Was für ein Buch! Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath  2020

Zu: Emmanuel Carrére: Das Reich Gottes, Matthes & Seitz, Berlin 2016, 524 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Übersetzung: Claudia Hamm, ISBN: 978-3-95757-226-4, Preis: 24,90 Euro

Link: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/das-reich-gottes.html

„Das Reich Gottes“ nennt Carrère sein Hauptwerk. Über sieben Jahre hat der französische Schriftsteller, Regisseur und Filmprodozent an seinem magnum opus geschrieben. Auf über fünfhundert Seiten nimmt Carrère seine Leserinnen und Leser mit in seine Auseinandersetzung über den christlichen Glauben, in gewohnt carrèrescher Manier.

Neben seinem starken Interesse an historischen Prozessen und einem breiten Wissen über die Entstehung des Neuen Testaments in der Antike, gibt er Einblick in seine existentiellen Glaubenskrisen, seine Bekehrung zum Katholizismus und seine Abkehr von demselben. Darüber zu schreiben fällt ihm nicht leicht, er schämt sich seiner katholischen Phase, protokolliert jedoch seine Hinwendung zum Glauben und sein altes wie sein neues Ich überzeugend.

Auch wenn der Glaube an die Auferstehung an seiner Vernunft abprallt, spürt er der Faszination der Erzählung der ersten Christinnen und Christen nach. Dort, wo der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte vom distanzierten Bericht über die Gründung der ersten christlichen Gemeinde ohne Ankündigung in einen Erlebnisbericht als Mitreisender auf Paulus Missionsreise wechselt, klinkt der Schriftsteller  Carrère sich ein und sein Interesse wird entfesselt.

Einfühlsam zeichnet er die Biographie des hellenistisch gebildeten Lukas nach. Neben seiner – fast möchte ich sagen heimlichen – Liebe zu Lukas, den er auch dem Jakobusbrief als Verfasser zuordnet, nähert er sich dem größten frühen Theologen der Christenheit, Paulus, in all seiner Widersprüchlichkeit an. Die Konflikte der judenchristlichen Gemeinde mit der paulinischen Lehre treten plastisch zutage – besser als in jeder neutestamentlichen Vorlesung. Zu seinem Verfahren bemerkt Carrère süffisant, dass alle Bibelexegeten die Schriften auf ihre Weise lesen und interpretieren.

Dass „Das Reich Gottes“ nicht nur eine gut lesbare Einführung in die Entstehung einer neuen Religion ist oder gar in historischen Betrachtungen stecken bleibt, kommt durch Carrères Drang nach existentieller Wahrheit und seinem Gegenwartsbezug. „Das Reich Gottes“ ist eine radikale Verschränkung und Durchdringung von Historie, Erzählung und einem endlichen, modernen Ich.

Carrère spürt wie ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher dem Essentiellen nach und bringt es zu Tage. Daher überzeugt mich auch der Titel des Werks, denn es geht Carrère letztlich um die Liebe, um das Verhältnis zum Gegenüber, zum Nächsten und zur Welt. Der Roman ist eine große Würdigung der (Liebes-)Kräfte, die im Glauben schlummern und sich immer wieder entfalten.

Carrère ist – wenn man so will – ein warmer Agnostiker, der mit seiner Ratio nicht nur seziert, sondern um die Kraft der Erzählung weiß und deshalb nicht aufhört zu erzählen. Am Ende des Buches berichtet Carrère, wie er der Einladung einer kleinen christlichen Kommunität folgt, die am Gründonnerstag das Ritual der Fußwaschung vollzieht. Es ist eine Kommunität, die es sich im Geist des Evangeliums zur Aufgabe gemacht hat, ihr Leben mit Menschen mit Behinderungen zu teilen. Hier gibt es nicht oben und unten, gebildet oder ungebildet, reich oder arm, hier gibt es nur Kinder Gottes.

