Wir müssen die Wissenschaft schützen! – Intellektuelle Unredlichkeit am Beispiel der neusten Debatte über die Gefahren der Luftverschmutzung, Lars Jaeger, Freiburg 2019

Foto: Niklas Fleischer, Ort des Fotos ist Hamburg

Wie wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit einem Mal in das Zentrum einer heftigen politischen Diskussion geraten, erlebten wir jüngst mit der Debatte um die gesundheitlichen Folgen von Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxiden. Ausgelöst wurde sie durch die Publikation eines Positionspapiers des Pneumologen (Lungenforschers) Dieter Köhler zusammen mit dem lange in der Automobilindustrie tätigen Ingenieurwissenschaftler Thomas Koch vom 22. Januar 2019.

In ihrem zweiseitigen Papier, das eher die Form einer Presseerklärung als einer wissenschaftlichen Stellungnahme oder gar Forschungsstudie hat, behaupten die Autoren keck, dass die von diversen Gesundheitsorganisationen (darunter die Weltgesundheitsorganisation WHO) geteilten Ansichten zu Gesundheitsgefährdungen durch Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxide einer soliden wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Die vielen Studien zu den Gefahren von Luftverschmutzung hätten grosse Schwächen, die herangezogenen Daten seien einseitig interpretiert worden, und ganz generell seien die Stickoxidforscher parteiisch, so die Autoren. Harter Tobak. Wäscht hier endlich mal jemand der wissenschaftlichen Gemeinschaft den Kopf und erklärt uns, wie es wirklich ist? Die aufgestellten Behauptungen wiegen derart schwer, dass man erwarten sollte, dass sie auch mit entsprechend validen und starken Argumenten, bestenfalls harten wissenschaftlichen Belegen untermauert werden. In diesem Fall wäre eine solche Stellungnahme wünschenswert und würde der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Debatte in dieser wichtigen Frage sehr helfen. Schliesslich ist das Thema um die mit dem Verkehr verbundenen gesundheitlichen Belastungen im Auto-Land Deutschland und den jüngsten Manipulationsskandalen von VW und Konsorten besonders brisant. Doch hier herrscht leider komplette Fehlanzeige: Statt der erwarteten wissenschaftlichen Belege begeben sich die Autoren in eine peinliche Scheindebatte mit teils haarsträubenden Begründungen, die doch sehr an die Argumentationsmuster von Klimawandelleugnern und Tabaklobbyisten erinnern. Betrachten wir sie im Folgenden im Einzelnen.

Als erstes ziehen Köhler und Koch das banale Argument heran, dass Korrelationen keine Kausalitäten darstellen. Wir kennen diese Aussage aus anderen wissenschaftsskeptischen Zirkeln. Was sie für viele Menschen so verführerisch macht, ist, dass sie wahr ist, auch wenn sie gar keine Anwendung findet. Natürlich können wir aus einer Datenstudie, die uns Korrelationen aufzeigt, niemals ganz sicher auf Kausalitäten schliessen. Wer das behauptet (oder als Kritikpunkt an einer bestehenden Auffassung anführt), hat das Wesen der Wissenschaft nicht begriffen. So wie eine wissenschaftliche Theorie niemals mit dem Anspruch auf letzte Wahrheit auftreten kann, sind Beobachtungen und Daten niemals letztbegründend für kausale Verbindungen. Allerdings darf durchaus von einer Kausalität ausgegangen werden, respektive von der Richtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie (auch wenn sie nicht 100% sicher ist), wenn 1. die Effekte in vielen verschiedenen, voneinander unabhängigen und mit unterschiedlichen Methoden durchgeführten Studien beobachtet worden sind, und 2. es dazu einen glaubhaften Mechanismus oder eine plausible Theorie gibt. Beide Bedingungen sind hier ohne Weiteres erfüllt: Es gibt Zehntausende von Studien zu Luftschadstoffen und ihrem Einfluss auf unsere Gesundheit, und die Verbindung von Feinstaub bzw. Stickoxiden und Entzündungen in der Lunge ist sehr plausibel (Stickstoffdioxid ist ein ätzendes Reizgas). Und selbst wenn sich diese Erkenntnis trotz all der Studien irgendwann mal als falsch herausstellen sollte (eine gewisse – wenn auch sehr geringe – Wahrscheinlichkeit dafür besteht immer, wie auch dafür, dass der Klimawandel tatsächlich nicht menschenverursacht ist), so gebietet es die Risikoethik bis dahin, das Augenmerk auf die Möglichkeit sehr schädlicher (im Fall des Klimawandels gar apokalyptischer) Entwicklungen zu richten.

