Seinsvergessenheit, Dialog, Christoph Fleischer, Konrad Schrieder, Welver, Hamm 2017

Von: Christoph Fleischer

An: Konrad Schrieder
Betreff: Eine Frage

Lieber Konrad,

ich habe auf einer Beerdigung den hier skizzierten Gedankengang entwickelt und natürlich mündlich weiter entfaltet. Vorlage dazu ist 1.Korinther 13, 13, Lesung der zweite Teil des Kapitels, in dem auch von Stückwerk usw., die Rede ist. Meine Frage an Dich ist, ob der hier versuchte Umgang mit Heideggers Begriff „Seinsvergessenheit“ sachgemäß ist:

Martin Heidegger, der Philosoph, der vielleicht doch mehr in die Mächte der Nazizeit verwickelt war, als man das früher glauben wollte, war doch auch insgesamt vom Verstummen der Sinnfrage angesichts der Leiden und Verletzung geprägt. 

Er nannte es „Seinsvergessenheit“. Die Frage ist, wie wir heute solcher Seinsvergessenheit begegnen können. 

Dazu ist der Bibeltext von Paulus ein guter Hinweis: Nun aber bleiben Glaube Hoffnung Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Dieses Wort Liebe muss gar nicht romantisiert werden. 

Es meint nicht die erotische Anziehung der Liebe, sondern den Gemeinschaftsbezug, die Zusammengehörigkeit. 

In der Gemeinde geht diese über die einzelnen Familien hinein, denn sie ist in Christus begründet. 

Diese Verbindung gibt uns eine Hoffnung über den Tod hinaus, die trotzdem damit leben kann, dass das Ende des irdischen Lebens Realität ist. 

Unser Leben ist in Gott, in der Ewigkeit aufgehoben. 

Dort geht auch vieles von dem weiter, was hier angestoßen wurde und vielleicht auch nur Stückwerk geblieben ist. 

Die Vollendung steht immer noch aus.

Herzliche Grüße

Christoph

Foto: Niklas Fleischer (c): Haus der Stille, Bergen-Belsen

Lieber Christoph,

ich konnte erst jetzt auf Deine interessante Frage reagieren.

Meine Gedanken findest Du unten.

Liebe Grüße,

Konrad.

 

Seinsvergessenheit ist das Verbleiben im Seienden, ohne sich in der ontologischen Differenz, also in der Spannung zwischen Seiendem und Sein zu begreifen bzw. nicht das Sein im Seienden zu sehen. Heidegger spricht in seiner frühen Schrift „Was ist Metaphysik?“ vom Sein zum Tode, von der Angst oder in der späteren Einführung in die Metaphysik der Langeweile. Ich verstehe diese Überlegungen nicht als Nihilismus, sondern existenzialistisch als ein Ausloten von Grenzerfahrungen. Dazu kann man auch Leiden und Verletzungen rechnen. Heidegger ist Philosoph und setzt das Sein, dem wir uns immer nur annähern, als nicht automatisch mit Gott gleich. Das hat ihm Kritik von Edith Stein und Dietrich Bonhoeffer eingebracht. Heidegger postuliert, dass es das Nichts im Gegenüber zum Sein nicht geben kann, dass es immer eine Bewegung zum Sein geben muß. Positiv gewendet nimmt er die Frage der Scholastiker und der Metaphysik auf, warum etwas „ist“. Das bringt ihn, ohne dass er das so formuliert, in die Nähe des kausalen Denkens, das bei Thomas von Aquin die Grundlage der Gotteserkenntnis ist. Das Sein bleibt bei Heidegger unbestimmt, zeigt sich aber in den Seienden. Karl Rahner geht einen etwas anderen Weg, wenn er in „Hörer des Wortes“ sagt, dass jeder Mensch notwendig Metaphysik treibe, weil er, bewusst oder meistens unbewußt, in dieser ontologischen Differenz steht. Nach Heidegger bedeutet Dasein der Zustand, der sich zwischen Seinsvergessenheit und Lichtung des Seins um sein Sein kümmert. Es kann also kein Dasein geben, das nicht nach dem Sein fragt. Damit sagt Rahner eigentlich nichts Anderes als Heidegger.

