Zu: Manfred Dierks: Thomas Manns Geisterbaron, Leben und Werk des Freiherrn Albert von Schrenck-Notzing, Psychosozial-Verlag Gießen 2012, ISBN 978-3-89806-811-6, Preis: 29,90 Euro
Der Titel des Buches „Thomas Manns Geisterbaron“ trifft eher das Interesse des Autors Manfred Dierks als Literaturwissenschaftler und Thomas_Mann-Spezialist als den Inhalt des Buches insgesamt, der durch den Untertitel anzeigt wird: „Leben und Werk des Freiherrn Albert von Schrenck-Notzing“, denn es handelt sich schlicht um eine Biografie des Arztes und Okkultisten Dr. Albert von Schrenck-Notzing. Der Adelstitel „Freiherr“ kann auch mit dem Wort „Baron“ wiedergegeben werden. Dr. Schrenck-Notzing stammt aus der protestantischen Linie des bayerischen Adelsgeschlechts.
Diese Biografie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Lebensbeschreibung zum Teil unterbricht, wenn keine Änderungen erfolgen und stattdessen quasi als Exkurse Schilderungen exemplarischer Begegnungen oder Kontext – Ereignissen oder Figuren – einfügt. Die Erzählung ist, wie das Leben, das es schildert, eingebunden in den ideengeschichtlichen und geistig-politischen Kontext der damaligen Zeit, des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, und führt Leserin und Leser quasi wie in eine Zeitreise dorthin. Umbrüche in der Medizin durch Elektrizität, Röntgenstrahlen, Diagnostik und Psychoanalyse tauchen ebenso auf wie die Erfindung des Automobils und des Flugzeugs, dazu die Umstände des Todes des bayerischen Königs Ludwig in Bayern 1886, die Kriegsbegeisterung 1914 und der Stimmungsumschwung danach, die Zeit nach dem 1. Weltkrieg mit der beginnenden Demokratie, der Staatskrisen, der Inflation und dem Aufkommen des Nationalsozialismus.
Eine der „Rand“-Figuren, die dieser Lebensbeschreibung eine solche Tiefe verleihen, ist der Nobelpreisträger Thomas Mann, der nach seiner in Lübeck verbrachten Kindheit und Jugend zu seiner Mutter nach München zog und dann auch nach seiner Hochzeit dort blieb.
Zuvor gehört der Fokus der Erzählung weitgehend der Hypnose, die als Mittel der Therapie und der Erforschung psychologischer Sachverhalte fungierte. Schrenck-Notzing bewährte sich als Hypnosearzt und Publizist. Sein Spezialgebiet auf dem klinischen Fachgebiet ist die „conträre Sexualität“ (Homosexualität), die dann als behandelbar galt, wenn sie nicht als angeboren bezeichnet würde. Zur damaligen Zeit war es eine fortschrittliche Bestrebung, Homosexualität als Krankheit darzustellen, da sie dann nicht strafbar war. Im entsprechenden gesellschaftlichen Kontext wurde dies auch entsprechend empfunden, so dass die Suggestionstherapie Schrenck-Notzings entsprechenden Zulauf hatte.
Sehr ausführlich wird die Entstehung der unterschiedlichen Behandlungsformen von Hypnose dargestellt, wobei die Suggestion eine der erfolgreichsten war, da sie auch bei psychosomatischen Krankheiten wie Migräne mit Erfolg eingesetzt wurde. Die Entdeckung des Unterbewusstseins, mit dem der Hypnose-Therapeut arbeitet, verdankt sich allerdings einer mehr metaphysischen Frage, nämlich nach dem Vorhandensein einer transpersonalen seelischen Qualität (Transzendentes), die etwa auch von der Religion oder der Mystik gesehen wird, im Zusammenhang der Psychologie aber als wissenschaftlich erklärbar galt.
