Franz Rosenzweig. Vom gesunden und kranken Menschenverstand. Reprint..

Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Zuerst erschienen aus dem Nachlass 1964, jetzt: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch, 1. Auflage 2018, Kapitel 6-8, Seiten 64 – 105 (hier ohne Seitenzahlen und Anmerkungen, die sich am Ende des Buches befinden)

Fotos Niklas Fleischer

Da der Autor Franz Rosenzweig im Jahr 1929 gestorben ist, ist das Buch gemeinfrei. Ich veröffentliche hier die Kapitel 6 bis 8, da diese relativ selbständig vom übrigen Kontext zu lesen sind. Sie stehen zwar im Zusammenhang mit der zuvor symbolisch verstandenen Erzählung einer medizinischen Behandlung. Diese Erzählung behandelt eigentlich eine philosophische Frage, die der Ontologie, die Frage nach dem Sein. Franz Rosenzweig bestreitet die Auffassung, dass die Philosophie (und damit auch die Theologie) auf einem Bereich der Eigentlichkeit gründet, da man beim Bäcker auch kein eigentliches Brötchen kauft. Die Vorstellung, dass der Sinn des Lebens irgendwie eigentlich ist und sich daher vom täglichen Leben zu unterscheiden ist, bezeichnet Franz Rosenzweig als den kranken Menschenverstand. In den hier abgedruckten Kapiteln geht Rosenzweig dazu auf die drei metaphysischen Grundbegriffe Welt, Ich und Gott ein und zeigt damit exemplarisch, wie der Umgang damit in der Gegenwart der Moderne denkbar ist, ohne auf eine Ebene der Eigentlichkeit zu wechseln. Ob die Darstellung evident und schlüssig ist, mögen die Leserin und der Leser selbst entscheiden. Diese kurze Abhandlung aus dem Jahr 1922 ist für Franz Rosenzweig eine Zusammenfassung des Aufbaus seiner grundlegenden Arbeit „Stern der Erlösung“ (1919). Ich habe in dieser Veröffentlichung auf der Homepage die Seiten übernommen und den Text in der aktuellen Rechtschreibung wiedergegeben.

Zur besseren Übersichtlichkeit habe ich kleinere Textzitate als Zwischenüberschriften eingefügt. Die Fotos sind von Niklas Fleischer und zeigen Motive auf Dortmund.

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Einfache spirituelle Übungen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Anselm Grün: Rituale der Stille, 33 Impulskarten, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, 34 farbige Karten im Schmuck-Karton mit Magnetverschluss, ISBN 978-3-7365-0163-8, Preis: 18,00 Euro

Link: https://www.vier-tuerme-verlag.de/autoren/g/gruen-anselm/2518/rituale-der-stille

 

Wenn ich den Titel dieses Kartensets bei einem Buchhändler im Internet oder im Second-Hand-Buchversand eingebe, so finde ich etliche Varianten dieses Sets unter gleichem Titel von Anselm Grün. Das hier besprochene ist die aktuelle, völlig neu bearbeitete Neuauflage.

Pater Anselm Grün, geboren 1945, ist bei weitem das populärste Mitglied der Abtei Münsterschwarzach. Die Anzahl der von ihm verfassten Bücher wird mit ca. 400 angegeben. Früher war er im Hauptberuf der Cellerar der Abtei, das meint der wirtschaftliche Leiter des Hauses.

Anselm Grün ist populär, weil er keinen Elfenbeinturm der Religion predigt, sondern eine Religion des Lebens, die mit der säkularen Existenz vereinbar ist.

Das Kartenset ist für mich ein Buch über Spiritualität. 33 Karten bieten 33 inhaltliche Impulse, die in keiner Gliederung zu lesen sind. Jede Karte steht für sich und kann doch mit jeder anderen kombiniert werden. Es ist am einfachsten, den Zufall entscheiden zu lassen und sich für jeden Tag eine neue Karte zu ziehen und nach den dort genannten Worten zu verfahren.

Manche Karten sind mehr auf den Inhalt bezogen wie die Vorstellung eines Raumes im Inneren, die Ruhe eines Sonntags, ein Ort völliger Stille, das Hören Gottes im Gebet.

