Greta Thunberg: Rede im britischen Parlament, „Wir haben keine Ausreden mehr“

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Anstelle eines passenden Fotos verweise ich auf mit dem Link auf Fotos von Greta Thunberg auf Instagram. Die Veröffentlichung der Rede erfolgt mit Erlaubnis der Blätter für deutsche und internationale Politik.

»Wir haben keine Ausreden mehr«

von Greta Thunberg

Nach ihren viel beachteten Reden auf der UN-Klimakonferenz im Dezember 2018 und beim Weltwirtschaftsforum im Januar 2019 ist die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg zahlreichen weiteren Einladungen für öffentliche Auftritte gefolgt, zuletzt unter anderem bei Papst Franziskus. Wir dokumentieren nachfolgend in deutscher Erstveröffentlichung einen Vortrag, den Thunberg am 23. April im britischen Parlament gehalten hat und in dem sie ihre klimapolitischen Vorstellungen ausführlicher darlegt als bislang. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel. – D. Red.

Mein Name ist Greta Thunberg. Ich bin 16 Jahre alt. Ich komme aus Schweden. Und ich spreche im Namen der kommenden Generationen.

Ich weiß, dass viele von Ihnen uns nicht zuhören wollen – Sie sagen, wir wären bloß Kinder. Aber wir wiederholen nur die Botschaft der vereinten Klimaforscher. Viele von Ihnen scheinen besorgt, dass wir kostbare Unterrichtszeit verpassen. Aber ich versichere Ihnen, wir gehen wieder in die Schule, sobald Sie auf die Wissenschaft hören und uns eine Zukunft geben. Ist das wirklich zu viel verlangt?

Im Jahr 2030 werde ich 26 Jahre alt sein und meine kleine Schwester Beata 23, so wie viele Ihrer Kinder und Enkel. Das ist ein tolles Alter, hat man uns gesagt, wenn man das ganze Leben noch vor sich hat. Ich bin mir aber nicht sicher, dass es für uns so toll werden wird. Ich hatte das Glück, zu einer Zeit und an einem Ort geboren zu werden, wo uns jeder sagte, wir sollten nach den Sternen greifen: Ich konnte werden, was immer ich wollte. Ich konnte leben, wo immer ich wollte. Menschen wie ich hatten alles, was sie brauchten – und mehr. Dinge, von denen unsere Großeltern nicht einmal zu träumen wagten. Wir hatten alles, was wir uns jemals wünschen konnten. Doch jetzt haben wir vielleicht gar nichts.

Jetzt haben wir möglicherweise nicht einmal mehr eine Zukunft. Denn diese Zukunft wurde verkauft, damit eine kleine Zahl von Menschen unvorstellbar viel Geld verdienen konnte. Sie wurde uns jedes Mal gestohlen, wenn Sie sagten, der Phantasie seien keine Grenzen gesetzt und dass man ja nur einmal lebe.

Sie haben uns belogen. Sie haben uns falsche Hoffnungen gemacht. Sie haben uns erzählt, die Zukunft sei etwas, worauf wir uns freuen könnten. Und das Traurigste ist, dass sich die meisten Kinder nicht einmal bewusst sind, welches Schicksal uns erwartet. Wir werden es nicht begreifen, bevor es zu spät ist. Und doch gehören wir noch zu den Glücklichen. Jene, die es besonders hart treffen wird, leiden schon jetzt unter den Konsequenzen. Aber ihre Stimmen werden nicht gehört.

Ist mein Mikro an? Können Sie mich hören?

Um das Jahr 2030 – in zehn Jahren, 252 Tagen und zehn Stunden von heute aus – werden wir eine irreversible Kettenreaktion jenseits menschlicher Kontrolle ausgelöst haben, die höchstwahrscheinlich zum Ende unserer Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Es sei denn, dass in diesem Zeitraum permanente und beispiellose Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen stattgefunden haben, darunter eine Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 50 Prozent. Beachten Sie bitte, dass diese Kalkulationen von Erfindungen abhängen, die noch nicht in größerem Umfang gemacht wurden, Erfindungen, die die Atmosphäre von astronomischen Mengen an Kohledioxid befreien sollen. Außerdem beinhalten diese Kalkulationen keine unvorhergesehenen Kipppunkte und Rückkoppelungsschleifen wie das extrem starke Methangas, das aus dem rapide tauenden arktischen Permafrost entweicht. Überdies enthalten diese wissenschaftlichen Kalkulationen nicht die verborgene Erderwärmung, die derzeit durch die toxische Luftverschmutzung verhindert wird. Nicht zuletzt fehlt in ihnen der Aspekt der Fairness – oder Klimagerechtigkeit –, der überall im Pariser Klimavertrag deutlich zu finden ist und der absolut notwendig ist, damit das Abkommen global funktionieren kann.