Carrère fasst sein Erlebnis, einander die Füße zu waschen, so zusammen: „Und obwohl ich es etwas peinlich finde, finde ich es auch schön, dass Leute zu diesem Zweck zusammenkommen, um dem so nahe wie möglich zu sein, was das Bedürftigste und Verletzlichste in der Welt und in ihnen selbst ist. Das ist Christentum, sage ich mir.“(505) Und er erkennt, „dass ich an diesem Tag einen Augenblick flüchtig erahnt habe, was das Reich Gottes ist.“(526)

Wer „Das Reich Gottes“ zur Hand nimmt, braucht einen langen Atem. Der Roman hat etwas von einem Dedektivroman und ist doch viel mehr: Es ist ein Buch voller Weisheit, es ist ein Ringen um Wahrheit. Ich hoffe, es wird ein Klassiker. Das Zeug dazu hat es.

 

 

 

 

Lyrik aus London, Rezension und Interview, Christoph Fleischer Welver 2019

Zu: Lionel Johnson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2019, Softcover, 134 Seiten, ISBN: 978-3-86809-147-2, Preis: 18,00 Euro

Ernest Dowson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2015, Softcover, 207 Seiten, ISBN: 978-3-86809-102-1, Preis: 18,00 Euro

Frank Stückemann (geboren 1962) war bis Ende 2017 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Meiningsen in Soest und arbeitet zurzeit am landeskirchlichen Archiv in Bielefeld. Er promovierte über Johann Moritz Schwager, einem aufklärerischen Pfarrer aus Ostwestfalen, dessen Biografie er verfasste und dessen Predigten, autobiografische Schriften, Reisebeschreibungen und Briefe er herausgegeben hat. Kürzlich hat er Gedichte von Ferdinand Freiligrath herausgegeben, der einige Zeit in Soest gelebt hat.

Nachdem er im Jahr 2018 eine Gedichtauswahl von Paul Verlaine aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat, legt er hier die Übersetzung aus dem Englischen, und im Fall von Lionel Johnson auch aus dem Lateinischen vor. Die Gedichte sind geeignet, die Stimmung im ausgehenden 19. Jahrhundert einzufangen. Ihr einzigartiger Klang lässt sich allerdings im Deutschen nicht direkt wiederholen.

Ich bat Frank Stückemann daher in Form eines Email-Interviews einige Informationen zur diesen beiden Übersetzungen zu geben.

C.F.: Warum ist die Reimform des Englischen nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen bzw. nachzudichten (vgl. Dowson, S. 25 unten)?

F.S.: Der englische Textbestand ist im Verhältnis zu einer deutschen Prosaübersetzung immer ein Drittel weniger. Bei Dichtung in gebundener Sprache mit feststehender Silbenzahl muss im Deutschen also um ein Drittel verknappt werden. Die Stellung des Reims am Versende erfordert deshalb oft syntaktische Umstellungen. Manchmal geht es eben nur durch Eingriff ins Reimschema, welches aber dann auch in sich stimmig und konsequent durchgehalten werden muss. Die Armut der englischen Sprache an weiblichen (zweisilbigen) Reimen gibt es im Deutschen und Französischen nicht. Hier ist ein regelmäßiger Wechsel von männlichen (einsilbigen) und weiblichen Reimen üblich.

 

C.F.: Was macht die besondere Qualität der Lyrik Dowsons aus und worin besteht Johnsons dichterische Stärke?

F.S.: Bei Dowson: kalkulierte Schlichtheit und Natürlichkeit der Sprache, erlesene Metaphern, hintergründige Symbolik, die mehr andeutet als beschreibt. Die leise, aber unabweisbar nachhaltige bis bohrende Stimme der Melancholie, die Labilität einer hinfälligen Schönheit kurz vor dem Kollaps oder der Implosion. Kurze Formen, lakonische Kürze des Ausdrucks.

Bei Johnson: Intellektualität und sprachlicher Manierismus, vor allem im Satzbau. Kommt aus dem Klassizismus (Georgian Style, in der Lyrik: Pope). Hat aber auch Rückgriffe auf die „Metaphysical Poets“ (John Donne). Weniger depressiv als Dowson, erfreut sich an Bildungserlebnissen und am katholischen Ritus.

Beiden gemeinsam: Lateinische Knappheit und Transparenz, die angesichts der ausufernden Weitschweifigkeit ihrer Zeitgenossen (mindestens dreibändiger Roman, Versepen, endlose Balladen etc.) wirklich Eindruck macht.