Explizite religiöse Gewohnheiten wie Gebet, Kirche, Bibel oder das Anzünden einer Kerze stehen daneben und dominieren den Eindruck der Karten nicht. Dadurch erweckt Anselm Grün für mich den Eindruck, dass die kirchliche Religion und die Spiritualität des Alltags zusammengehören.

Das machen auch die kleineren Übungsvorschläge deutlich:  der Klang einer Klangschale, die man ausklingen lässt, führt in die Stille. Es hilft dazu auch, ein Mandala auszumalen. Genauso gut ist es auf den Friedhof zu gehen oder in der Natur einen ruhigen Ort aufzusuchen.

Dies wird ergänzt durch einfache Übungen der Meditation: Folge deinem Atem, beginne dabei Kraft zu spüren, setze Pausen im Alltag, beispielsweise bevor du eine Tür öffnest. Folge deinen Gedanken ohne sie festzuhalten. Lerne zuzuhören und zu schweigen.

Manche Impulse beziehen sich auf die innere Haltung, wie eine Reise zu sich selbst, der innere Raum, die Gegenwart Gottes in mir selbst, Zustimmung zum Leben allgemein, Loslassen gewohnter Einstellungen.

Zwei Karten geben Gelegenheit, etwas zu notieren, eigene Gedanken oder Grüße für andere.

Es gibt kaum eine bessere Darstellung mystischen Denkens auch gerade in seiner Einladung zur Subjektivität ohne Egoismus. Die Religion, das Wort Gottes oder das Gebet sind nicht als exklusive Haltung zu deuten, sondern als ergänzendes Lebensangebot für jeden Lebensalltag. Es gibt keine Frage der Anknüpfung mehr, weil das ganze Leben zur Religion geworden ist, und die Religion zum Leben.

Vom Netzwerk, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, Merve Verlag, Leipzig 2018, Taschenbuch, 276 Seiten.ISBN: 978-3-96273-012-3Preis (Buch): 22,00 €

Das Buch hat leider etwas zu lange auf meinem Schreibtisch gelesen. Doch seine Aktualität wird es wohl in den nächsten 20 Jahren kaum verlieren. Der einzige Nachteil ist, dass es eine inhaltliche Überarbeitung darstellt. Die Studien zur nächsten Gesellschaft sind im Jahr 2007 fortgeschrieben, was nun schon 12 Jahre her ist. Die technologische Revolution ist zwar fortgeschritten, aber doch wohl in den voraussehbaren Bahnen verlaufen. Die Frage der künstlichen Intelligenz stellt sich wohl ein wenig deutlicher als damals. Man könnte es knapp sagen: Dirk Baecker sieht die Digitalisierung als Chance, nicht als Krise.

Das Buch stellt 26 Thesen vor, die dann relativ ausführlich, aber durchaus komprimiert erläutert werden. Diesen Kapiteln sind fünf Exkurse zugeordnet, teils Texte, die der Autor bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat.

In diesem neuen Buch weist er allerdings auch auf die Wurzeln der Digitalisierung hin, die keinesfalls so vom Himmel gefallen ist, wie es immer erscheint. Die Geschichte der technischen Kommunikation setzt mit dem Buchdruck ein, basierend auf der Geschichte der Schrift.

Was das für heute bedeutet, soll in einem kurzen Zitat dargestellt werden:

„Einstweilen bleibt es bei der These: Das Strukturprinzip der nächsten Gesellschaft zur Sicherstellung der Verbreitung elektronischer Medien ist das Netzwerk der Verknüpfung prinzipiell heterogener Elemente, die untereinander derart in Identitäts- und Kontrollbeziehungen stehen, dass sie in allen gesellschaftlichen Fragestellungen und für jede einzelne Handlung anschlussfähig sind. Und Anschlussfähigkeit heißt wie immer: fähig zur Ablehnung, zur Annahme und zur spezifischen, grundsätzlich riskanten Profilierung. Wenn diese These stimmt, bekommen wir es empirisch zunehmend mit hochgradig individuellen Phänomenen zu tun.“ (S. 46)