Wir müssen auch berücksichtigen, dass es sich hierbei nur um Kalkulationen handelt. Schätzungen. Das heißt, diese „Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt“ können etwas früher oder später als 2030 auftreten. Niemand kann das sicher wissen. Wir können uns allerdings sicher sein, dass sie etwa in diesem Zeitraum auftreten werden, da diese Kalkulationen keine Meinungen oder ins Blaue hinein geraten sind. Diese Projektionen stützen sich auf wissenschaftliche Tatsachen, auf die sich alle Länder über den IPCC geeinigt haben. Nahezu jede einzelne bedeutsame wissenschaftliche Organisation auf der Welt unterstützt die Arbeit und die Ergebnisse des IPCC vorbehaltlos.

Haben Sie gehört, was ich gerade gesagt habe? Ist mein Englisch okay? Ist das Mikro eingeschaltet? Denn langsam beginne ich mich zu wundern.

In den letzten sechs Monaten bin ich hunderte Stunden mit Zügen, Elektroautos und Bussen durch Europa gereist und habe diese lebensverändernden Worte unzählige Male wiederholt. Aber niemand scheint darüber zu sprechen und nichts hat sich verändert. Tatsächlich steigen die Emissionen nach wie vor. Bei meinen Reisen durch verschiedene Länder wird mir immer Hilfe angeboten, um über die spezifische Klimapolitik spezifischer Länder zu schreiben. Aber das ist nicht wirklich nötig. Denn das grundlegende Problem ist überall das gleiche. Und das grundlegende Problem besteht darin, dass im Grunde nichts getan wird, um den klimatischen und ökologischen Zusammenbruch aufzuhalten – oder wenigstens abzuschwächen –, trotz all der schönen Worte und Versprechungen.

Großbritannien ist allerdings sehr speziell, nicht nur wegen seiner atemberaubenden historischen Kohlenstoff-Schuld, sondern auch wegen seiner aktuellen, sehr kreativen Kohlenstoffberechnung. Seit 1990 hat Großbritannien laut dem Global Carbon Project eine 37prozentige Reduktion seiner territorialen CO2-Emissionen erreicht. Und das klingt sehr eindrucksvoll. Aber diese Zahlen beinhalten nicht die Emissionen aus Luft- und Schifffahrt sowie jene aus dem Im- und Export. Bezieht man diese Nummern ein, liegt die Reduktion laut dem Rechercheverbund Tyndall Manchester bei rund zehn Prozent seit 1990 – oder bei durchschnittlich 0,4 Prozent im Jahr. Und diese Reduktion resultiert nicht zur Hauptsache aus den Konsequenzen von Klimapolitik, sondern eher aus einer EU-Direktive zur Luftqualität von 2001, die Großbritannien im Grunde zwang, seine sehr alten und extrem schmutzigen Kohlekraftwerke zu schließen und sie durch weniger schmutzige Gaskraftwerke zu ersetzen. Der Wechsel von einer desaströsen Energiequelle zu einer etwas weniger desaströsen bringt natürlich sinkende Emissionen mit sich.

Aber vielleicht ist das gefährlichste Missverständnis bei der Klimakrise, dass wir unsere Emissionen „senken“ müssen. Denn das ist bei weitem nicht genug. Wenn wir unter einer Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad bleiben wollen, müssen wir unsere Emissionen stoppen. Das „Senken der Emissionen“ ist natürlich notwendig, aber es ist nur der Anfang eines schnellen Prozesses, der innerhalb von ein paar Jahrzehnten oder früher zu einem Stopp führen muss. Und mit „Stopp“ meine ich Netto-Null – und dann schnell weiter zu negativen Zahlen. Dann ist der größte Teil der heutigen Politik nicht mehr möglich.

Der Umstand, dass wir über das „Senken“ statt über das „Stoppen“ der Emissionen sprechen, ist vielleicht die größte Kraft hinter dem Business as usual. Großbritanniens gegenwärtige Unterstützung für die neue Ausbeutung fossiler Brennstoffe – beispielsweise Großbritanniens Schiefergas-Fracking-Industrie, die Erweiterung seiner Öl- und Gasfelder in der Nordsee, den Ausbau von Flughäfen sowie die Planungserlaubnis für eine brandneue Kohlenmine – ist mehr als nur absurd. Dieses anhaltende unverantwortliche Verhalten wird in der Geschichtsschreibung zweifellos als eines der größten Versagen der Menschheit erinnert werden.

