich heute in diesen schwierigen Zeiten mit Ihnen nachdenken.
Schaut man sich Passionsbilder von Jesu Kreuzigung aus der Kunstgeschichte an, dann fallen einem direkt zwei Typen von Darstellungen auf.
Sehr viele Werke betonen die Göttlichkeit Jesu.
Ein strahlender Held mit makellosem Antlitz blickt uns vom Kreuz herab an. Dieser überhöhte Christus soll zeigen, dass am Ende Gott triumphiert.
Das Kreuz ist notwendige Durchgangsstation zur mitgedachten Auferstehung.
Karfreitag wird vom Ostermorgen aus gelesen. Ausgedeutet.
Jesus als glorreicher Held zeigt, dass nicht die selbsternannten Machthaber bestimmen, sondern dass Gott der eigentliche Herr des Geschehens ist.
Und in dieser Botschaft liegt durchaus etwas Tröstliches.
Es ist beruhigend, einen starken Partner an seiner Seite zu haben. Auf den man sich verlassen kann.
Der mit Macht einem beisteht.
Wer es schafft, sich das Bild eines allmächtigen Gottes zu bewahren, wird daraus Hoffnung und Kraft ziehen.
Aber ich will die beiden Nachteile, die sich aus diesem Gottesbild ergeben, nicht unterschlagen.
Für unseren menschlichen Geist ist die Diskrepanz zwischen einem allmächtigen und gütigen Gott und dem Elend der Welt nicht wirklich auflösbar. Daran kann man verzweifeln.
Und dieser mächtige Gott ist zudem so unnahbar, dass selbst für Gläubige es mitunter schwer ist, die spirituelle Mitte nicht zu verlieren.
Je mächtiger und stärker ich Gott denke, desto weiter ist er von meiner Lebenswirklichkeit entfernt, in der ich Erfahrungen von Schwachheit und Ohnmacht machen muss.
Der zweite Typus von Passionsbildern hat daher versucht, die menschliche Seite Jesu in den Vordergrund zu rücken.
Diese Gemälde zeigen einen gemarterten Jesus, mit schmerzverzerrtem Gesicht, sein Körper über und über mit Wunden bedeckt.
Dieser Jesus ist uns in seiner ganzen Verwundbarkeit näher.
Er hat seine himmlische Macht in irdische Ohnmacht getauscht.
Auch wenn er hoch am Kreuz hängt, bleibt mir immer nur die Perspektive, auf Jesus herabblicken zu müssen, denn in ihm und seinem Elend ist der Tiefpunkt menschlichen Leids verdichtet.
Ganz egal, was für Nöte ich in meinem Leben schon erfahren habe und noch durchleiden werde, Jesus kennt dieses Jammertal und zeigt mir dadurch, dass er mir nahe ist.
Viele von uns haben in diesen Tagen berechtigte Angst vor dem Coronavirus und seinen Folgen.
Corona kommt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt Krone.
Die Assoziation zur Dornenkrone Jesu mag zufällig sein und doch kann sie mich verblüffen.
Wenn es gut läuft, dann gibt mir der Blick auf den leidenden Jesus die Kraft, auch mein ganz privates Kreuz zu tragen.
Ich weiß mich mit Jesus geschwisterlich verbunden.
Wenn es schlecht läuft, dann hat dieses Jesusbild jedoch zwei gravierende Nachteile. Zum einem ist es wenig einladend, eine Nachfolge anzutreten, die mit so großem Leid verbunden ist. Mir macht gerade diese Betonung der Leidensbereitschaft Angst.
Und jemand, der freiwillig so viel Leid auf sich genommen hat, der kommt mir dadurch nicht zwingend näher, sondern der entfernt sich womöglich ebenso rasant von mir, weil ich selbst so viel Opferbereitschaft wahrscheinlich nicht aufbringen könnte. Die meisten Worte Jesu am Kreuz würde ich dem ersten Bildtypus zuordnen. Es ist bewundernswert, was und wen Jesus alles in seinem Todeskampf in den Blick nimmt. Der Ausruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ist dem zweiten Bildtypus zuzuordnen.
Aber die große Ausnahme wird durch unser schlichtet „Mich dürstet“ gebildet. Ich wüsste keine andere Stelle im Neuen Testament, an der Jesus so sehr auf sich selbst und seine eigene Bedürftigkeit schaut.
Mir geht diese bescheidene Bitte, man möge ihm seinen Durst stillen, zu Herzen.
Und ich fühle mich ihm dadurch verbunden.