Auf dem Gebiet der Parapsychologie ging es Arzt Schrenck-Notzing in der weiteren Entwicklung darum, Beweise für eine Art überindividuelle, im Materiellen funktionierende psychische Wirklichkeit zu finden, die mittels geeigneter Medien vorgeführt werden konnte. Seine Bücher waren auch reich mit Fotografien illustriert. Die Ereignisse der Sitzungen wurden jeweils von einem Expertengremium beglaubigt. Die Darstellung der Phänomene in extra dafür veranstalteten Vorführungen war eine populäre Sache, die der Verbreitung und dem Verkauf der Bücher zugutekam. _Die erzählte Biografie verknüpft das Interesse an der Person Schrenck-Notzings mit unterschiedlichen Zeitströmungen und Ereignissen. Durch seine Heirat war er dem aufkommenden Industriekapital verbunden. Der erste Weltkrieg, die Inflation und die Staatskrisen gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Der aufkommende Nationalsozialismus gehörte zu den Kritikern der Parapsychologie. Sie scheiterte letztlich aber nicht, da sie vom Nationalsozialismus verboten wurde, sondern, da sie auch wissenschaftlich an ihre Grenzen kam. Einen starken Eindruck indes hat sie in der Literatur hinterlassen.
Der Autor Manfred Dierks lässt erst durch die ausführliche Schilderung des Kontextes in der Entstehung von Literatur und der dazu gehörigen Auffassung des Autors Deutungsmöglichkeiten der Werke Thomas Manns aufscheinen. In diesem Zusammenhang geht er auf den Roman „Der Zauberberg“ ausführlicher ein, da dieser sowohl für die Parapsychologie als auch für die sprachlichen Gestaltungen bisexueller Einstellungen des Autors Thomas Mann exemplarisch zu sein scheint.
Die Frage jedoch, ob eine Beurteilung eventueller Randphänomene menschlicher Wahrnehmung im Sinn der Parapsychologie naturwissenschaftlich belegt werden kann, muss letztlich bezweifelt werden. Der zunächst nahe liegende Zusammenhang mit Esoterik und Religionspsychologie, aber auch mit dem Spiel mit Effekten in Show und Artistik ist zuletzt nicht zu ignorieren.
Die Biografie ist sorgfältig recherchiert, wofür die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis sprechen. Leserin und Leser vermissen evtl. eine Kurzbiografie im Anhang als Lebenslauf.
Die Hypnose, deren Mitentwickler Schrenck-Notzing war, erlebt in Heilpraktikerkreisen zur Zeit eine regelrechte Blüte. Insofern gibt der Literaturwissenschaftler einen guten Ausblick in die Weichenstellungen der Medizingeschichte, die ihm vielleicht heute doch mehr verdankt, als das sein geschichtliches Scheitern erkennen lässt.
Die Biografie jedoch endet mit der Schilderung des Todes von Schrenck-Notzing im Jahr 1929 und mit der Erwähnung, dass im gleichen Jahr Thomas Mann eine Hypnosesitzung beschrieben hat: „Cipolla, der Hypnotiseur in der Novelle Mario und der Zauberer, zwingt ein ganzes Saalpublikum unter die Fuchtel seiner Suggestionen. Und ein letztes Mal spielt Thomas Mann hier mit der Doppelheit des Geschlechtlichen,..“ (S. 349). Und so kommt zum Schluss dann doch der eigentliche Titel des Buches zu seinem Recht und die Biografie des Hypnotiseurs entpuppt sich als Buch über Thomas Mann und die Klärung seiner sexuellen Orientierung.
Lieber Herr Fleischer,
Ich habe mit Freude Ihre gescheite und exakte Rezension meines Buches gelesen und möchte Ihnen herzlich dafür danken. So objektiv wird man selten begutachtet. Und dass Sie sich als Pfarrer der Häme gegenüber diesen etwas abwegigen Geistern enthalten haben, zeugt auch von einigem Verständnis für eben spirituelle Abwege.
Mit den besten Grüßen Ihr Manfred Dierks
Heute habe ich mir das entsprechende Kapitel im Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann vorgenommen („Fragwürdigstes“) und muss wirklich sagen, dass man dort einiges von dem wiederfindet, was Prof. Dierks über Schrenck-Notzing schreibt, vielleicht mit einem Unterschied, dass Thomas Mann hier die Erfahrung mit dem Medium erst mit einer spiritistischen Sitzung beschreibt.