Siegfried Niehaus, -Die Aplerbecker-Mark- wie sie wurde, was sie ist, hrsg. von Christoph Fleischer, Dortmund 1994

Es ist also in der Tat ein Artikel aus dem Jahr 1994, den ich hier im Jahr 2021 dokumentiere. Nach meiner Kenntnis ist die Aplerbecker Mark als Ortsteil noch weiter gewachsen als damals, aber in den Grundstrukturen doch gleich geblieben. Die alte Bebauung, um die es im Artikel geht, ist in der neuen Mark enthalten, wie die Hefe im Kuchen. Die alte Mark ist in der Kleinen Schwerter Straße genauso enthalten, wie in der Knyphausenstraße. Manche Straßen sind natürlich komplett neu in einem Wohngebiet in der modernen Bebauung der Siebziger Jahre und danach. In Baulücken oder aus Wiesen sind immer wieder kleine Baugebiete hingekommen.

Der Vortrag von Siegfried Niehaus wurde im Jahr 1986 und von mir als Tonbandmitschnitt abgetippt und redaktionell bearbeitet.  Das daraus entstandene bebilderte Heft habe ich jetzt einfach gescannt.

später folgt hier eine PDF-Datei

Beispiel aus der Ausstellung Shares History, Pressearbeit und Aufsatz, Fröndenberg 2021

Ernst Gräfenbergs Kampagne für die Rechte der Frau

Jul 8, 2021, von Prof. Atina Grossmann | The Cooper Union

Genehmigung durch: Margarete Schwind, SCHWINDKOMMUNIKATION, Margarete Schwind und Sabine Schaub GbR, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Knesebeckstr. 96, 10623 Berlin

Die Beispiele des Gräfenberg-Pessars aus der virtuellen Ausstellung Shared History Project, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Die „Erfindung“ des Intrauterinpessars von Dr. Ernst Gräfenberg ist Teil einer transnationalen – konkret: einer gemeinsamen deutsch-jüdisch-amerikanischen – Geschichte von Sexualreform und Bevölkerungspolitik. Die Bewegung war geprägt vom einem breiten„Konsens über Mutterschaft und Eugenik“ der gesunde Mutterschaft und Fortpflanzung forderte – und jeweils in unterschiedlich radikaler Form – die Legalisierung von Homosexualität und Abtreibung und für das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung über ihren Zugang zu sicheren Verhütungsmethoden eintrat.

Ernst Gräfenberg wurde 1881 geboren; seine jüdische Familie lebte in Adelebsen, einer kleinen Stadt nahe Göttingen. Sein Vater besaß einen Eisenwarenhandel und war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Ernst Gräfenberg studierte Medizin in Göttingen und München, ursprünglich mit der fachärztlichen Ausrichtung der Augenheilkunde, und schloss im Jahr 1910 seine Ausbildung in Geburtskunde und Gynäkologie in Kiel ab. Seine gerade erst begonnene Laufbahn als Arzt und Wissenschaftler in Berlin wurde unterbrochen, als er im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ließ sich Gräfenberg mit einer Praxis auf dem Kurfürstendamm mitten im belebten Berliner Geschäftszentrum Charlottenburg nieder, die bald florierte. Der Bezirk stand wie kein anderer für die experimentell-modernistische und jüdisch geprägte urbane Kultur der Weimarer Republik. Parallel übernahm er wie viele seiner jüdischen Kollegen einen Posten im umfassenden kommunalen Gesundheitssystem der Stadt, das von Ideen des Sozialismus bzw. Kommunismus geprägt war, und arbeitete als Chefarzt der Gynäkologie im städtischen Krankenhaus des Arbeitervororts Britz.