 

C.F.: Zur Biographie: Beide sind im gleichen Jahr geboren, sind aber nicht zusammen aufgewachsen. Wo haben Sie sich getroffen und warum waren Sie befreundet? Wovon haben beide nach ihrem (abgebrochenem Studium) eigentlich gelegt, von Gedichten?

F.S.: Sie trafen sich in Oxford; Johnson als Stipendiat am New College, Dowson am Queen’s College. Gemeinsame Vorlieben: Trinken und Dichten. Gemeinsame Abneigung: Das Philistertum der englischen Respectability und der anglikanischen Kirche. Johnson wurde von seiner Familie unterstützt, hatte also keine Existenzsorgen. Dowson arbeitete im Familienbetrieb (Trockendock für Schiffe, leider nicht für Alkohol), nach dessen Bankrott als Übersetzer französischer Literatur. Nach dem Bankrott seines Verlegers Smithers 1899 wurde es für ihn finanziell sehr eng.

 

C.F.: Warum sind beide in die katholische Kirche eingetreten? Wurden sie dabei neu getauft?

F.S.: Zum einen aus Nonkonformismus, zum anderen um einer geistig-ästhetisch-spirituellen Gegenwelt willen. Der ganze Schwulst und Bombast der viktorianischen Zeit war ihnen verhasst. Vorangegangen waren ähnliche Tendenzen im Anglokatholizismus (John Henry Newman), im Ästhetizismus (Walter Pater) und in der Arts-and-Crafts-Bewegung der Präraffaeliten (Morris, Hunt, Rossetti etc.); fast alles in Oxford. Wiedergetauft wurden die beiden nicht.

 

C.F.: Habe ich richtig verstanden, dass sich beide Dichter im Lebenswandel nicht nach der kirchlichen Vorgabe gerichtet haben? Wie war denn dann die Beziehung zur Kirche?

F.S.: Die katholische Kirche war ihnen als ästhetisch-liturgischer Erlebnisraum wichtig. Es reizte sie die ostentative Assoziation mit einer Institution, die als Inbegriff moralischer Verkommenheit galt („No Popery!“) Bis 1829 waren Katholiken in Großbritannien Bürger Zweiter Klasse, vor allem in Irland. Fragen des persönlichen Glaubens oder der Moral waren ihnen ziemlich gleichgültig; sie interessierten sich nur für die kulturschaffenden Impulse. Diese fehlten ihnen in der geist- und substanzlos gewordenen anglikanischen Staatskirche. Bei noch gravierenderen Erosionserscheinungen im Protestantismus unserer Tage ein zunehmend aktuelles Thema.

 

C.F.: Was haben Dowson und Johnson mit der in der bürgerlichen Gesellschaft beginnenden Offenheit in Fragen der sexuellen Orientierung zu tun?

F.S.: Der Viktorianismus war (wie übrigens jedwede „bürgerliche Gesellschaft“ und überhaupt jedes Kollektiv) alles andere als offen und liberal. Dichter der vorangegangenen Generation wie Rossetti wurden als „fleshly school of poetry“ verunglimpft, Swinburne sogar ganz bewusst rufmörderisch als „Swinebron“ apostrophiert (war aber als Angehöriger des Hochadels egal).

Der Schauprozess gegen Oscar Wilde war eine öffentliche Hinrichtung. M.a.W.: Diesen Dichtern ging es um das Austesten von gesellschaftlichen Grenzen, versteckten Tabuverletzungen, Herausforderungen des Commonsense. Sie entlarvten gerade durch Entfesselung von Entrüstungsstürmen und verbaler Abwehr die gesellschaftliche Verlogenheit, Repressivität und Heuchelei solcher Exorzismen und gingen dabei ebenso subtil wie subversiv vor. Das macht ihren Reiz aus und stachelt zur Nachahmung an.

 

C.F.: Speziell Lionel Johnson soll laut Wikipedia homosexuell gewesen sein und dies in seinen Gedichten auch angedeutet haben, z. B. in „The dark angel“? Gibt es dazu Beispiele?

