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Michel Houellebecq, SEROTONIN, Roman, Übersetzung: Stephan Kleiner , Originalverlag: Flammarion, Originaltitel: Sérotonine, DUMONT, Köln 2019, gebunden, 330 Seiten, ISBN 978-3-8321-8388-2, Preis: 24,00 Euro
Link: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/houellebecq-serotonin-9783832183882/
Lebensgefühl
In Houellebecqs neuem Roman „Serotonin“ spiegelt sich das Lebensgefühl einer an Sinnlosigkeit leidenden Generation von Männern jenseits der Mitte vierzig wieder. Sie sehen keine Zukunft mehr und haben jegliche Bindung verloren. Wenn ihre Ideale nicht durch den realen Kapitalismus, der ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht, geschliffen wurden, so sind es gescheiterte Beziehungen, die sie am Leben verzweifeln lassen. Die Kraft für einen Neuanfang fehlt, die gekränkte Psyche wird mit Hilfe von Antidepressiva und Alkohol aufs Notwendigste stabilisiert, der Körper erleidet Libidoverlust, der beobachtende Geist weiß um die Ausweglosigkeit. Der Lebenstrieb verkehrt sich in den Todestrieb.
Florent-Claude, der Protagonist in „Serotonin“, leidet an Überdruss. Er hat eine gut dotierte Stellung und arbeitet für das französische Landwirtschaftsministerium. Seine Expertisen für Verhandlungspartner auf EU-Ebene werden geschätzt, aber oft nicht umgesetzt. Er lebt mit der viel jüngeren Japanerin Yuzu in einem Pariser Hochhaus. Auch ihrer ist er überdrüssig. Das liegt nicht an ihren solitären nächtlichen Ausschweifungen und ekelerregenden Sodomie-Sexpraktiken, sondern an einer durch sie zugefügten Kränkung. Die Entfremdung begann mit einem zufällig mitgehörten Telefongespräch, in dem Yuzu ihren Eltern erklärte, dass sie gewiss wieder in ein paar Jahren nach Japan zurückkehren würde. Ihre Zukunft plant sie ohne ihn und über seinen Tod hinaus. Das verletzt ihn und wirft ihn endgültig aus der Bahn. Er fühlt sich benutzt. Das ist der Moment, in dem er beginnt, seine eigene Zukunft konsequent vom Tod her zu denken. Wer dies tut, blickt zurück und fragt nicht nach der Gegenwart. Aus dieser Perspektive erzählt der Erzähler radikal und ohne jegliche Selbstschonung.
Eros
Der Verrat an der Liebe ist der Ausgangspunkt des Romans. Dieser ist nicht zufällig gewählt. In einem Exkurs über die Liebe (S.68f) greift Houellebecq auf Platons Gleichnis vom Kugelmenschen zurück. Was sich in seiner Schreibe leicht ironisch anhört, ist ernst gemeint und spiegelt die ewige Sehnsucht nach der verlorenen Hälfte wieder: Nur im Zusammenfinden der beiden Hälften gibt es Liebesglück.
Eine recht romantische Vorstellung von Liebe, die aber den Mythos Liebe aufrechterhält. Eros ist die treibende Kraft der geschlechtlichen Vereinigung. Die Erfahrung der Ganzheit geschieht, wenn beide Hälften sich vereinigen. Die Sehnsucht nach dem anderen und nach einer erfüllenden Liebe bleibt bestehen. „Man wird mir vielleicht vorwerfen, ich würde dem Sex zu viel Bedeutung beimessen, das glaube ich nicht“, (S.69) resümiert Florent-Claude. Hier deutet Houellebecq seine oft als abstoßend empfundenen Sexszenen in seinen Romanen zugunsten einer hilflosen und getriebenen Suche nach Liebe. Der Mensch ist Eros ausgeliefert. Darin liegen höchster Genuss und größte Gefahr.