Die Leute sagen mir und den anderen Millionen Schulschwänzern immer, dass wir stolz auf uns sein sollten, für das, was wir erreicht haben. Aber das Einzige, worauf wir schauen müssen, ist die Emissionskurve. Und so leid es mir tut, aber sie steigt immer noch. Diese Kurve ist das Einzige, worauf wir schauen sollten. Jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung treffen, sollten wir uns fragen: Wie wird diese Entscheidung diese Kurve beeinflussen? Wir sollten unseren Wohlstand und Erfolg nicht länger am Diagramm, das das Wirtschaftswachstum anzeigt, messen, sondern an der Kurve, die die Emission von Treibhausgasen anzeigt. Wir sollten nicht länger nur fragen: „Haben wir genug Geld, um damit weiterzumachen?“, sondern auch: „Haben wir ausreichend freies Kohlenstoffbudget, um damit weiterzumachen?“ Das sollte und muss das Zentrum unserer neuen Währung werden.

Viele Leute sagen, wir hätten keine Lösung für die Klimakrise. Und sie haben recht. Denn wie sollten wir auch? Wie „löst“ man die größte Krise, der sich die Menschheit jemals gegenübersah? Wie „löst“ man einen Krieg? Wie „löst“ man es, zum ersten Mal zum Mond zu fliegen? Wie „löst“ man es, etwas Neues zu erfinden? Die Klimakrise ist sowohl das einfachste als auch das schwerste Problem, dem wir uns jemals gegenübersahen. Leicht ist es deshalb, weil wir wissen, was wir tun müssen. Wir müssen die Emission von Treibhausgasen stoppen. Schwer, weil unsere aktuelle Wirtschaft immer noch völlig abhängig von der Verbrennung fossiler Energieträger ist und damit Ökosysteme zerstört, um immerwährendes Wirtschaftswachstum zu schaffen.

„Wie genau lösen wir das also?“, fragen Sie uns – die Schulkinder, die für das Klima streiken. Und wir sagen: „Das weiß niemand genau. Aber wir müssen aufhören, fossile Energieträger zu verbrennen, und die Natur wiederherstellen und viele andere Dinge tun, die wir noch nicht ergründet haben mögen.“ Dann sagen Sie: „Das ist keine Antwort!“ Also sagen wir: „Wir müssen anfangen, die Krise wie eine Krise zu behandeln – und handeln, selbst wenn wir noch nicht alle Lösungen haben.“ „Das ist immer noch keine Antwort“, sagen Sie. Dann sprechen wir über Kreislaufwirtschaft und Renaturierung und die Notwendigkeit eines gerechten Übergangs. Und dann verstehen Sie nicht, worüber wir reden. Wir sagen, dass niemandem alle benötigten Lösungen bekannt sind und wir uns deshalb hinter der Wissenschaft versammeln müssen und diese Lösungen auf dem Weg finden müssen. Aber Sie hören nicht darauf. Denn dies sind die Antworten zur Lösung einer Krise, die die meisten von Ihnen nicht einmal vollständig begreifen – oder begreifen wollen.

Sie hören nicht auf die Wissenschaft, weil Sie sich nur für Lösungen interessieren, die Sie in die Lage versetzen, weiterzumachen wie bisher. So wie jetzt. Und diese Antworten gibt es nicht mehr. Weil Sie nicht rechtzeitig gehandelt haben.

Um den Zusammenbruch des Klimas zu verhindern, braucht es ein Kathedralen-Denken: Wir müssen den Grundstein legen, obwohl wir noch nicht genau wissen, wie genau wir das Dach bauen sollen. Manchmal werden wir einfach einen Weg finden müssen. Sobald wir uns entscheiden, etwas zu erfüllen, können wir alles erreichen. Und ich bin mir sicher: Sobald wir uns verhalten, als hätten wir einen Notstand, können wir die klimatische und ökologische Katastrophe vermeiden. Die Menschen sind sehr anpassungsfähig: Wir können das immer noch in Ordnung bringen. Aber die Möglichkeit dazu wird nicht mehr sehr lange gegeben sein. Wir müssen heute beginnen. Wir haben keine Ausreden mehr.