Ein sehr ähnlicher (eigentlich der gleiche) Punkt ist der, den die Autoren als zweites „Argument“ aufführen: Es gibt zahlreiche andere Faktoren, die Krankheitshäufigkeit und Lebenserwartung beeinflussen. Auch das ist reichlich banal, kann aber kaum geeignet sein, einen bestehenden Konsens über die Schädlichkeit von Luftverschmutzung für unsere Gesundheit zu widerlegen. In Anbetracht des zum ersten Argument Gesagten erübrigt sich eine weitere Entgegnung zu diesem Punkt.

Als nächstes sprechen die Autoren über Schwellenwerte und die Frage, durch welche Mechanismen genau die Luftverschmutzung auf den menschlichen Körper wirkt („Toxizitätsmuster“). Tatsächlich lassen sich die Auswirkungen von Stickoxiden auf unsere Gesundheit nur schwer isoliert betrachten. Hierzu gibt es unzählige epidemiologische Studien mit oft Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern und vielen Hunderten Variablen und entsprechend komplexen statistischen Modellen. Dabei wird das Risiko von Verzerrungen in den Studien so weit wie möglich reduziert, indem Forscher den Einfluss anderer bekannter Faktoren herausrechnen. Absolute Sicherheit gibt es allerdings nie. Dennoch gilt die schädliche Wirkung des Feinstaubs als eindeutig nachgewiesen, bei Stickoxiden sind die Unsicherheiten etwas grösser, gehen aber nichtsdestotrotz in eine eindeutige Richtung. Hier einen einzigen, alles zusammenfassenden Schwellenwert anzugeben, ab welcher Konzentration Feinstaub und Stickoxide definitiv schädlich sind, ist nahezu unmöglich. Doch daraus zu folgern, dass „alle diese Studien eine konstante Störgröße (Bias) messen“, ist geradezu irrsinnig. Mit der gleichen Argumentation könnte man sagen, wir verstehen nicht ganz genau, wie der steigende CO2-Gehalt in der Atmosphäre das globale (und lokale) Klima beeinflusst, also müssen wir schlussfolgern, dass es diesen Einfluss gar nicht gibt. Mit einem derartigen Argument die wissenschaftliche Arbeit hinter tausenden Studien als fehlerhaft oder gar interessegeleitet zu erklären, ist sehr bedenklich.

Die haarsträubendste Argumentation, ironischerweise im Papier als „das stärkste Argument gegen die extrem einseitige Auswertung der Studien“ aufgeführt, bewahren sich die Autoren jedoch für den Schluss auf. Hier werden die Raucher herbeigezogen, die ja „quasi freiwillig an einer riesigen Expositionsstudie teilnehmen“. Aus der bekannten Tatsache, dass Rauchen die Lebenserwartung um ca. zehn Jahre verkürzt, schliessen Köhler und Koch wagemutig, dass Raucher, die mit jeder Zigarette einhundert bis 1000-fach so viel Stickoxide und Feinstaub einatmen, „nach wenigen Monaten alle versterben müssten“. Da sie das offensichtlich nicht tun, müssen die Studien falsch sein. Das ist natürlich kompletter Unsinn, worauf Experten längst hingewiesen haben. Dies beruht auf einer Variation des logischen Denkfehlers, auf den die Autoren in ihrem ersten Argument in derart polemischer Absicht hinweisen. Denn so gilt natürlich auch, dass aus einer fehlenden Korrelation in einem Zusammenhang nicht auf eine fehlende Kausalität in einem anderen, ggfs. damit verwandten Zusammenhang geschlossen werden kann. Nicht zuletzt rauchen die meisten Raucher nicht 24 Stunden und ebenso wenig als Schwangere, Babys und Kinder, wohingegen sie alle Abgase einatmen.