Im Jahr 1932, kurz vor ihrer Entlassung im Rahmen der von den Nazis betriebenen „Gleichschaltung“, waren in einer Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 4 % weit mehr als die Hälfte der 6.785 Ärztinnen und Ärzte an den städtischen Krankenhäusern Berlins Jüdinnen und Juden. Ab 1933 durften jüdische Ärztinnen und Ärzte, davon mindestens 270 von 722 Ärztinnen in Berlin, nicht mehr in den öffentlichen, Kassenpatienten offenstehenden Ambulatorien praktizieren.

Ein im Jahr 2016 in Haaretz erschienener Beitrag feierte Gräfenberg wegen seiner anderen (nach seinem Tod erkannten) Errungenschaft als den „Arzt, der den G-Punkt entdeckte, falls es diesen gibt“ und beschrieb ihn als Mann, „der seiner Zeit voraus war.“ Tatsächlich war er aber auch und gerade ein Mensch seiner Zeit. Sexualwissenschaftler, Ärzte, Sozialarbeiter und Politiker der Weimarer Republik beklagten den „Graben zwischen den Geschlechtern“, der sich im Ersten Weltkrieg aufgetan hatte, ebenso wie die offensichtlich unter den „neuen Frauen“ der 1920er Jahre verbreitete Verachtung für Ehe und Mutterschaft. Frauen hatten das Wahlrecht erhalten und einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Unabhängigkeit erreicht – die Folge der neuen rationalisierten Wirtschaft, in der Angestellte und Fließbandarbeiter gebraucht wurden. Ebenso eröffneten sich den Frauen neue berufliche Chancen unter anderem in Medizin, Sozialarbeit, im Journalismus, in der Fotografie und sogar in der Rechtspflege. In seiner wissenschaftlichen Forschung befasste sich Gräfenberg mit der weiblichen Sexualität und dort besonders mit dem so schwer zu erreichbaren vaginalen Orgasmus, dem in dieser Zeit seit neuestem große Bedeutung als zentraler Aspekt harmonischer heterosexueller Beziehungen zugeschrieben wurde. Dieser, so die Annahme, hing vom Zugang der Frauen zu sicheren und verlässlichen Verhütungsmethoden ab.

Im Jahr 1928 organisierte das neu gegründete Deutsche Komitee für Geburtenregelung in Zusammenarbeit mit dem Verband Berliner Krankenkassen das erste Ärzteseminar zum Thema Geburtenregelung im Berliner Virchow-Krankenhaus. Die meisten der ungefähr 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Mitglieder des Vereins sozialistischer Ärzte und/oder des Bundes deutscher Ärztinnen; viele von ihnen kamen aus jüdischen Familien.

In seinem Vortrag fasste Gräfenberg seine seit fast zehn Jahren betriebene experimentelle Forschung an Intrauterinpessaren (IUP) zusammen; diese waren erstmals von den deutschen Ärzten Richard Richter (1909) veröffentlicht und Walter Pust (1923) entwickelt worden. Gräfenberg hatte das IUP weiterentwickelt als einen Ring mit Seidenfäden, mit dem Spermien abgewehrt wurden. Das Gerät stellte eine „elegante“ medizintechnische Lösung dar, so formulierte er es, die Frauen vor häufigen Schwangerschaften und der Gefahr einer Sepsis oder einer möglichen Unfruchtbarkeit bewahrte, die mit einer illegalen Abtreibung verbunden war. Gräfenberg pries den Ring als besonders hilfreich für Frauen des Proletariats an, die unter Umständen wegen schlechter hygienischer Bedingungen, des Unwillens ihrer männlichen Partner und allgemeiner „Unkenntnis“ nicht in der Lage waren, ein Diaphragma (oder Pessar) richtig und regelmäßig zu verwenden. Sein Publikum begegnete dem Vortrag mit großer Skepsis, so dass der „Gräfenberg-Ring“ weiterhin wegen der weitverbreiteten Zweifel an seiner Sicherheit und Zuverlässigkeit umstritten blieb. Während die Ärzte das IUP in ihr Angebot an Verhütungsmitteln aufnahmen, wurden in den Ehe- und Sexualberatungsstellen für Frauen der Arbeiterklasse weiterhin den weniger invasiven und von den Frauen selbst eingesetzten Verhütungsmitteln der Vorzug gegeben, wobei allerdings regelmäßig darauf hingewiesen wurde, wie wichtig medizinische Anleitung und Kontrolle seien.