Dass Dirk Baecker den Ansatz Niklas Luhmanns fortschreibt, kann man exemplarisch auch am Begriff der Religion deutlich machen, den er wie Luhmann funktional betrachtet. Es bleibt bei der Transzendenz der Rede von Gott, die aber immanent zu erfahren ist. Hierzu noch abschließend ein Zitat: „Das religiöse Manöver ist nicht ohne eine gewisse Ironie. Die profanen Dinge werden in ihrer Kontingenz bestimmbar, weil sie nicht heilig sind; die heiligen Dinge sind eindeutig, weil sie auf ein Reich verweisen, das beschworen, aber nicht kontrolliert werden kann.“ (S. 147) Interessant ist, wie auch auf dieser Welt elektronische Medien keinesfalls unwirksam sind.

So wie jetzt am Beispiel Religion gezeigt, werden auch andere gesellschaftliche Felder nacheinander besprochen und auf ihre Funktion in der nächsten Gesellschaft das heißt auf ihre Beziehung zur Digitalisierung geprüft und vermittelt.

Insgesamt wird dieses Buch als eine sehr ausführlich belegte, aber komprimiert formulierte Ausarbeitung der nächsten Gesellschaft sein, die sich ohnehin immer neu den Gegebenheiten anpassen muss. Die Tabelle am Ende des Buches  zeigt, wie die 26 Thesen und ihre Ausarbeitung jeweils strukturiert sind.

Das Trauma der Flucht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Thomas Maier, Naser Morina, Matthis Schick, Ulrich Schnyder (Hrsg.): Trauma – Flucht – Asyl, Ein interdisziplinäres Handbuch für Beratung, Betreuung und Behandlung, Hogrefe Verlag, Bern 2019, Softcover, 532 Seiten, ISBN: 978-3-456-85829-6 (print), Preis: 49,95 Euro

Zunächst möchte ich einige Zeilen aus dem Geleitwort des UNHCR dokumentieren, die das Anliegen des Buches recht gut darstellen:

„Die verschiedenen Kapitel im Buch zeigen, dass traumabedingte Störungen weit über die posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) im engeren Sinn hinausreichen und unter anderem auch Depression, komplizierte Trauer, Angst und Dissoziation umfassen (Tay, Ree, Chan, Kareth & Silove, 2015). Die Berichte von Flüchtlingen in Kapitel 2 illustrieren anschaulich, dass nicht alle traumabezogenen Störungen notwendigerweise direkt mit Kriegs- oder Verfolgungserlebnissen zusammenhängen. Sie können ihren Ursprung auch in sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Armut sowie Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit im Herkunftsland oder während der oft langen, anstrengenden und gefährlichen Reise nach Westeuropa haben.“ (S. 18). „Das Trauma der Flucht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019“ weiterlesen

Lyrik aus London, Rezension und Interview, Christoph Fleischer Welver 2019

Zu: Lionel Johnson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2019, Softcover, 134 Seiten, ISBN: 978-3-86809-147-2, Preis: 18,00 Euro

Ernest Dowson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2015, Softcover, 207 Seiten, ISBN: 978-3-86809-102-1, Preis: 18,00 Euro

Frank Stückemann (geboren 1962) war bis Ende 2017 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Meiningsen in Soest und arbeitet zurzeit am landeskirchlichen Archiv in Bielefeld. Er promovierte über Johann Moritz Schwager, einem aufklärerischen Pfarrer aus Ostwestfalen, dessen Biografie er verfasste und dessen Predigten, autobiografische Schriften, Reisebeschreibungen und Briefe er herausgegeben hat. Kürzlich hat er Gedichte von Ferdinand Freiligrath herausgegeben, der einige Zeit in Soest gelebt hat.

Nachdem er im Jahr 2018 eine Gedichtauswahl von Paul Verlaine aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat, legt er hier die Übersetzung aus dem Englischen, und im Fall von Lionel Johnson auch aus dem Lateinischen vor. Die Gedichte sind geeignet, die Stimmung im ausgehenden 19. Jahrhundert einzufangen. Ihr einzigartiger Klang lässt sich allerdings im Deutschen nicht direkt wiederholen.