Die Autoren weisen zuletzt darauf hin, dass alle gängigen Informationen über Schadstoffbelastungen „im Wesentlichen aus der gleichen Quelle“ stammen. Das ist eine grobe Falschaussage, in klareren Worte eine glatte Lüge, die schon an „Trump‘sche“ Verhältnisse heranreicht. Unzählige unabhängige Forschungsstudien haben zu dem wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage beigetragen, der sich über viele Jahre herausgebildet hat. Keiner der beiden Autoren hat im Übrigen an dieser Forschungsarbeit je teilgenommen: Köhler hat in seiner Karriere keine einzige „peer-reviewte“ Studie zu Stickoxiden oder zu den medizinischen Auswirkungen von Feinstaub in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht, nur einen Aufsatz im nicht begutachteten Ärzteblatt, das eher ein offizielles Mitteilungsorgan der jeweiligen Kammer ist als ein akzeptiertes Wissenschaftsjournal. Und Koch ist ein Ingenieur, der weit entfernt von der medizinischen Forschung ist.

Anstatt ihre Zweifel und ihre Kritik in wissenschaftlichen Fachkreisen darzustellen und darüber mit Experten zu diskutieren und so zu einem konstruktiven wissenschaftlichen Austausch beizutragen, wählten die Autoren den Weg über die Öffentlichkeit. Offensichtlich geht es ihnen mehr um Effekthascherei, Selbstbestätigung, Lobbyismus oder die Verbreitung von Ideologien als um eine „Versachlichung der Diskussion“. Sie wollen Zweifel an wissenschaftlichen Aussagen säen, womit sie Verunsicherung erzeugen, die sich dann politisch instrumentalisieren lässt. Bei einem so bedeutenden Thema wie der Luftverschmutzung und der Gefährdung unserer Gesundheit ist das Argumentieren mit falschen Fakten und Lügen jedoch nicht nur unangebracht, sondern zutiefst unredlich. Wissenschaft ist nach wie vor die effektivste Methode gegen alternative Fakten. Deshalb diskreditieren und bekämpfen Populisten wie Köhler und Koch ihre Erkenntnisse mit so vehementen Worten. Dass sie damit teilweise sogar Erfolg haben, ist umso schlimmer. Tatsächlich hat eine unheilige Allianz aus Politikern von CSU, FDP und AfD sowie dem Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe ihre Aussagen schnell begrüsst und fordert entsprechende Gesetzesänderungen. Spätestens bei der Aussage von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dass der Vorstoss „Sachlichkeit und Fakten in die Dieseldebatte“ bringe, muss die Zivilgesellschaft aufstehen und sich wehren, um gegen die Verunglimpfung der Wissenschaft durch skrupellose Populisten vorzugehen. Dies ist auch die Aufgabe einer aufgeklärten Presse, welche die Aussagen der Grenzwertkritiker teils erschreckend unkritisch wiedergab und damit erst dafür sorgte, dass diese populistische Streitschrift gegen etablierte wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt mediale Aufmerksamkeit erhielt. Dies ist zuletzt eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Und diese ist das Fundament unserer offenen Gesellschaft.

Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Seine letzten Bücher „Die Naturwissenschaften. Eine Biographie“ (2015) und „Wissenschaft und Spiritualität“ (2016) sind bei Springer Spektrum erschienen. Im August 2017 erschien „Supermacht Wissenschaft“ beim Gütersloher Verlagshaus und sein neuestes Buch „Die zweite Quantenrevolution“ erschien im August 2018 bei Springer.

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Husarenritt durch die Wissenschaft, Rezension, Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Jorge Cham, Daniel Whiteson: no idea, was wir noch nicht wissen, Vorletzte Antworten auf die letzten Fragen des Universums, Aus dem Englischen von Hainer Kober, C. Bertelsmann Verlag, München 2018, 463 Seiten, Softcover, ISBN: 978-3-570-10320-3, Preis: 15,00 Euro

Allgemeinverständliche Wissenschaftsliteratur, ist das so etwas wie die Quadratur des Kreises? Wie kann man einen komplizierten Sachverhalt einfach erklären? Immerhin, der Versuch ist streckenweise gelungen, dank der Zusammenarbeit des Wissenschaftlers Daniel Whiteson mit dem Comic-Zeichner Jorge Cham. Ein Comic ist das Buch allerdings nicht geworden. Der Textteil überwiegt, liefert allerdings auch manche Steilvorlage für gelungene Zeichnungen.