Davon unbeeindruckt präsentierte der Sexualwissenschaftler 1929 sein IUP auf dem Londoner Kongress der Weltliga für Sexualreform. Diese internationale Vereinigung, die Wilhelm Reich, Alexandra Kollontai und Bertrand Russell wie auch Aktivistinnen und Aktivisten aus Indien und Japan zu ihren Unterstützern zählte, trat für sexuelle Freiheit, die Rechte von Homosexuellen und die Legalisierung von Abtreibungen ein. Inspiriert war die Liga in ihrer Haltung von der frühen bolschewistischen Revolution und dem Leitsatz des von Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin: Per Scientiam ad Iustitiam.

Im gleichen Jahr hielt Gräfenberg einen Vortrag auf der Internationalen Konferenz für Geburtenregelung in Zürich. Margaret Sanger, der Vorkämpferin der Verhütung in den Vereinigten Staaten, war es gelungen, Vertreter und Vertreterinnen einer auffallend großen Vielfalt von Gruppierungen und politischen Haltungen als Teilnehmende der Konferenz zu gewinnen. Anwesend waren überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen und Mitglieder des Bundes deutscher Ärztinnen, sowie Dr. Hans Lehfeldt und Dr. Felix Theilhaber, beides Kollegen von Gräfenberg, die in den von Laienorganisationen der Sexualreformbewegung getragenen Beratungsstellen tätig waren. Auch Dr. Charlotte Wolff, die in einem Ambulatorium der Schwangerenfürsorge des Verbandes Berliner Krankenkassen arbeitete, nahm teil, wie auch Eugeniker, die zum Teil von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurden.

Auf der Züricher Konferenz mit ihren medizinischen Vorträgen – aber auch gemeinsamen Abendessen, Tänzen und Ausflügen in die Berge der friedlichen Schweiz – wurden Verbindungen geknüpft und intensiviert, die sich nur wenige Jahre später als lebensrettend herausstellen sollten, als viele der Teilnehmenden, darunter auch Hans Lehfeldt, Felix Theilhaber und Charlotte Wolff, aus Deutschland flüchten mussten. Eine weitere Folge dieser Konferenz waren globale Kooperationen nach dem Krieg und die Entstehung der International Planned Parenthood Federation. Kurze Zeit später organisierte die Weltliga für Sexualreform einen von radikaleren Positionen gekennzeichneten Kongress in Wien mit der Unterstützung des sozialistisch regierten Rathauses der Stadt. Es kann angenommen werden, dass in dessen Ausstellung von Verhütungsmitteln auch Gräfenbergs neuer Ring gezeigt wurde.

 

Raffael (1483 – 1520), Hinweis 2, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2021

Zur weiteren Vorarbeit zum Ausstellungsbesuch in Hamburg habe ich mir etwas Lesestoff unter medimops.de besorgt, u. a. auch ein gut erhaltene Buch aus dem Jahr 1983:

Konrad Oberhuber: Polarität und Synthese in Raphaels ‚Schule von Athen‘, Urachhaus Verlag, Stuttgart 1983, broschiert, 128 Seiten im Großformat, Glanzpapier, 77 Abbildungen, zumeist Schwarz-Weiß, wenige in Farbe, ISBN: 3878383797, Preis: antiquarisch zu erwerben.