Die Frage ist nur, wie wir Menschen das tun. Als endliche Wesen können wir nicht intuitiv das Sein im Seienden schauen, sondern nur diskursiv (Thomas: dividendo et componendo). Wir bringen nicht, wie Platon sagt, ideae innatae mit (angeborene Ideen), sondern wir erkennen nach Kant durch Analyse und vor allem durch Synthese. Diese Synthese spielt bei Kant eine zentrale Rolle, obwohl er den Akzent nicht auf die Sinnlichkeit, sondern auf den reinen Verstand und die reinen Begriffe legt. Die Begriffe zeigen, auch wenn sie kontingent sind, dass wir genera bilden, in denen wir die Einzeldinge zuordnen. Nicht die Begriffe sind dabei das Eigentliche, sondern die apriorischen Inhalte, die sich damit verbinden, letztlich das apriorische Vermögen, übergeordnete Denkmuster zu bilden. Nach Kant geschieht das durch die Einbildungskraft, nach Thomas wird die forma von der materia durch das suppositum abstrahiert. In der Erkenntnis vollzieht sich immer eine Bewegung zum Ziel, dem Sein. Die Begriffe bezeichnen also noch nicht das Sein, sondern stehen zwischen Seiendem und Sein.

Glaube, Liebe und Hoffnung bezeichnen also noch nicht Eigenschaften Gottes, sondern sie sind Schwellen, auf denen ich auf das in diesem Leben unerreichbare Sein transzendiere. Trotzdem ereignet sich darin Wahrheit, denn Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen sinnlich Erfahrenem und dem Begriff. Doch dieser Begriff ist objektiv, gegen-ständig, nicht subjektiv, wie im Idealismus, was Bonhoeffer ja auch in „Akt und Sein“ ablehnt.

In diesem Sinne sind die Begriffe eine subjektiv-objektive bzw. material-formale Realität, in der sich Sein ereignet. Ob man das nun transzendental versteht oder existential, wie in Deinen Überlegungen, darin sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied. Im Existenzialen ist die empirische Ebene stärker beteiligt, wohl auch das Empfinden des „Stückwerks“. Letztlich bleibt die Identifikation mit Gott Glaubenssache im Sinne einer Annäherung an das Sein, auch wenn Thomas sie über das Kausalprinzip zwingend gegeben sieht. Erst wenn wir dieses Sein intuitiv schauen, d.h. wenn wir nicht mehr in der ontologischen Differenz stehen, dann gelangen wir zu den reinen Begriffen des Seins. Nach Thomas steht unser Intellekt dann frei von der Verwiesenheit auf die Materie und das Hinnehmen (passio) von Sinnes-Eindrücken im Akt, ist also eigentlich kein intllectus possibilis mehr.

Ob nun Thomas, Kant oder Heidegger: es geht nicht um das reine Schauen, sondern um das Licht oder die Lichtung, die sich in der Tätigkeit unseres Intellektes ereignet. Die Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung sind Abstrakta. Sie zwingen uns zum einen, die Defizite unseres Glaubens, Liebens und Hoffens zu erkennen, und zum anderen den Seinshorizont zu überschreiten und zu transzendieren. Paulus mag durch die Begegnung mit der hellenistischen Kultur von platonischen (und stoischen) Einflüssen geprägt worden sein. Aber die Begriffe sind noch nicht das Sein selbst. Dennoch stehen wir im Sein, ob wir es begreifen oder nicht. Grenzerfahrungen mögen uns das besonders bewusstmachen, und da mag Heidegger recht haben. Für die Seelsorge ist das jedenfalls ein lohnender und interessanter Gedanke. Vielen Dank dafür.

 

Kulturpsychologie, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017

Zu:

Jürgen Straub: Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog, Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften, Ernst-E.-Boesch-Preis für Kulturpsychologie 2015, Herausgegeben von der Gesellschaft für Kulturpsychologie, Mit einem Statut zum Ernst-E.-Boesch-Preis vom Vorstand der Gesellschaft für Kulturpsychologie und einer Laudatio von Jens Brockmeier, Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, kartoniert, 226 Seiten, ISBN: 978-3-8379-2612-5Preis: 24,90 Euro