Wir Kinder opfern nicht unsere Ausbildung und unsere Kindheit, damit Sie uns sagen, was Sie für politisch möglich halten, in dieser Gesellschaft, die Sie geschaffen haben. Wir gehen nicht auf die Straße, damit Sie Selfies mit uns machen und uns erzählen, dass Sie wirklich bewundern, was wir tun.

Wir Kinder tun dies, um Sie, die Erwachsenen, aufzuwecken. Wir Kinder tun dies, damit Sie Ihre Differenzen beiseite schieben und endlich so handeln, wie Sie es in einer Krise tun würden. Wir Kinder tun dies, weil wir unsere Hoffnungen und Träume zurückhaben wollen.

Ich hoffe, mein Mikrofon hat funktioniert. Ich hoffe, Sie alle konnten mich hören.

(aus: »Blätter« 6/2019, Seite 59-63)

 

Rezension zu Adele Schopenhauer, von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Adele Schopenhauer, Unbekanntes aus ihrem Nachlass in Weimar, Ein Ausstellungsbuch, bearbeitet von Francesca Fabri und Claudia Häfner, Schätze aus dem Goethe- und Schiller-Archiv, Band 5, Weimarer Verlagsgesellschaft im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2019, Französische Broschur, Softcover, farbig illustriert, 100 Seiten, ISBN: 978-3-7374-0277-4, Preis: 14,90 Euro

Links:  https://www.evangelisch.de/inhalte/158916/01-08-2019/weimar-zeigt-ausstellung-zu-adele-schopenhauerund https://www.verlagshaus-roemerweg.de/Weimarer_Verlagsgesellschaft/Claudia_Haefner_(Hrsg.)_%7C_Francesca_Fabbri_(Hrsg.)-Adele_Schopenhauer-EAN:9783737402774.html

 

Das hier zu besprechende Buch ist als offener Ausstellungsführer konzipiert. Die aktuelle Ausstellung in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv, Jenaer Str. 1, Weimar, Eintritt frei) wird im Buch nicht ausdrücklich erwähnt, wobei der o.g. Link die zurzeit angebotene Ausstellung bestätigt.

Der Katalog ist nicht nur reichlich illustriert, was auch dem Leser/der Leserin einen Eindruck vom Umfang der Ausstellung gibt. Der Textteil ist jedoch auch recht ausführlich, so dass mit diesem ein Einblick in die Biographie von Adele Schopenhauer gegeben wird.

Eine Erklärung, wieso der Nachname z. B. In der Schenkung des Nachlasses durch ihre Freundin und Erbin Sibylle Mertens-Schaafhausen aus Bonn mit zwei „pp“ geschrieben wird, habe ich im Buch nicht gefunden. Ich lasse es daher bei der gewohnten Schreibweise.

Adele Schopenhauer stammte wie ihr bekannter Bruder, der Philosoph Arthur Schopenhauer aus Hamburg, hat aber lange mit ihrer Mutter in Weimar gelebt. Johanna Schopenhauer war auch die eher bekanntere Schriftstellerin als die Tochter Adele, wobei ihre Tochter gleichwohl einen starken Anteil am Werk der Mutter haben wird, nicht nur als Lektorin, sondern auch als stille Mitautorin.

Dem Salon ihrer Mutter in Weimar verdankt sie auch die lebenslange Bindung an die Familie Goethe. Der Autor, Sammler und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe war Stammgast in Johannas Salon. Adeles Freundin Ottilie von Pogwisch heiratet den früh verstorbenen Sohn Max.

Nachdem der Salon in Weimar hat schließen müssen, lebte Adele mit ihrer Mutter Johanna in Bonn in einem Haus der Familie Mertens-Schaafhausen.

Die Dokumente der hier dokumentierten Ausstellung zeigen eine vielseitig engagierte und künstlerisch begabte Frau. Sie war Schriftstellerin, wobei sie sich auch von Annette von Droste-Hülshoff beraten ließ. Neben ihrer Arbeit als Malerin arbeitete sie an Scherenschnitten. Im künstlerischen Nachlass finden sich auch Buchillustrationen wie der von ihr herausgegebenen Märchen und der biblischen Evangelien.

In einem Kapitel des Buches werden auch archäologische Funde aus der Römerzeit gezeigt, die Adele an Johann Wolfgang von Goethe vermittelte, ein kleiner Seitenblick auf die Vermarktung von Antiquitäten. Auch die Aufzählung der Bücher aus dem Erbe Adeles zeigt eine beachtliche Bibliothek, immerhin mit 40 Bänden der originalen Ausgabe der Werke Goethes.