Die zweite Schwierigkeit ist der Unterschied zwischen amerikanischen und deutschen Sachbüchern. Ich möchte den Unterschied mal mit zwei Spielen verdeutlichen. Das amerikanische Sachbuch ist ein Quartett mit 32 Karten, davon je vier zu einem Set gehörend. Das Thema bzw. die Grundaussage ist bei allen Bildern gleich. Die Quartette unterscheiden sich in ihren Unterthemen. Der Erkenntnisfortschritt liegt in der geschickten Illustration des immer gleichen Themas, das in diesem Fall schon mit dem Buchtitel gegeben ist.

Ein deutsches Sachbuch wäre hingegen wie ein Leiterspiel. Es geht einen Weg, hat Anfang und Ende und dazu gibt es Ereigniskarten, Pausen und Sprünge. Aber alles bleibt innerhalb eines roten Fadens, so dass es immer noch am Grundkonzept der Erzählung orientiert bleibt, die erst mit dem Ende eine Lösung päsentiert.

Das vorliegende Buch ist ein amerikanisches Sachbuch. Die Themen der Kapitel sind unterschiedlich, aber die Aussage ist immer die gleiche: Die Wissenschaft steht vor großen Rätseln. 

Ich halte es für wichtig und notwendig, diese Aussage gründlich zu bedenken, da sie die Wissenschaftsgläubigkeit der Moderne in Frage stellt. Das Problem liegt m. E. darin, dass sich die Wissenschaftlichkeit selbst hierdurch nicht erledigt. Die offenen Fragen sind die Fortsetzung einer sehr gründlichen Beschäftigung mit allen mathematischen, physikalischen, chemischen und biologischen Faktoren unserer Welt.

Die ersten Kapitel befassen sich mit dem Universum, die folgenden sind eher der Quantenmechanik gewidmet. Die Grundfragen der Wissenschaft werden in ihrer Prozesshaftigkeit und Offenheit geschildert.

Jetzt könnte man sagen, dass das Buch mehr Fragen aufwirft als es beantwortet, wäre ja schon vom Leitthema her vorgegeben, dass nämlich gerade das Wesen unserer heutigen Wissenschaft darin liegt, dass immer wieder neue offene Fragen entstehen. Manchmal entstehen aber die offenen Fragen auch durch die lockere und humorvolle Art und Weise, das Wesen der Wissenschaft zu vereinfachen. Im Kapitel 5 „Die Mysterien der Masse“ werden zwar die Schwierigkeiten der Quantenmechanik geschildert, aber es wird einfach unterschlagen, dass die Newtonsche Physik deshalb nicht ungültig ist.

Diese spaßige Art der Illustration und der Beispiele lassen vergessen, dass der Leser und die Leserin mindestens über ein naturwissenschaftliches Abitur verfügen sollte. Die leichte und lockere Weise, schwierige Themen aufzutischen, macht die Materie, um die es geht, nicht einfacher.

Überraschende Inspiration, Sabine Lethen, Kirche in WDR 4, 27.01.2019

Zum Lesen und Hören: https://www.kirche-im-wdr.de/nix/de/nc/startseite/programuid/ueberraschende-inspiration/formatstation/wdr4/

Ich muss Ihnen von einem Erlebnis beim Einkaufen erzählen! Ich war shoppen und suchte einen schicken Pullover. An einem Kleiderständer neben mir steht eine Kundin, die sehr zögerlich die Waren durchgeht. Immer wieder nimmt sie ein Teil in die Hand, beguckt es von allen Seiten und hängt es wieder zurück. Schiebt Bügel um Bügel weiter, nimmt ein anderes Teil heraus – und hängt es zurück. Greift wieder nach dem ersten. Eine Verkäuferin ermuntert sie: „Probieren Sie doch einfach mal was an. Angezogen kann man viel besser sehen, ob es zu einem passt oder nicht.“ „Ja, kann ich ja mal machen.“ sagt die Kundin, geht Richtung Umkleidekabine und ergänzt skeptisch: „Aber mein Gefühl sagt mir schon, dass das nichts für mich ist.“

Die Verkäuferin flüstert mir leise zu: „Achte auf deine Gefühle, sie werden deine Gedanken. Achte auf deine Gedanken, sie werden deine Worte.“ Unsere Blicke treffen sich und schmunzelnd fahren wir beide gemeinsam fort: „Achte auf deine Worte, sie werden deine Taten.“ 

Die Verkäuferin wurde gerufen und ich habe den Laden verlassen. Ohne etwas zu kaufen, aber irgendwie beschwingt, beseelt. Das ist doch wohl verrückt! Da will ich nach einem neuen Pulli Ausschau halten, bin also im Einkaufsmodus und dann überrascht mich ein Gedanke, den ich an diesem Ort einfach nicht erwartet hätte! – Eine echte Lebenserkenntnis:

„Achte auf deine Gefühle, sie werden deine Gedanken. Achte auf deine Gedanken, sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, sie werden deine Taten.“ Und der Spruch geht sogar noch weiter: „Achte auf deine Taten, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal!“ Mich spricht dieser alte Text sehr an. Er soll im Talmud stehen, oder gilt als östliche Weisheit oder chinesisches Sprichwort. 