Ich bat Frank Stückemann daher in Form eines Email-Interviews einige Informationen zur diesen beiden Übersetzungen zu geben.

C.F.: Warum ist die Reimform des Englischen nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen bzw. nachzudichten (vgl. Dowson, S. 25 unten)?

F.S.: Der englische Textbestand ist im Verhältnis zu einer deutschen Prosaübersetzung immer ein Drittel weniger. Bei Dichtung in gebundener Sprache mit feststehender Silbenzahl muss im Deutschen also um ein Drittel verknappt werden. Die Stellung des Reims am Versende erfordert deshalb oft syntaktische Umstellungen. Manchmal geht es eben nur durch Eingriff ins Reimschema, welches aber dann auch in sich stimmig und konsequent durchgehalten werden muss. Die Armut der englischen Sprache an weiblichen (zweisilbigen) Reimen gibt es im Deutschen und Französischen nicht. Hier ist ein regelmäßiger Wechsel von männlichen (einsilbigen) und weiblichen Reimen üblich.

 

C.F.: Was macht die besondere Qualität der Lyrik Dowsons aus und worin besteht Johnsons dichterische Stärke?

F.S.: Bei Dowson: kalkulierte Schlichtheit und Natürlichkeit der Sprache, erlesene Metaphern, hintergründige Symbolik, die mehr andeutet als beschreibt. Die leise, aber unabweisbar nachhaltige bis bohrende Stimme der Melancholie, die Labilität einer hinfälligen Schönheit kurz vor dem Kollaps oder der Implosion. Kurze Formen, lakonische Kürze des Ausdrucks.

Bei Johnson: Intellektualität und sprachlicher Manierismus, vor allem im Satzbau. Kommt aus dem Klassizismus (Georgian Style, in der Lyrik: Pope). Hat aber auch Rückgriffe auf die „Metaphysical Poets“ (John Donne). Weniger depressiv als Dowson, erfreut sich an Bildungserlebnissen und am katholischen Ritus.

Beiden gemeinsam: Lateinische Knappheit und Transparenz, die angesichts der ausufernden Weitschweifigkeit ihrer Zeitgenossen (mindestens dreibändiger Roman, Versepen, endlose Balladen etc.) wirklich Eindruck macht.

 

C.F.: Zur Biographie: Beide sind im gleichen Jahr geboren, sind aber nicht zusammen aufgewachsen. Wo haben Sie sich getroffen und warum waren Sie befreundet? Wovon haben beide nach ihrem (abgebrochenem Studium) eigentlich gelegt, von Gedichten?

F.S.: Sie trafen sich in Oxford; Johnson als Stipendiat am New College, Dowson am Queen’s College. Gemeinsame Vorlieben: Trinken und Dichten. Gemeinsame Abneigung: Das Philistertum der englischen Respectability und der anglikanischen Kirche. Johnson wurde von seiner Familie unterstützt, hatte also keine Existenzsorgen. Dowson arbeitete im Familienbetrieb (Trockendock für Schiffe, leider nicht für Alkohol), nach dessen Bankrott als Übersetzer französischer Literatur. Nach dem Bankrott seines Verlegers Smithers 1899 wurde es für ihn finanziell sehr eng.

 

C.F.: Warum sind beide in die katholische Kirche eingetreten? Wurden sie dabei neu getauft?

F.S.: Zum einen aus Nonkonformismus, zum anderen um einer geistig-ästhetisch-spirituellen Gegenwelt willen. Der ganze Schwulst und Bombast der viktorianischen Zeit war ihnen verhasst. Vorangegangen waren ähnliche Tendenzen im Anglokatholizismus (John Henry Newman), im Ästhetizismus (Walter Pater) und in der Arts-and-Crafts-Bewegung der Präraffaeliten (Morris, Hunt, Rossetti etc.); fast alles in Oxford. Wiedergetauft wurden die beiden nicht.