Am 28. August 1849 wurde Adele Schopenhauer in Bonn beerdigt, zufällig dem Tag des 100. Geburtstag Goethes. Walther von Goethe, Johann Wolfgangs Enkelkind und Adeles Patenkind schrieb einen Nachruf auf Adele in der Allgemeinen Zeitung. Adeles Todestag ist der 25. August 1849.

Von Adele Schopenhauer gibt es (noch) keine Briefmarke. Aber der Ausstellungsführer berichtet im 2. Kapitel über die Wirkungsgeschichte Adeles in Film, Theater und der Bücherwelt.

Hier ist auch vom Buch von Angela Steidele die Rede, die Adele Schopenhauer und Sybille Mertens-Schaafhausen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung sieht.

Adele Schopenhauer steht zu Unrecht in der Forschung ein wenig im Schatten ihrer Mutter und anderer Zeitgenossen. Der Nachlass Adele Schopenhauers in Weimar gibt sicher noch genug Gelegenheit zu weiterer Forschung.

 

Einfache spirituelle Übungen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Anselm Grün: Rituale der Stille, 33 Impulskarten, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, 34 farbige Karten im Schmuck-Karton mit Magnetverschluss, ISBN 978-3-7365-0163-8, Preis: 18,00 Euro

Link: https://www.vier-tuerme-verlag.de/autoren/g/gruen-anselm/2518/rituale-der-stille

 

Wenn ich den Titel dieses Kartensets bei einem Buchhändler im Internet oder im Second-Hand-Buchversand eingebe, so finde ich etliche Varianten dieses Sets unter gleichem Titel von Anselm Grün. Das hier besprochene ist die aktuelle, völlig neu bearbeitete Neuauflage.

Pater Anselm Grün, geboren 1945, ist bei weitem das populärste Mitglied der Abtei Münsterschwarzach. Die Anzahl der von ihm verfassten Bücher wird mit ca. 400 angegeben. Früher war er im Hauptberuf der Cellerar der Abtei, das meint der wirtschaftliche Leiter des Hauses.

Anselm Grün ist populär, weil er keinen Elfenbeinturm der Religion predigt, sondern eine Religion des Lebens, die mit der säkularen Existenz vereinbar ist.

Das Kartenset ist für mich ein Buch über Spiritualität. 33 Karten bieten 33 inhaltliche Impulse, die in keiner Gliederung zu lesen sind. Jede Karte steht für sich und kann doch mit jeder anderen kombiniert werden. Es ist am einfachsten, den Zufall entscheiden zu lassen und sich für jeden Tag eine neue Karte zu ziehen und nach den dort genannten Worten zu verfahren.

Manche Karten sind mehr auf den Inhalt bezogen wie die Vorstellung eines Raumes im Inneren, die Ruhe eines Sonntags, ein Ort völliger Stille, das Hören Gottes im Gebet.

Explizite religiöse Gewohnheiten wie Gebet, Kirche, Bibel oder das Anzünden einer Kerze stehen daneben und dominieren den Eindruck der Karten nicht. Dadurch erweckt Anselm Grün für mich den Eindruck, dass die kirchliche Religion und die Spiritualität des Alltags zusammengehören.

Das machen auch die kleineren Übungsvorschläge deutlich:  der Klang einer Klangschale, die man ausklingen lässt, führt in die Stille. Es hilft dazu auch, ein Mandala auszumalen. Genauso gut ist es auf den Friedhof zu gehen oder in der Natur einen ruhigen Ort aufzusuchen.

Dies wird ergänzt durch einfache Übungen der Meditation: Folge deinem Atem, beginne dabei Kraft zu spüren, setze Pausen im Alltag, beispielsweise bevor du eine Tür öffnest. Folge deinen Gedanken ohne sie festzuhalten. Lerne zuzuhören und zu schweigen.

Manche Impulse beziehen sich auf die innere Haltung, wie eine Reise zu sich selbst, der innere Raum, die Gegenwart Gottes in mir selbst, Zustimmung zum Leben allgemein, Loslassen gewohnter Einstellungen.

Zwei Karten geben Gelegenheit, etwas zu notieren, eigene Gedanken oder Grüße für andere.

Es gibt kaum eine bessere Darstellung mystischen Denkens auch gerade in seiner Einladung zur Subjektivität ohne Egoismus. Die Religion, das Wort Gottes oder das Gebet sind nicht als exklusive Haltung zu deuten, sondern als ergänzendes Lebensangebot für jeden Lebensalltag. Es gibt keine Frage der Anknüpfung mehr, weil das ganze Leben zur Religion geworden ist, und die Religion zum Leben.