Egal: Die Worte haben für mich einen tiefen Sinn. Sie zeigen: Da hat sich jemand mit sich selbst beschäftigt, hat sich mit dem Leben an sich auseinandergesetzt und eine wahre Erkenntnis formuliert: Was ich fühle, kann mir zum Schicksal werden. Voraussetzung: Ich muss achtsam auf mich selbst schauen, aufmerksam mit mir umgehen, mich bewusst ausrichten. Das sind für mich geistliche Gedanken, die mich inspirieren. 

Eigentlich erwarte ich so etwas in einem Gottesdienst, bei einem Impuls, in Einkehrtagen, in irgendeinem spirituellen Zusammenhang – aber doch nicht irgendwo im Alltag, im Kaufhaus, beim Shoppen! 

Aber – warum eigentlich nicht?

Als bereits vor über zwanzig Jahren die Kirchen unübersehbar immer leerer wurden, hörte man einige klagen: „Die Religion verdunstet“. Damals war ich in der Ausbildung zur Gemeindereferentin. Und einer unserer Ausbilder meinte dazu nur: „Das ist doch wunderbar! Wenn etwas verdunstet, macht es sich im ganzen Raum breit. Wasser bleibt Wasser, auch wenn es verdunstet. Der wesentliche Unterschied ist aber: Wenn es verdunstet verlässt es den begrenzten Rahmen seines Topfes und ist plötzlich überall!“ 

Dieses Bild finde ich bis heute einfach toll. Religion, Weisheit, Lebenserkenntnis bleibt nicht in dem ihr zugeordneten Raum, sondern verteilt sich, breitet sich aus, ist an vielen Orten anzutreffen: Eine mir fremde Verkäuferin berührt meine Seele – plötzlich und unerwartet, aus heiterem Himmel. Und ich? Ich muss einfach darauf achten, dass mich etwas berührt.

Es grüßt Sie Sabine Lethen aus Essen

Suche nach Gott, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Lars Muhl: Der Gral, aus dem Englischen übersetzt von Maike und Stephan Schuhmacher, Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2018, Softcover, 371 Seiten, ISBN 978-3-95883-282-4, Preis: 19,90 Euro

Lars Muhl (geb. 1950) in Aarhus, Dänemark, hat lange als Liedermacher gewirkt, bis er zu seinem schriftstellerischen Lebenswerk gefunden hat. Vor etwas mehr als 10 Jahren sind die englischen Originalausgaben seiner Buchtrilogie erschienen: Der Seher (verfilmt) – Magdalena – Der Gral. Dass diese Bücher zusammengehören, wird in diesem letzten Teil der Trilogie schon dadurch deutlich, dass auf den Seher und Maria Magdalena Bezug genommen wird. Es ist allerdings nicht nötig, die anderen Bücher zu kennen, wenn man den dritten Teil liest.

Das Buch zeichnet zwei Zeitlinien, wovon eine zur Zeit der Urchristenheit in der Gegend von Palästina spielt, in Jerusalem, in Ägypten und auf dem Mittelmeer.

Der Bezug zum Urchristentum wird auch durch ein Zitat aus dem Thomasevangelium hergestellt, das dem Buch wie ein Motto vorangestellt ist: „In einem Menschen gibt es ein Licht im Inneren, und es erleuchtet die ganze Welt. Leuchtet es nicht, welche Finsternis.“ 

Ich habe diese Textstelle nachgeschlagen und sie fast wörtlich so wiedergefunden. (Thomas-Evangelium, Logion 24)

Im Kontext des Buches hat der Inhalt dieses Wortes nichts mit einer geheimen Gnosis zu tun, sondern erinnert schlicht und einfach an eine Art Mystik, in der die Erfahrung Gottes sowohl im Inneren als auch außerhalb geschieht.