Ich beginne mit einem Zitat:

„Noch in den wenige Jahre früher entstandenen Fresken mit den Darstellungen der freien Künste im Appartamento Borgia im Vatikan, die, wie wir noch sehen werden, sicher eine der Voraussetzungen für Raphaels Werk waren, können wir außer durch Bücher, Aufschriften und Attribute die einzelnen Philosophen, Wissenschaftler, Gelehrten oder Künstler nicht voneinander unterscheiden. Auch bei Raphael bieten im Fresko (d. i. „Die Schule von Athen“, der Rez.) Aufschriften und sonstige Attribute wesentliche Hinweise, aber die einzelnen Gestalten sind zum lebendigen Ausdruck ihrer Gedanken geworden, ihre Handlungen kennzeichnen sie auch ohne Bücher als Menschen, deren Leben in der denkenden und einfühlenden Auseinandersetzung mit der Welt und ihren Problemen besteht. Dieses vollkommene Durchdrungensein von der eigenen Idee gibt den Gestalten die Freiheit, die wesentlich zum polyphonen Reichtum der großen Symphonie der Komposition beiträgt. Es ist dies die neugewonnene Freiheit und Individualität des Menschen der Renaissance, der sich in den freien Menschen der Antike wiedererkannte.“ (Ds. S 39)

Die Arbeit von Konrad Oberhuber ist zeitlos aktuell. In der eher unbedeutenden Industrie- und Wirtschaftsmetropole Mailand findet sich neben dem „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci kaum ein bedeutendes Werk der frühen Neuzeit. Eine Ausnahme ist da der sogenannte „Karton“, eine gigantische Vorzeichnung für das og. Fresko.

Der Karton „misst 2745 = 7950 mm und ist aus etwa 210 Papierstücken zusammengesetzt“. Diese Vorlage des Freskos ist schmaler als das Originalfresko, da sie auf die Figuren fokussiert, die sich insgesamt im Mittelteil des (gemalten) Gebäudes befinden. Gebäudeskizzen sind zwar auch enthalten, aber nicht als geschlossene Abbildung.

Die Bilder wurden vom Karton mit einer Durchstechmethode auf das Original übertragen, aber auch in einer gewissen Freiheit. Die Vorlage ist nicht immer mit dem Original identisch.

Im gesamten Buch wird das oben beschriebene Ergebnis detailliert dargestellt und dabei immer wieder der Karton mit dem Original und anderen Werken verglichen. Dazu zählen neben Vorentwürfen auch das zuvor entstandene Fresko, die sogenannte „Disputa“, ein ebenso großes Wandgemälde, das in den vatikanischen Museen der „Schule von Athen“ genau korrespondiert.

Es soll eine theologische Diskussion über das Abendmahl darstellen und zeigt die christliche Religion aufgeteilt in Himmel und Erde.

Mich wundert ja immer, wieso die Diskussionen um Luthers Reformation und gerade der Streit zwischen dem Vatikan und den Fürsten in der Kunst der Renaissance kaum Widerhall findet, doch taucht ganz am Ende der Ausführungen Oberhubers ein Motiv auf, zu dem Luther später Stellung beziehen wird: Im Jahr 1512 (gerade 5 Jahre vor der reformatorischen Entdeckung) wird in Rom ein Dogma beschlossen, die „Unsterblichkeit der Seele“, basierend auf der platonischen Philosophie.

Während bei Raffael noch Platonismus und Aristotelismus zur Einheit zu finden scheint, überwiegen in der damaligen Gegenwart die Gegensätze. Der Aristoteliker Pomponazzi „Über die Unsterblichkeit der Seele“, widerlegte die päpstliche Doktrin, und zeigte so schon den Weg in die Neuzeit auf in ihrer „Herauslösung aus dem einheitlichen religiösen Weltbild des Mittelalters.“ (S. 114).

Hier tritt nach Rudolf Oberhuber Rudolf Steiner auf den Plan und erinnert an eine die Vielzahl einzelner Bestrebungen vereinende philosophische Debatte, wobei Steiner m. W. einen interreligiösen Dialog verfolgt, der auch den Buddhismus und den Hinduismus einbezieht und damit die Debatte eher weitet als neu christlich verengt.