Eremit
Der Welt und der Frauen überdrüssig, kehrt Florent- Claude allen den Rücken. Er kündigt seine Arbeit und seine Wohnung, kappt alle Beziehungen und mietet sich zunächst in einem Pariser Hotel in einem Raucherzimmer (!) ein. Ganz auf sich zurückgeworfen, nur abgelenkt durch Calvados und TV-Shows, erlebt und durchleidet er seine sinnentleerte Existenz. Dabei ruft er sich biographische Stationen seines Lebens ins Gedächtnis, beginnend mit seiner Kindheit. Er wuchs in einem behüteten Elternhaus voller Liebe auf. Seine Eltern macht er nicht für sein Scheitern in Liebesbeziehungen verantwortlich: er sucht – und das ist das Erstaunliche – die Schuld bei sich selbst. Diese Erkenntnis führt in Verzweiflung, in eine absolute Form von Einsamkeit, teilweise auch in Selbsthass und in Selbsttötungsphantasien. Sein ungeschönter Blick auf sich selbst führt aber auch zu dem Bedürfnis, noch einmal Kontakt aufzunehmen mit seinen ehemaligen Geliebten und Lebensgefährtinnen. Die Liebe zu Camille, seiner großen Liebe, und eine verklärende Sicht auf die Beziehung nehmen in seinen Reflexionen eine besondere Stellung ein. Messerscharf erkennt und bereut er, wie die Lust auf den kleinen Hintern einer Arbeitskollegin die Beziehung zu Camille scheitern ließ. Gepeinigt von der Phantasie, was hätte werden können, und der aberwitzigen Vorstellung, es gebe vielleicht noch eine Zukunft mit ihr, sucht er sie auf. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Tod und Wiedergeburt
Florent-Claude nähert sich Camille als Beobachter. Als unerkannter Voyeur dringt er in ihr Leben ein. Das ist selbst ihm unheimlich: „Tatsächlich beginnt mein Verhalten an diesem Punkt sich mir zu entziehen, …, und es beginnt deutlich von einer allgemeinen Moral und im Übrigen auch von einer allgemeinen Vernunft abzuweichen.“(S.279) Mit der Präzision des Teleobjektivs seines Gewehrs seziert er ihr Leben und beschließt ihren vierjährigen Sohn zu töten, da er nur noch einen Gedanken hat: Entweder er oder ich. Nur ohne das Kind, so denkt er, gibt es die Möglichkeit einer Zukunft mit Camille. Diese auf die Spitze getriebene Absicht, das Kind aus unerhörter Liebe zu töten, scheitert. Das ist der Tiefpunkt und der Wendepunkt, das ist seine Bekehrung zum Leben, nicht aus sich selbst, sondern wie von anderer Hand. Das ist der Beginn der „Hoffnung gegen alle Hoffnung“(S.295). „Man kann sich diesen Bereichen kaum anders nähern als durch Anwendung paradoxer, ja absurder Formeln.“ (S.295)
Florent-Claude hat eine religiöse Erfahrung gemacht. Houellebecq lässt ihn in eine „Nacht ohne Ende“ eintreten, die wie bei den christlichen Mystikern bekanntlich zur Gotteserfahrung und zu einer vertieften Gotteserkenntnis dazu gehört. „Man könnte auch sagen, dass, selbst wenn man persönlich das Spiel verloren, wenn man die letzte Karte ausgespielt hat, bei manchen – nicht bei allen – noch der Gedanke bestehen bleibt, dass etwas im Himmel die Dinge wieder in die Hand nehmen, willkürlich entschieden wird, die Rollen neu zu verteilen, die Karten neu zu mischen, …, obgleich einem bewusst ist, dass man das Eingreifen einer wohlgesinnten Gottheit gar nicht sonderlich verdient.“ (S.296)
Nicht nur in dieser Wendung ist die Nähe von „Serotonin“ zur christlichen Mystik, aber auch zu Paulus spürbar. Von Paulus Erkenntnis: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allemal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen“(Rö 3,23) und seiner Rede von der Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade, folgt eine direkte Linie über Augustinus und Luther. Sie ist für die christliche Anthropologie und Gotteserkenntnis wesentlich. Im Protestantismus fallen Selbst- und Gotteserkenntnis zusammen. Bei Florent-Claude kommt diese tief in unserer Kultur verwurzelte Deutungsmöglichkeit des Lebens und der Welt überraschend zu Tage. Eine protestantische Lesart von Houellebecqs neuem Roman ist möglich, drängt sich mir sogar auf. Gesteigert wird der Bezug zur christlichen Tradition in „Serotonin“ nur noch von den etwas willkürlich auftauchenden Sätzen, die den Schlussakkord des Romans bilden: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er sehr genaue Weisungen.“(S.335)
Aber Michel Houellebecq ahnte wohl, dass in den Rezensionen der großen Printmedien nicht auf die religiöse Thematik und Grundstruktur von „Serotonin“ eingegangen wird, deshalb sympathisiert er kurzerhand mit Christus und seinem „wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen.“(S.335)