Man kann sagen, dass sich Lars Muhl, der sich als Icherzähler selbst darstellt, auf einer Expedition befindet, um zunächst den Spuren der Katharer zu folgen und dabei geheimnisvolle Berge mit Höhlen im Süden Frankreichs findet. Vom Gral selbst ist nur ganz selten die Rede. Klar ist aber die Verbindung zu Jerusalem. Das eher archäologische oder erfahrungsorientierte Interesse wird aber mehr und mehr durch mystische Erfahrungen überlagert und ersetzt. 

Die Suche, auf der sich der Icherzähler befindet, ist nicht vergeblich, auch wenn sich herausstellt, dass der Gegenstand, den er sucht, womöglich unauffindbar ist.

Um auf das Wort aus dem Thomasevangelium zurückzukommen: Ist Jesus, ist Gott in der Kirche oder der Religion zu Hause oder ist beides nicht vielmehr zugleich das Licht im Inneren eines Menschen?

Auch wenn das Buch einen eher esoterischen Ansatz verfolgt, ist die erzählte Geschichte doch dem christlichen Glauben nahe. Hier ist auch eine Geschichte des Christentums fiktiv, so dass man sagen kann: Wir können manches nur noch erahnen, weil viele Zeugnisse verschollen sind oder lange unterdrückt waren. So ist die Existenz der judenchristlichen Gemeinde und ihr weiterer Weg unklar. Was ist mit dem Thomas Evangelium, der Botschaft Maria Magdalenas und anderer Schriften? Welche Rolle haben sie in der Urkirche gespielt, auch und vielleicht sogar weil sie nicht in den Kanon des neuen Testament aufgenommen worden sind.

Im Gegensatz zu denen, die für sich die „wahre“ christliche Urgeschichte gefunden haben, ist Lars Muhl ein Erzähler, der nicht davor zurückschreckt, sowohl Glaubenserfahrung als auch Zweifel zu teilen. Es erscheint gar nicht abwegig, die Spuren der Mystik bis in die Botschaft des Neuen Testaments und ihrer weiteren Überlieferung, ja bis ins Judentum zurückzuverfolgen. Sie ist eine verborgene Tradition, weil sie immer ein wenig mit der kirchlichen Lehre konkurrierte.

Man kann es mit einem Wort von Angelus Silesius zusammenfassen, das so wörtlich hier nicht vorkommt, aber sicher mitgemeint ist: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“ (Der cherubinische Wandersmann).

Entscheide dich! Rezension, Christoph Fleischer, Welver 2019

zum PhilosophieMagazin Nr. 2/2019 Februar/März, Philomagazin Verlag, Berlin 2019, 98 Seiten, Preis am Kiosk: 6,90 Euro

Ich möchte aus dem umfangreichen Textangebot des Magazins (Übersicht: www.philomag.de) nur die Artikel heraussuchen zum Titelthema: „Dumm gelaufen. Wie treffe ich eine gute Entscheidung?“ aus das auch der Umschlag hinweist (siehe Bild).

Die Einleitung des Dossiers gibt Nils Markwardt. Im Entscheidungsprozess sind Intuition und Ratio nicht voneinander zu trennen. Aber in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Auf der folgenden Doppelseite werden bekannte Philosophen in einer Pokerrunde gezeigt: Blaise Pascal, Seneca, Karl Popper, Sören Kierkegaard und Ralph W. Emerson.

Im ersten Artikel geht Dominik Erhard Entscheidungsprozessen nach, indem die Rolle von Entscheidungsberatern und ihre Vorgehensweise dargestellt werden. Vorgestellt werden eine Beraterin und zwei Berater. Die Online Partnervermittlung beispielsweise berücksichtigt durch die Vorgehensweise der Algorithmen eine Vielzahl von Faktoren, die das Gespräch zwar nicht ersetzen kann, aber wohl auf uneinholbare Art und Weise ergänzt. „Letztlich gehe es bei Partnervermittlungen ja schlicht um eine Erhöhung der Chance…“ Die Onlinehilfestellung hilft nur, den richtigen Partner zu treffen, ersetzt aber nicht die Intuition. Dominik Erhard bringt diese Frage ins Gespräch mit Walter Benjamin, der meint, dass „eine Beziehung, die auf einer Wahl beruht, nicht auf wahrer Liebe begründet sein“ könne.