 

C.F.: Habe ich richtig verstanden, dass sich beide Dichter im Lebenswandel nicht nach der kirchlichen Vorgabe gerichtet haben? Wie war denn dann die Beziehung zur Kirche?

F.S.: Die katholische Kirche war ihnen als ästhetisch-liturgischer Erlebnisraum wichtig. Es reizte sie die ostentative Assoziation mit einer Institution, die als Inbegriff moralischer Verkommenheit galt („No Popery!“) Bis 1829 waren Katholiken in Großbritannien Bürger Zweiter Klasse, vor allem in Irland. Fragen des persönlichen Glaubens oder der Moral waren ihnen ziemlich gleichgültig; sie interessierten sich nur für die kulturschaffenden Impulse. Diese fehlten ihnen in der geist- und substanzlos gewordenen anglikanischen Staatskirche. Bei noch gravierenderen Erosionserscheinungen im Protestantismus unserer Tage ein zunehmend aktuelles Thema.

 

C.F.: Was haben Dowson und Johnson mit der in der bürgerlichen Gesellschaft beginnenden Offenheit in Fragen der sexuellen Orientierung zu tun?

F.S.: Der Viktorianismus war (wie übrigens jedwede „bürgerliche Gesellschaft“ und überhaupt jedes Kollektiv) alles andere als offen und liberal. Dichter der vorangegangenen Generation wie Rossetti wurden als „fleshly school of poetry“ verunglimpft, Swinburne sogar ganz bewusst rufmörderisch als „Swinebron“ apostrophiert (war aber als Angehöriger des Hochadels egal).

Der Schauprozess gegen Oscar Wilde war eine öffentliche Hinrichtung. M.a.W.: Diesen Dichtern ging es um das Austesten von gesellschaftlichen Grenzen, versteckten Tabuverletzungen, Herausforderungen des Commonsense. Sie entlarvten gerade durch Entfesselung von Entrüstungsstürmen und verbaler Abwehr die gesellschaftliche Verlogenheit, Repressivität und Heuchelei solcher Exorzismen und gingen dabei ebenso subtil wie subversiv vor. Das macht ihren Reiz aus und stachelt zur Nachahmung an.

 

C.F.: Speziell Lionel Johnson soll laut Wikipedia homosexuell gewesen sein und dies in seinen Gedichten auch angedeutet haben, z. B. in „The dark angel“? Gibt es dazu Beispiele?

F.S.: Ich habe diesen Aspekt bewußt ausgeklammert, weil der den Philistern nur dazu dient, den Dichter unter der Gürtellinie zu treffen, mit dem man sich oberhalb derselben in gar keiner Weise messen kann (ähnliches Beispiel bei uns: Stefan George). Ob er diese Veranlagung rituell sublimiert oder ausgelebt hat, erklärt kein einziges seiner Gedichte.

 

C.F.: Warum hat Lionel Johnson Gedichte in Latein verfasst? Gab es dafür einen praktischen Anlass, z. B. in der Messe, als Gesänge o. ä.?

F.S.: Aus reiner Freude an der sprachlichen Formung und weil ihm dabei kaum einer folgen konnte. Das sagenhafte Niveau stopfte den Spießbürgern schlichtweg das Maul, und dieses elitär-dandyhafte „aristokratische Vergnügen, zu missfallen“ (Baudelaire) bot Anreiz genug.

 

C.F.: Was hat es mit dem „Rymers Club“ in London auf sich, den Lionel Johnson gegründet und Ernest Dowson besucht hat?

F.S.: Es ist die Geburtsstätte der modernen Lyrik in Großbritannien. Johnson und Yeats (immerhin nachmaliger Literaturnobelpreisträger) gründeten ihn, um sich im Kreis von Gesinnungsgenossen rein künstlerischen Fragen nach dem Sprachniveau ohne Börsenteil, Lebensberatung und ähnlichen Debatten zu widmen (Modethemen wechseln, die Dummheit im universellen Lemminghausen  des britischen Empire bleibt wie auch bei uns stets dieselbe). In den beiden Anthologien von The Rhymers‘ Club sind die schönsten Gedichte der beiden zuerst abgedruckt worden.

 

C.F.: Danke für das Interview.