Implizit wird hier also schon der Blick auf die Wirkungsgeschichte Raffaels frei, obwohl es ja zunächst um die Entstehung gehen sollte. Aber diese Entstehung war eben nicht nur die Meisterleistung eines künstlerischen Genies, sondern auch eine gute inhaltliche-philosophische Zeitansage. Im Gegensatz zur „Disputa“ ist der Himmel in der „Schule von Athen“ offen, soweit man es aus dem Gebäude heraus sehen kann. Hier ist eine lebendige Diskussion im Gang, in der dogmatische Festlegungen kaum nützlich zu sein scheinen. Aber ob dieser Hinweis von Papst Julius dem II. und Leo X., seinem Nachfolger, verstanden wurde, müssen wir nicht beurteilen.

 

„Der Rest ist Rauschen“, Rezension von Markus Chmielorz, Dortmund 2021

Rezension zu: Raabe, M., (2021), Die letzten Stunden Walter Benjamins, Eine Rekonstruktion und eine Wanderung, Leipzig: Trottoir Noir, URL: http://www.trottoirnoir.de/?page_id=472, [2021-07-31]

Zeitgleich wird die Rezension auch hier veröffentlicht: http://frei-und-gleich.de/2021/08/01/der-rest-ist-rauschen/

 

334 Seiten, 323 Fußnoten, drei Teile, eine Vorbemerkung und ein Anhang, dazwischen eine Zeitspanne von kaum zwei Tagen, in denen dieser kleine Band mich in seinen Bann gezogen hat. Marcel Raabe ist Literaturwissenschaftler, Soziologe und Historiker, und nur aus diesem Dreiklang konnte dieser kleine Band so entstehen, wie er vor uns Leser*innen liegt.

 

Marcel Raabe macht es dem Rezensenten leicht, seine Rezension mit nur einem Wort zu beginnen und abzuschließen: Lesen!

 

Akribisch hat der Autor Quellen gesichtet und zusammengetragen, die das einlösen, was der Titel verspricht, in „Die letzten Stunden“ Walter Benjamins einzutauchen. Was so rational, mit einem scheinbaren Übergewicht an Kognition daherkommt: links, gerade Seiten, der Text des Buches und rechts, ungerade Seiten der „Fußnoten-„apparat, das entwickelt mit dem Verstreichen der erzählten Zeit und dem Verstreichen der Zeit, die die Lesenden brauchen, einen quasi mimetischen Sog. Kursiv gedruckt: Die erzählte Zeit der (abgebrochenen) Wanderung des Autors auf der Fluchtroute Walter Benjamins in umgekehrter Richtung, zurück vom katalanischen Portbou über die Ausläufer der Pyrenäen ins französische Banyuls-sur-Mer.

Foto: Markus Chmielorz

Der Autor ruft auf die Bühne: Walter Benjamin und Freund*innen, Fluchthelfer*innen, Weggefährt*innen, zufällig Beteiligte, Täter*innen und den langen Schatten des Faschismus, der sich todbringend über Europa und die Welt gelegt hatte. Und so spinnt er aus den Fäden der vielen Erzählungen einen Strang vom Morgen des 24. September 1940 bis zum Freitag, dem 27. oder Samstag, dem 28. September 1940, was mit der Grablegung endet (vorerst, denn danach beginnt die Geschichte davon, wie Benjamins Tod in die Welt kommt), beginnt mit Begegnung Walter Benjamins und seiner Fluchthelferin Lisa Fittko. Marcel Raabe macht Geschichte anhand seines akribischen Quellenstudiums plausibel: der Tod Walter Benjamins kein Mord, sondern eine Entscheidung für Suizid angesichts der für ihn ausweglosen Lage im katalanischen Grenzort (mehr soll an dieser Stelle nicht nacherzählt werden, um den Leser*innen die eigene geradezu kriminalistische

[Nach-]Arbeit zu ermöglichen); unterschiedliche Angaben über den Todeszeitpunkt verschiedenen bekannten und unerkannt gebliebenen Erzähler*innen geschuldet; Archive ziehen um, Spuren verlieren sich; aus Walter Benjamin wird Benjamin VValter (Abnm.: ein deutsches W gibt es im Spanischen nicht, d. Redakteur).