Der zweite Abschnitt widmet sich einem Motivationstrainer, dessen Leben davon geprägt war, dass er die Schulden seiner Eltern übernommen hat: Fünf Millionen Euro. Ziel der ziemlich teuren Workshops ist, im Sinn von Aristoteles von der „Potentia“ in den „Actus“ zu kommen. Doch zuletzt kommt der Motivationstrainer auf die Unverfügbarkeit zu sprechen, von der letztlich alle Zukunft abhängt. Und meint, seine Frau sei Hellseherin.

Konsequenterweise ist im dritten Abschnitt von einer Hellseherin die Rede. Wichtig scheint mir zu sein, dass die Entscheidung bei aller Beratung ganz bei den Klienten und Klientinnen liegt. Der Widerspruch liegt darin, dass die befragte Hellseherin sagt, dass sie seit ihrer Kindheit die Zukunft vorhersagen könne. Dabei seien doch wohl eher intuitive Menschenkenntnis und Mustererkennung die Fähigkeiten, die ihr den Zugang zu den Kunden aufschließe. Ihre Aufgabe sei also eher, die Menschen, die sie befragen, zu ihrer eigenen inneren Stimme zurückzuführen. Der Artikel schließt damit, dass die gemeinsame Fähigkeit der befragten Berater wohl die Intuition ist. „Wer ist meine innere Stimme? Was sagt sie? Sagt sie überhaupt etwas?“ Es gibt eben auch Momente, in denen nichts zu entscheiden ist.

Der zweite Artikel zum Thema Entscheiden ist von Alice Lagaay, Professorin aus Hamburg verfasst. Sie hat schon vor Jahren ein Buch über Zaudern und Zweifeln veröffentlicht, fachlich genannt „negative Performanz“. Knapp gesagt: „In einer Welt, in der enormer Handlungsdruck herrscht, ist es an der Zeit, den philosophischen Muskel des Zögerns auszubilden und zu stärken, als jene Tugend, unser Tun zu unterbrechen, um unser Ohr auf das Offene und noch Unvorstellbare zu richten.“ Mich hat in diesem Artikel sehr inspiriert, dass sie auf Jacques Derridas Buch „Politik der Freundschaft“ zu sprechen kommt (leider ist es zur Zeit vergriffen und wird erst im Frühjahr wieder neu aufgelegt, der Rez.). Derrida bezeichnet jede Entscheidung als eine Art Glaubensakt: „Nach Derrida ist eine Entscheidung sogar nur dann verantwortlich, wenn sie ‚die Subjektivität meines Subjekts überrascht‘ und die Konsequenzen der Entscheidung nicht vorhersehbar sind.“ Ich finde, dass genau dies die Stärke der Philosophie ist, genau auf die Konsistenz der Begriffe zu achten. Was wäre in der Tat eine Entscheidung, wenn sie nur die Konsequenz einer Prädestination wäre? Hier ist also erstaunlicherweise wieder, wie schon oben, vom Unverfügbaren die Rede.

Der Dritte Aufsatz ist ein Interview, das von der Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler mit der Schriftstellerin Mariana Leky und dem Philosophen Philipp Hübl geführt wird. Es geht zuerst um das Entscheiden, sowohl in der Familie als auch in der Philosophie. Hübl unterscheidet die Prozesse der Entscheidung mit den englischen Begriffen Picking, Choosing und Opting. Die Schriftstellerin geht am Beispiel des Opting auf die Rolle des inneren Gesprächs ein, das sie der Psychoanalyse entlehnt: „Das Unbewusste gibt das Mittel hoch, und das Ich, dieses fadenscheinige Ich, kann im letzten Moment noch ‚Nein‘ schreien. … Unsere Entscheidungen kommen aus Schichten, die wir nie ganz überblicken können.“ Ohne jetzt alle Aspekte des Artikels wiederzugeben, komme ich auf das Ende, in dem beide Gesprächspartnerinnen dafür plädieren, auch einmal den Stress der Entscheidungssituationen durch einen schlichten Verzicht zu durchbrechen, getreu nach Epiktet: „Was man nicht ändern kann, soll man akzeptieren. Wir wären alle gelassener und gesünder, würden wir uns daran halten.“

Als ich dieses Zitat lese, bin ich froh, die Artikel über das Thema „Entscheidung“ gelesen zu haben.