Philosophen auf der Spur, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Hartmut Sommer: Der philosophische Reiseführer, Auf den Spuren grosser Denker, Orte, Bilder, Gedanken, Marix Verlag, Wiesbaden 2018, Softcover, 372 Seiten, ISBN: 978-3-7374-1103-5, Preis: 24,90 Euro

Link

Die vielen hundert Kilometer, die Hartmut Sommer auf der Recherche dieses Buches zurückgelegt hat, bleiben ungezählt.

Sicherlich wird dieses Buch ein guter Reiseführer sein, denn die Orte, an denen sich beispielsweise Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Comenius und Spinoza, Immanuel Kant und Gottfried Herder, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Edith Stein, Martin Buber und Hans Jonas aufhielten und lebten, wird man nicht alle aufzählen können.

Ich empfinde das Buch trotz seiner praktischen Reiseempfehlungen und seinem Haupttitel „Der philosophischer Reiseführer“ eher als eine Einführung in die Erinnerung an Philosophen aus der Perspektive ihrer Wirkungsstätten. Und allein diese Perspektive, die Bodenhaftung und der Ortsbezug machen den ungeheuren Reiz der Einführung in das philosophische Denken aus. Das zeigt nicht nur, dass die Denkerinnen und Denker lebendige Menschen waren, sondern auch, dass ihre zeitweise auch wechselnden Lebensumstände keinesfalls nur nebensächliche Begleiterscheinungen waren. „Philosophen auf der Spur, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019“ weiterlesen

Mit Walter Benjamin unterwegs, Rezension von Markus Chmielorz, Dortmund und Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Frank Voigt, Nicos Papadakis, Jan Loheit, Konstantin Baehrens (Hg.): Material und Begriff, Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins, Argument Sonderband Neue Folge AS 322, Argument Verlag Hamburg 2019, 319 Seiten, Softcover, ISBN: 978-3-86754-322-4, Preis: 24,00 Euro,

Link: https://argument.de/produkt/material-und-begriff-arbeitsverfahren-und-theoretische-beziehungen-walter-benjamins/

 

„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.”(Walter Benjamin, Passagenwerk)

Mit Benjamin unterwegs – zu Orten, Personen, Literaturen, in die Geschichte. Auf den Spuren Benjamins – buchstäblich und sinnbildlich: auf dem Weg und Methode. Was am Wegesrand vorzufinden ist: Geschichte(n), Literatur, Gespräche als Material – buchstäblich und sinnbildlich: inmitten von Text-Gebirgen und Montagen. Sagen oder zeigen, inventarisieren oder verwenden, das ist der Gegensatz von Deuten und Sehen, von Auf-den-Begriff bringen und anerkennen, von Aneignen und Zu-ihrem-Recht-kommen-lassen. Das Material hat seine eigene Sprache – das Ästhetische hat seine eigene Rationalität – die sich entzieht, die widerspenstig ist, die die Lücke markiert zum Begriff, zum nicht einholbaren Rest, der wieder und wieder nicht aufgeht im Begriff. Vor der „Anstrengung des Begriffs“ kommt bei Benjamin das „Materialstudium“. Es geht ihm um eine „historisch-kritische Materialgerechtigkeit“, um eine „Entfaltung des Begriffs am Material“ – eine Konzeption von Utopie, in der das Abwesende im Anwesenden zur Sprache kommt. So wird in der Montage des Materials die Konstruktion sichtbar und in der Konstruktion der Bruch zwischen Material und Begriff. Und mit Benjamin unterwegs sein und dem Material eingedenk sein heißt, den Bruch zwischen Biographischem und Historischen sichtbar machen im wechselseitigen Prozess zwischen Individualisieren und Historisieren.

Mit Benjamin auf dem Weg sein, seiner Spur folgen, sich im Vorübergehen zuwenden – und eine Parallele zwischen Passage und Pessach scheint auf: „Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll für euch ein Zeichen sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen, wenn ich das Land Ägypten schlage.“ (2. Mose, 12,13) – vom Kopf auf die Füße gestellt, kann der nicht vorübergehen, der nicht das Blut sieht, der nicht Leid, Schmerz und Gewalt eingedenk ist. Benjamins Arbeit ist die Arbeit dessen, der dem eingedenk ist. (MC.)

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