 

Auf Walter Benjamins Grabstein in Portbou, zu dem es gar kein Erdgrab gibt, auch nicht gab, steht: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ Ein Zitat Walter Benjamins, Über den Begriff der Geschichte. Benjamin zeigt sich darin als ein früher Vertreter des systemischen Denkens, der begriffen hat, dass diejenigen, die so gekonnt Kultur von Barbarei zu unterscheiden gewohnt sind, das eine nicht ohne das andere haben können. Was also gepflegt, bebaut und vereehrt werden will (die lateinischen Bedeutungen des Wortes „colere, von dem sich unser Wort „Kultur“ ableitet), schlägt um in Unmenschliches, Rohes, Grausames. Von dieser Grenze spricht Walter Benjamin, der seine letzte Grenze am Coll de Rumpisó in den Pyrenäen fliehend, mühsam, auf- und absteigend überschreitet. Hatte er da die (angebliche) Manuskriptaktentasche dabei, das Geschriebene, dessen Rettung ihm fast wichtiger war als seine eigene?

 

Hören wir zum Abschluss erst Marcel Raabe, dann Benjamin selbst und einen Nachruf von Berthold Brecht:

 

„Das Fragmentarische als Form ist eigentlich ein Resultat der Unterbrechung wie der Tod Benjamins einen Abschluss des Passagenwerks unterbrach.“ (S. 312)

 

„Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.“ (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk I, 576)

 

„WB

selbst der wechsel der

jahreszeiten

rechtzeitig erinnert

hätte ihn zurückhalten

müssen

 

der anblick neuer gesichter

und alter auch

 

neuer gedanken heraufkunft

und neuer schwierigkeiten“ (Berthold Brecht)

 

 

Marcel Raabe

http://www.marcelraabe.de

 

Meine Wanderung von Banyuls-sur-Mer nach Portbou im Februar 2015 auf der sogenannten Ruta Walter Benjamin

http://frei-und-gleich.de/2015/03/13/1473/ und

http://www.der-schwache-glaube.de/2015/02/19/walter-benjamin-biografische-notiz-markus-chmielorz-dortmund-2015/

 

Weitere Texte von Christoph Fleischer und mir zu Walter Benjamin

http://frei-und-gleich.de/2019/10/01/kafka-benjamin-brecht-1934/

http://frei-und-gleich.de/2019/08/11/mit-walter-benjamin-unterwegs-rezension/

 

Beide Texte auch hier

Die eingeschriebenen Spuren des Faschismus – Kafka, Benjamin und Brecht 1934, Markus Chmielorz, Dortmund 2019

Mit Walter Benjamin unterwegs, Rezension von Markus Chmielorz, Dortmund und Christoph Fleischer, Welver 2019

 

 

Bericht: Dürer war hier. Eine Reise wird Legende, Joachim Leberecht, Aachen 2021

 

18.07.21 – 24.10.21

Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen

500 Jahre später – Dürer

 zum Anfassen

190 Exponate

Die Räume sind bordeauxrot, dunkelgrün und dunkelblaugrau gestrichen. Es herrscht geschäftiges Treiben. Überall sind Handwerker, die der Ausstellung den letzten Schliff geben. Die Beleuchtung jedes Bildes wird digital ausgemessen, für die letzten Bilder, die noch aufgehängt werden müssen, werden Striche an die Wand gemalt. „Erst gestern Abend ist der berühmte Hieronymus (1521) von Albrecht Dürer aus Lissabon eingetroffen. In letzter Sekunde. Corona hätte uns beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht, doch der Direktor des Museum Nacional de Arte Antiga aus Lissabon durfte durch diplomatisches Geschick persönlich als Kurier das Bild nach Aachen bringen“, erzählt Peter van den Brink, Direktor und einer der Kuratoren der Ausstellung des Suermondt-Ludwig-Museums in Aachen. Über sieben Jahre lang hat er mit seinem Team die große Dürer-Ausstellung über Dürers niederländische Reise 1520/1521, die ihn auch anlässlich der Krönung Kaiser Karls des V. für drei Wochen nach Aachen führte, vorbereitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Neben 20 Kupferstichen Dürers aus dem eigenen Haus werden 170 Leihgaben aus aller Welt, von namhaften Museen ebenso wie aus privaten Sammlungen, ausgestellt.