F.S.: Ich habe diesen Aspekt bewußt ausgeklammert, weil der den Philistern nur dazu dient, den Dichter unter der Gürtellinie zu treffen, mit dem man sich oberhalb derselben in gar keiner Weise messen kann (ähnliches Beispiel bei uns: Stefan George). Ob er diese Veranlagung rituell sublimiert oder ausgelebt hat, erklärt kein einziges seiner Gedichte.

 

C.F.: Warum hat Lionel Johnson Gedichte in Latein verfasst? Gab es dafür einen praktischen Anlass, z. B. in der Messe, als Gesänge o. ä.?

F.S.: Aus reiner Freude an der sprachlichen Formung und weil ihm dabei kaum einer folgen konnte. Das sagenhafte Niveau stopfte den Spießbürgern schlichtweg das Maul, und dieses elitär-dandyhafte „aristokratische Vergnügen, zu missfallen“ (Baudelaire) bot Anreiz genug.

 

C.F.: Was hat es mit dem „Rymers Club“ in London auf sich, den Lionel Johnson gegründet und Ernest Dowson besucht hat?

F.S.: Es ist die Geburtsstätte der modernen Lyrik in Großbritannien. Johnson und Yeats (immerhin nachmaliger Literaturnobelpreisträger) gründeten ihn, um sich im Kreis von Gesinnungsgenossen rein künstlerischen Fragen nach dem Sprachniveau ohne Börsenteil, Lebensberatung und ähnlichen Debatten zu widmen (Modethemen wechseln, die Dummheit im universellen Lemminghausen  des britischen Empire bleibt wie auch bei uns stets dieselbe). In den beiden Anthologien von The Rhymers‘ Club sind die schönsten Gedichte der beiden zuerst abgedruckt worden.

 

C.F.: Danke für das Interview.

Politische Theologie der Reformation, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016

Zu: Siegfried Bräuer, Günter Vogler: Thomas Müntzer, Neu Ordnung machen in der Welt, eine Biographie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, Gebunden, 542 Seiten, ISBN: 978-3-579-08229-5, Preis: 58,00 Euro

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Die beiden Autoren sind ausgewiesene Experten und haben Thomas Müntzer auf je eigene Art ihr Lebenswerk gewidmet. Siegfried Bräuer war als Privatdozent und apl. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig und hat den Briefwechsel Müntzers mit herausgegeben. Günter Vogler ist emeritierter Professor für Geschichte und hat die Thomas Müntzer Gesellschaft mitbegründet und bis 2008 als Vorsitzender geleitet. Er hat bereits 1989 eine Biographie Thomas Müntzers herausgegeben. Die beiden Autoren haben diese ausgewiesen wissenschaftliche Biographie arbeitsteilig verfasst und sich gegenseitig beraten. Das Buch verfügt über ein umfangreiches Werk- und Literaturverzeichnis, das den Anspruch erhebt, den aktuellen Stand der Thomas-Müntzer-Forschung zu präsentieren. Der Anmerkungsapparat belegt jede Aussage Müntzers und andere Quellen und lädt zur Weiterarbeit ein. Dabei wird die Theologie Müntzers ebenso dargestellt wie sein Lebenslauf und seine historische wie politische Entwicklung.
Dass dieses Buch nur für einen Preis von 58,00 Euro zu haben ist, ist allerdings bedauerlich, weil ihm eine breitere Verbreitung zu wünschen wäre. Es ist fachlich absolut auf dem neusten Stand und trotzdem spannend zu lesen. Dass die Zitate in der Originalschreibweise gegeben werden stört keinesfalls, da sie sich eigentlich trotzdem gut lesen lassen.

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„Willy Brandt – Ein Leben, ein Jahrhundert“ – Lesung im Stadtbahnhof Iserlohn

Die Volkshochschule Iserlohn und die Buchhandlung Presse & Buch im Stadtbahnhof laden am Montag, 7. Oktober, zu der Lesung des früheren „Spiegel“-Journalisten Hans-Joachim Noack unter dem Titel „Willy Brandt – Ein Leben, ein Jahrhundert“ ein. Die Lesung beginnt um 20 Uhr in der Buchhandlung im Stadtbahnhof (bis zirka 21.30 Uhr) und wird moderiert von Thomas Brenck.

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