So interessant und aufregend der Titel des Buches ist, so schwierig und uneinheitlich sind die Untertitel. So steht am Anfang der Lektüre eine Recherche, die in meinem Fall durchaus fehlerhaft sein kann, da ich mich in diesem Metier als Laie empfinde. Der hier als Autor genannte Jürgen Straub ist erster Preisträger des Ernst-E.-Boesch-Preises. Ernst-E.-Boesch, nach dem dieser Preis benannt ist, starb im Jahr 2014 und hinterließ der Gesellschaft für Kulturpsychologie eine Stiftung, nämlich die des nach ihm benannten Preises. Ernst E. Boesch war am Fachbereich Psychologie der Ruhruniversität Bochum tätig und hat dort die besondere Disziplin der Kulturpsychologie begründet. Diese sozialpsychologische Ausrichtung steht immer etwas in Konkurrenz zu der sonst eher individualpsychologischen Ausrichtung des Faches Psychologie. „Kulturpsychologie, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017“ weiterlesen

Predigt über 5. Mose 7, Christoph Fleischer, Welver 2017

Predigt für den Gottesdienst im Grünen am 6. Sonntag nach Trinitatis in Bad Sassendorf, am 23.07.2017

 

Liebe Gemeinde hier in Bad Sassendorf,

 

wir stehen vor der Kirche und feiern Gottesdienst im Grünen, so wie es auch mit Pfarrer Fischer zu Himmelfahrt auf dem Gemeindebrief abgebildet ist. (Gemeindebrief hochhalten)

Gottesdienst im Freien liegt im Moment stark im Trend. Hier in Bad Sassendorf hat der Kurparkgottesdienst Tradition und nach der Umgestaltung des Kurparks geht es sicher dorthin wieder zurück. Die katholische Gemeinde am Möhnesee feiert seit einigen Jahren die Kirche am See. Es gib auch einen Taufgottesdienst am Möhnesee, und wie ich las auch an der Ruhr und am Rhein. Auch in Soest gab es kürzlich einen Open-Air-Gottesdienst auf dem Petrikirchplatz mit über 500 Besucherinnen und Besuchern.Die Gottesdienste des Kirchentages mit meist an die 100.000 Besucherinnen und Besuchern haben manche auch schon miterlebt.

Andererseits mag es anderen Menschen eigenartig vorkommen, dass die Gemeinden mehr und mehr aus der Kirche auswandern und Gottesdienste im Freien machen feiern. Es heißt: Wir gehen einen Schritt auf die Menschen zu, anstelle sich hinter dicken Mauern zu verstecken.

Foto: Niklas Fleischer (c)

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Von Natur aus gut, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017

Zu: Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, gebunden, 283 Seiten, ISBN 978-3-518-58695-2, Preis: 32,00 Euro

Michael Tomasello (geb. 1950) ist Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm das Buch: „Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014). Die Abfolge dieser beiden Aspekte, vom Denken zur Moral, zeigt für Michael Tomasello auch die Abfolge in der menschlichen Entwicklung. „Von Natur aus gut, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017“ weiterlesen

Islam? Scharia? Islamismus? Christoph Fleischer, Welver 2017

Notien für ein Referat.

Vorbemerkung: Das vorgegebene Thema „Islam? Scharia?“ habe ich um das dritte Stichwort „Islamismus?“ ergänzt. Weiterhin ist der Text zum Text noch sehr skizzenhaft, da er als Materialsammlung für einen Vortrag entstanden ist.

Impuls: Parallelgesellschaften.

Hinter der Frage Islam und Scharia steckt die Frage nach Parallelgesellschaften, die eventuell einer anderen Rechtsordnung unterliegen könnten, als der gewöhnlich in einer Gesellschaft gültigen. Daher möchte ich eingangs auf diese Frage in Gestalt einer historischen Reminiszenz eingehen.

Gebetsraum in der Werler Moschee, um 2012

In dem weiter unten erwähnten Buch von Navid Kermani, „Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime“, las ich eine Bemerkung über die Selbstverständlichkeit von Parallelgesellschaften in verschiedenen Ländern oder Städten der Erde, auch in Europa. Wobei er erwähnte, dass in Czernowitz seit 1945 keine Deutschen mehr leben. Um die Situationen genauer zu eruieren, schlug ich eine Seite dazu im Internet auf. Czernowitz war bis 1918 die Hauptstadt der Bukowina, einer Provinz von Österreich-Ungarn. Danach gehörte es zur UdSSR, heute zur Ukraine. „Islam? Scharia? Islamismus? Christoph Fleischer, Welver 2017“ weiterlesen