 

Bildnis der zwanzigjährigen Katharina

Gefragt nach seinem persönlichen Lieblingsbild, führt Peter van den Brink eine kleine Schar Interessierter zu einer auf den ersten Blick eher unscheinbaren Zeichnung Dürers. Es ist ein Porträt der zwanzigjährigen Katharina, eine zarte, rötlichbraun schimmernde Silberstiftzeichnung. Van den Brink ist ganz in seinem Element, er erklärt die Technik der Silberstiftzeichnung, bezeichnet Dürer als großen Künstler – wenn nicht den größten überhaupt –, der es versteht, die Gefühle der Porträtierten durch genaue Wiedergabe der Augen und der Mundpartie darzustellen. Ihn selbst berühre der leicht verschämte und zurückhaltende Ausdruck Katharinas. Darüber hinaus haben wir es hier mit dem ersten Gesichtsporträt einer jungen schwarzen Frau in Europa zu tun. Dürer lernte die junge Frau in Antwerpen kennen, wo er während seiner Reise mit seiner Frau Agnes wohnte. In die Kunstgeschichte ist das Bild unter dem Titel: „Die Mohrin“ eingegangen.

Foto: Bildnis Katharina

 

Das „schreib püchle“

Foto: schreib püchle

Grundlage für die Ausstellungskonzeption ist das „schreib püchle“, das der geschäftstüchtige Albrecht Dürer während seiner Reise in die Niederlande und ins Rheinland mit sich führte. Glücklicherweise sind neben akribisch aufgeführten Ausgaben und Einnahmen durch den Verkauf von Zeichnungen auch Treffen mit anderen Künstlern und Auftraggebern, Freunden und Personen des öffentlichen Lebens verzeichnet. Es ist im eigentlichen Sinn kein Reisetagebuch – die Ausstellungsmacher sprechen lieber von einem Rechnungsbuch – aber es ist bis heute eine Fundgrube für die Dürerforschung. Das Original ist bis auf eine Seite verloren gegangen, doch gibt es zwei Abschriften aus dem 16. Jahrhundert, die erhalten geblieben sind. Eine Abschrift aus dem Jahr 1550 befindet sich im Nürnberger Dürer-Archiv. Einige Seiten dieser Abschrift sind als digitale Version mit Übersetzung ins heutige Deutsch und Englisch in der Ausstellung aufbereitet worden. Insgesamt wäre eine stärkere multimediale Aufarbeitung und Vermittlung der Exponate wünschenswert: Besonders fehlt ein Audioguide als „Sehhilfe“, da doch vielen Besucherinnen und Besuchern die Bildsprache des 16. Jahrhunderts fremd sein dürfte. Peter van den Brink als ausgewiesener Kenner der Kunst des 16. Jahrhunderts hätte hier mit seinem Team noch mehr „Übersetzungsarbeit“ leisten können. Das Begleitheft zur Ausstellung enthält zwar detaillierte Einführungen zu allen Bildern, umfasst jedoch 170. Seiten und ist damit schlicht eine Überforderung für den Museumsgast.