Mir kommen Bilder von frisch Operierten in den Sinn, deren Lippen nur angefeuchtet werden konnten, weil sie zu dem Zeitpunkt nichts trinken durften.
Durst ist ein so existentielles Bedürfnis, dass die deutsche Sprache keinen Begriff für seine Stillung kennt.
Wenn ich keinen Hunger mehr habe, dann bin ich satt. Wenn ich keinen Durst mehr habe, dann bin ich.. .?
Durst kann eben nicht für einen längeren Zeitraum beseitigt werden.
Und Jesu Durst wird durch einen römischen Soldaten gestillt, der einen Schwamm auf seine Lanze spießt und diesen mit Essigwasser tränkt.
Meine Schüler wundem sich immer wieder über diese Szene, sind manchmal sogar empört, weil sie dahinter eine weitere Grausamkeit vermuten.
Aber mit Essig versetztes Wasser war ein normales Getränk römischer Soldaten, weil durch die Zugabe von Essig das Wasser haltbarer und bekömmlicher war als ohne.
Ob hier ein erstaunlicher Akt von Barmherzigkeit zu beobachten war oder ob durch die Gabe auf perfide Art und Weise derTodeskampf noch verlängert werden sollte, lässt sich heute nicht mehr sicher beurteilen.
„Mich dürstet.“
Gerade in Zeiten wie diesen macht es Sinn, einmal darüber nachzudenken, was mir existentiell wichtig ist.
Welcher Durst, welcher Hunger ist so bedeutend, dass ich ohne seine Stillung nicht auskommen kann?
Vermutlich gibt es keine Antwort, die über Essen, Trinken und einen sicheren Platz zum Schlafen für alle Menschen gleichermaßen zutreffen wird.
Die einen mögen gerade verzweifeln, weil sie ihrer Arbeit nicht nachgehen dürfen, während den anderen die Auszeit vielleicht sogar ganz gelegen kommt.
Die Schließung von Kinos, Theatern oder Konzerthallen ist manchem völlig egal, während für andere gerade eine Welt einbricht.
Und die Beschränkung auf die Familie in den eigenen vier Wänden genießt ein Teil, während andere sich lieber in Einzelhaft begeben würden.
Aber diese zwangsweise Infragestellung von Gewohnheiten bietet neben allem Beängstigendem auch die Chance, sich selbst und seine Verhaltensmuster zu hinterfragen.
Die Welt nach der Coronakrise wird nicht mehr so sein, wie sie vorher war. Das macht Angst, weil wir noch nicht abschätzen können, was oder wen wir aufgeben müssen. Aber dahinter verbirgt sich durchaus auch die Chance, noch einmal neu starten zu können.
Mir persönlich geht es nahe, dass diese unvorstellbare Seuche vermutlich hätte vermieden werden können, wenn alle Welt sich an die biblischen Speisegebote gehalten hätte.
Wir können, nein, wir müssen uns immer wieder neu in Gedächtnis rufen, dass Gott uns schon den längst den Maßstab für ein richtiges Verhalten an die Hand gegeben hat. Wir müssen aber wohl immer wieder neu lernen, diesen Maßstab auf unser eigenes Leben zu übertragen.
„Mich dürstet…“ – der Jesus, der zu seinen eigenen Bedürfnissen steht und sie umsetzt, ohne die Gemeinschaft der einzelnen Glieder dadurch zu gefährden, dieser Jesus ist mir nahe.
Näher als es die eingangs erwähnten Bilder vom triumphierenden Christus oder vom geschundenen Jesus sein könnten.
Für einen kleinen Augenblick kann ich die Person Jesu entdecken, bevor diese wieder hinter seine Mission zurücktritt.
Jesus ist eben nicht wahrer Gott oder wahrer Mensch, sondern wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich.
Erst die Symbiose aus beiden Vorstellungen rundet das Bild ab.
Die Stärke und Schwachheit zugleich geben mir Kraft in diesen schwierigen Zeiten mein Leben auf Gott und sein solidarisches Wort hin auszurichten.
Amen
Und bleiben Sie gesund!
*Pfarrer Jochen Remy ist Pfarrer an zwei Schulen in Aachen. Er unterrichtet Ev. Religion, und an der Viktoriaschule – ein evangelisches Gymnasium in der Trägerschaft der EkiR – betreut er die Schulgemeinde. Pfarrer Jochen Remy lebt in Herzogenrath und gehört als ständiger Gast ohne Stimmrecht zu unserem Presbyterium.
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