 

Dürer und Erasmus von Rotterdam

Während seiner Reise traf Dürer den humanistischen Theologen Erasmus von Rotterdam und porträtierte ihn. Erasmus soll auf das Porträt erpicht gewesen sein – so van den Brink – doch zu seinem Unwillen hat er es nie ausgearbeitet aus Dürers´-Werkstatt zurückerhalten. Der Einfluss Erasmus und der sich ausbreitende Humanismus auf Dürer wird in der Ausstellung gut in Szene gesetzt. Dürers bekanntem Kupferstich Hieronymus im Gehäus (1514) hängt sein epochales Bild Derhl. Hieronymus im Studierzimmer (1521) gegenüber. Gleichzeitig zeigt die Ausstellung weitere Hieronymus-Bilder von niederländischen Künstlern, die sich von Dürers´ Hieronymusdarstellung inspirieren ließen. Dürers Bild, während seiner Reise in Antwerpen gemalt, zeigt Hieronymus im Halbporträt mit der Konzentration auf Gesicht und eine auf einen Totenschädel weisende linke Hand. Dieses biblisch-humanistische Memento-Mori (Ps 90,12) ist auf den Eintrittskarten und den Ausstellungsplakaten in Ausschnitten zu sehen.

Foto: dürer karl V. aachen

 

Dürer und Luther

Peter van den Brink weist darauf hin, dass in Dürers Rechnungsbuch die „Lutherklage“ enthalten war, wohl als Interpolation von Jacobus Probst, Präses eines kleinen Augustinerkonvents in Antwerpen, wie es Jeroen Stumpel in seinem Essay „Luther in Dürers Tagebuch“ nachzuweisen versucht (Ausstellungskatalog: Dürer war hier S. 121ff).

Albrecht Dürer wollte Luther persönlich aufsuchen, um einen Kupferstich von ihm zu machen. Dazu ist es vor seiner Abreise in die Niederlande 1520 nicht gekommen. In einem Brief an Spalatin schrieb Dürer über seine Wertschätzung Luthers: „Vnd hilf mir got, das jch zw doctor martinus luther kum, …., der mir aws grossen engsten geholfen hat.“ (nach Stumpel a.a.O. S. 125)

Dürer hat sich sehr für Luther und die Reformation interessiert. Er selbst war im Besitz mehrerer Schriften Luthers. Luthers Haltung zur Passion und sein „Sermon von der Betrachtung der heiligen Leiden Christi“(1519) waren ihm vertraut. (Siehe auch Dana E. Cowen in: Ausstellungskatalog, S.371ff)

Wie schon das Heironymusbild (1521) zeigt, führt der geistige Einfluss der Reformbewegungen zu einer neuen künstlerischen Produktivität mit traditionellen Bildmotiven. Da lässt sich besonders eindrucksvoll an den ausgestellten Zeichnungen Die Kreuzigung Christi 1521 und der „Querformatigen Passion“ ablesen.

 

Foto: Auschnitt aus Die Kreuzigung Christi (1521)

 

Der dicke Dürer

Die Kuratorinnen und Kuratoren nennen den Ausstellungskatalog liebevoll den „dicken Dürer“. Bei 680 Seiten und einem Gewicht von 4,5 kg wird da niemand widersprechen. Ursprünglich sollte der Katalog auf 500 Seiten begrenzt sein, doch Dank der Verschiebung der Ausstellung wegen der Pandemie und der daraus folgenden intensiven Homeoffice Arbeit – wie Peter van den Brink als Herausgeber humorvoll zum Besten gibt – wurde umso gründlicher am Ausstellungskatalog gearbeitet. 26 Essays namhafter Dürerkennerrinnen und -kenner führen in das Werk Dürers ein und machen dem in ausgezeichneter Bildqualität im Michael Imhof Verlag erschienenen Werk: „Dürer war hier“ und besonders dem Untertitel: „Eine Reise wird Legende“ alle Ehre.

Foto: Ausstellungskatalog

Joachim Leberecht (Text und Fotos)

Anmerkungen:

1  Jeroen Stumpel: Luther in Dürers Tagebuch,

in: Dürer war hier. Eine Reise wird Legende, Ausstellungskatalog, (Hg) Peter van den Brink, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S.121ff

2  zitiert nach, siehe Anmerkung 1, S. 125